Fortuna
Verfasst: 25.10.2013, 10:20
Er hieß Karl und kam aus einem nicht mehr existierenden Staat, sprach fließend, akzentfreies Deutsch.
Seine Probleme hatte er mir erzählt, aber ich habe sie vergessen. Vielleicht hat er sie nur angedeutet.
Zweimal besuchte er mich in meiner kleinen, Einzimmerwohnung. Ich fragte ihn, ob er vorwärts oder rückwärts einzuparken pflegte. Manche sehen das Schild nicht, oder ignorieren es, da kriegt man, wenn man, so wie ich, parterre wohnt, die ganzen Abgase ins Schlafzimmer, oder in die Küche. Er lächelte nur.
Er war Physiker, hatte irgendwas mit Nano zu tun.
"Mein Zimmer steht immer offen", sagte er.
Einmal besuchte ich ihn, er lud mich zum Essen in die Mensa ein. Drei verschiedene Desserts hatte er auf seinem Tablett, die er andächtig probierte. Eins konnte ich erkennen, aber ich mache mir nichts aus Birnen.
Nun, was ich erzählen wollte: Einmal gingen wir zusammen zu einem Konzert, einer Aufführung von Carmina Burana, von Carl Orff.
Es war voll, als wir den großen Saal des barocken Schlosses betraten. Damals habe ich zum ersten Mal einen egoistischen Zug im Karls Charakter entdeckt. In der Mitte einer Reihe war ein Sitz frei: Ohne sich umzudrehen stürzte er dorthin, nahm Platz und blickte nicht einmal in meine Richtung.
Trotzdem fand auch ich noch einen Platz in der letzten Reihe. Von dort aus konnte ich Ursula R. , die im Chor mitsang, erkennen. Sie ist eigentlich Fotografin und spricht sehr leise. Ich fragte mich, ob sie dort auf der Bühne auch so leise sang. Vielleicht bewegte sie nur ihre Lippen.
Nach dem Konzert gingen wir "zum goldenen Reiter". Dort gibt es gutes Kölsch, aber ich trinke nur Apfelwein. Das Bier wird in langen, dünnen Gläsern gereicht. Agrippina hätten sie gefallen.
Monate lang sahen wir uns nicht mehr. Ich wollte ihn besuchen, die Sekretärin, nach einigem Zögern, sagte mir durch die Blume, er sei in einer psychiatrischen Klinik.
Eines Tages erfuhr ich, er habe sich umgebracht.
Einige Tage später erhielt ich einen Brief, einen großen Umschlag, ohne Absender. Darin war eine CD von Carmina Burana.
Das ist Jahre her.
Neulich legte ich, zum ersten Mal, diese CD auf. Es war nur ein Lied drauf, an Fortuna, an das Schicksal gerichtet.
Ich habe den Text dazu gelesen, welcher nur durch die Kraft der Musik zur Geltung kommt:
O Fortuna, velut luna
statu variabilis,
semper crescis aut decrescis;
vita detestabilis...
Jetzt verstand ich, woher Karl die Kraft genommen hatte, auf einen rasenden Zug zu warten ...
Seine Probleme hatte er mir erzählt, aber ich habe sie vergessen. Vielleicht hat er sie nur angedeutet.
Zweimal besuchte er mich in meiner kleinen, Einzimmerwohnung. Ich fragte ihn, ob er vorwärts oder rückwärts einzuparken pflegte. Manche sehen das Schild nicht, oder ignorieren es, da kriegt man, wenn man, so wie ich, parterre wohnt, die ganzen Abgase ins Schlafzimmer, oder in die Küche. Er lächelte nur.
Er war Physiker, hatte irgendwas mit Nano zu tun.
"Mein Zimmer steht immer offen", sagte er.
Einmal besuchte ich ihn, er lud mich zum Essen in die Mensa ein. Drei verschiedene Desserts hatte er auf seinem Tablett, die er andächtig probierte. Eins konnte ich erkennen, aber ich mache mir nichts aus Birnen.
Nun, was ich erzählen wollte: Einmal gingen wir zusammen zu einem Konzert, einer Aufführung von Carmina Burana, von Carl Orff.
Es war voll, als wir den großen Saal des barocken Schlosses betraten. Damals habe ich zum ersten Mal einen egoistischen Zug im Karls Charakter entdeckt. In der Mitte einer Reihe war ein Sitz frei: Ohne sich umzudrehen stürzte er dorthin, nahm Platz und blickte nicht einmal in meine Richtung.
Trotzdem fand auch ich noch einen Platz in der letzten Reihe. Von dort aus konnte ich Ursula R. , die im Chor mitsang, erkennen. Sie ist eigentlich Fotografin und spricht sehr leise. Ich fragte mich, ob sie dort auf der Bühne auch so leise sang. Vielleicht bewegte sie nur ihre Lippen.
Nach dem Konzert gingen wir "zum goldenen Reiter". Dort gibt es gutes Kölsch, aber ich trinke nur Apfelwein. Das Bier wird in langen, dünnen Gläsern gereicht. Agrippina hätten sie gefallen.
Monate lang sahen wir uns nicht mehr. Ich wollte ihn besuchen, die Sekretärin, nach einigem Zögern, sagte mir durch die Blume, er sei in einer psychiatrischen Klinik.
Eines Tages erfuhr ich, er habe sich umgebracht.
Einige Tage später erhielt ich einen Brief, einen großen Umschlag, ohne Absender. Darin war eine CD von Carmina Burana.
Das ist Jahre her.
Neulich legte ich, zum ersten Mal, diese CD auf. Es war nur ein Lied drauf, an Fortuna, an das Schicksal gerichtet.
Ich habe den Text dazu gelesen, welcher nur durch die Kraft der Musik zur Geltung kommt:
O Fortuna, velut luna
statu variabilis,
semper crescis aut decrescis;
vita detestabilis...
Jetzt verstand ich, woher Karl die Kraft genommen hatte, auf einen rasenden Zug zu warten ...