Umgeweht

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Sigrine

Beitragvon Sigrine » 30.03.2014, 17:02

Umgeweht

Zu gerne hätte ich ihr den Wind aus den aufgeblähten Segeln genommen, aber wie so oft fühlte ich mich ihrem überbordenden Temperament gegenüber machtlos. Was auch immer ich zur Sprache brachte – Geschirr, das sie vergessen hatte wegzuräumen, die Unordnung in ihrem Zimmer, ihre schlechten Tischmanieren – alles löste einen tosenden Sturm der Entrüstung aus, mit dessen Hilfe sie sich aus dem engen heimischen Hafen auf das offene Meer der Freiheit wehen ließ, und ganz nebenbei wurde ich von einer orkanartigen Windböe umgepustet.
Also stand ich wieder einmal viel zu lange allein in der Küche, räumte das schmutzige Geschirr in die Spülmaschine, putzte ihren Dreck weg und war damit beschäftigt nicht nur das Mittagessen, sondern auch unser letztes Wortgefecht zu verdauen. Mit einem Mal fühlte ich mich kraftlos und müde. Ich verstand mich selbst nicht mehr. Im Gerichtssaal lief ich bei harten Auseinandersetzungen mit der Gegenseite zur Höchstform auf, doch gegen meine eigene Tochter kam ich nicht an. Dabei waren ihre Argumente meist so widersinnig, dass sie keinen vernünftigen Menschen überzeugt hätten. Offenbar setzte mit dem Muttersein die Vernunft aus. Plötzlich begann ich darüber nachzugrübeln, ob ich eine dieser Mütter war, wie sie Winterhoff beschrieb – abhängig vom Kind, vielleicht sogar in eine Symbiose verstrickt. War meine Tochter eine Tyrannin, nicht gereift, weil ihre Mutter zu schwach war?
Auf dem Weg ins Schlafzimmer, sah ich, dass ihre Tür offen stand. Sie lag auf dem Bett und las. Wie immer, wenn ich sie bei einer Tätigkeit beobachtete, der sie sich ganz hingab, durchströmte mich ein warmer Schauer. Wie sehr ich sie liebte.
„Lass mich in Ruhe“, blaffte sie mich an, kaum dass sie mich bemerkt hatte.
Getroffen ließ ich mich kurz darauf ins Bett fallen. Ich verkroch mich unter der Decke in dem Gefühl, aus meinem eigenen Leben abtauchen zu wollen. Die Gedanken wirbelten in meinem Hirn herum wie welke Blätter im Sturm.
Endlich gelang es meinem Körper, mich von meinem Bewusstsein zu befreien. Ich fiel in die obskure Welt innerer Bilder, genoss es, mit aufgebauschten Segeln über die glitzernde Fläche des sonnenbeschienenen Meeres zu gleiten und fuhr auf vor Schreck, als ganz plötzlich eine heftige Windböe mein Boot zum Kentern brachte.

ecb

Beitragvon ecb » 30.03.2014, 17:54

Ja, ja ... das Bewußtsein und noch eines, das darunter liegt - und sich vom wachen Bruder partout nicht ausmanövrieren läßt, sondern sozusagen durch die Hintertür ...

Das finde ich gut auf den Punkt gebracht, Sigrine - willkommen an Bord!

Liebe Grüße
Eva


Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 10 Gäste