Claudio
Verfasst: 29.08.2013, 11:00
Claudio verschwand in Argentinien. Ich sehe ihn noch vor mir.
Täglich polierte er seine Schuhe: Mit Milch, wenn keine Schuhkreme vorhanden war.
Blond war er.
Er sagte, man solle den Reis anbraten, bevor man ihn mit heißem Wasser übergießt. Er verbrannte ihn fast, als er es uns demonstrieren wollte.
Claudios Mutter, eine gebürtige Österreicherin, lebte in Argentinien.
Vielleicht liest sie immer noch in den Zeitungen Berichte über öffentlich protestierende Mütter, deren Kinder, so wie Claudio, verschwunden sind. Sie selbst ist wahrscheinlich nie zu solchen Demonstrationen gegangen.
Als Claudios Freunde und Bekannte von seinem Verschwinden erfuhren, organisierten sie einen Hungerstreik in Bonn. Um die Leute zu überzeugen, dass er existierte, oder existiert hatte, kam man auf die Idee, seine Mutter nach Deutschland kommen zu lassen.
Sie unterrichtete in der deutschen Schule in Buenos Aires. Dort war auch Claudio (er hieß eigentlich Klaus) geboren. Nach dem Abitur wurde er nach München geschickt, um dort Maschinenbau zu studieren.
Für den Sommerurlaub war er nach Hause geflogen. Dort wurde er von der Geheimpolizei der Militärdiktatur entführt. Wie viele junge Menschen, hatte Claudio die Welt verändern wollen.
Claudios Mutter ließ sich überreden und kam nach Deutschland. Sie wurde am Flughafen von einem einäugigen Bischoff empfangen.
Da war sie also, diese ältere, vornehm aussehende Dame, die sich nie für Politik interessiert hatte, mitten unter Linksradikalen. Sie weigerte sich allerdings, sich auf den Boden des Münsterplatzes zu setzen, sie nahm Platz auf der Bank, über der ein Transparent hing:
WO IST KLAUS ZIESCHANK?
Sie übernachtete auch nicht auf dem Platz, sondern im Haus des Bischofs.
Die Bank, auf der sie tagsüber saß, wurde in der Nacht von einem Penner besetzt. Mitten in der Nacht konnte man hören, wie er pinkelte, ohne von der Bank aufzustehen ...
Tagsüber war der Penner ein eifriger Unterstützer der Forderung der Hungerstreikenden. Immer wieder setzte er seinen Namen auf die Liste, die man auf einem Tisch aufgestellt hatte.
Anstatt einer Unterschrift hatte jemand HIJOS DE PUTA auf die Liste geschrieben.
Es gab Leute, die demonstrativ langsam, an einer Wurst kauend, vorbeigingen.
Damit das Transparent nicht verdreht wurde, hatte Orlando, ein Kolumbianer, seine Schuhe daran gehangen. Die Schuhe hatte ihm seine Freundin aus Mailand mitgebracht.
Wir lagen zu Füßen des Beethovens Denkmals, neben einem italienischen Café. Der Besitzer hasste uns. Das sah man an der Art, wie er abends seine Stühle ankettete. Auch die Leute von der Müllabfuhr, die den Platz früh am Morgen kehrten, sahen uns verächtlich an.
Eine Bolivianerin hatte ein Loch in ihren Schlafsack gemacht, um einen Fuß rausstrecken zu können.
Neulich, fast 40 Jahre später, musste ich in Bonn umsteigen. Ich beschloss, einen späteren Zug zu nehmen und dem Schauplatz jener Tragikomödie einen Besuch zu erstatten.
Ich wollte mich nach dem Weg zum Münsterplatz erkundigen, aber ich war dort bevor ich einen Passanten fragen konnte. Die alte Kirche, die Basilika, habe ich gleich erkannt. Die Bank, wo der Penner schlief, die zwei Bäume, an denen das Transparent festgebunden war. Der Boden des Platzes hatte man durch kleine, flache Steine ersetzt.
Ich ging um das Beethoven Denkmal herum, auf der Suche nach etwas, das nicht mehr existierte.
Das italienische Café war noch da.
Damals war es Sommer gewesen, jetzt fiel ein kalter Dauerregen. Die Hand mit dem Regenschirm fing an zu frieren.
Ich hatte noch Zeit, wollte etwas sinnvolles tun, ging zum alten Friedhof, wo Beethovens Mutter begraben liegt.
Die Tür war offen, außer zwei Gärtnern war niemand drin. Ich las im Vorbeigehen einige Namen. Bei manchen stand vor dem Namen ein Titel: Doktor, Professor, Studienrat ...
Der Friedhof ist nicht groß. In seiner Mitte, unübersehbar, das Grabmal von Schumann. Eine in weißem Marmor dargestellte Flamme. Ein stilles, ewiges, nur für sich selbst brennendes Feuer.
Täglich polierte er seine Schuhe: Mit Milch, wenn keine Schuhkreme vorhanden war.
Blond war er.
Er sagte, man solle den Reis anbraten, bevor man ihn mit heißem Wasser übergießt. Er verbrannte ihn fast, als er es uns demonstrieren wollte.
Claudios Mutter, eine gebürtige Österreicherin, lebte in Argentinien.
Vielleicht liest sie immer noch in den Zeitungen Berichte über öffentlich protestierende Mütter, deren Kinder, so wie Claudio, verschwunden sind. Sie selbst ist wahrscheinlich nie zu solchen Demonstrationen gegangen.
Als Claudios Freunde und Bekannte von seinem Verschwinden erfuhren, organisierten sie einen Hungerstreik in Bonn. Um die Leute zu überzeugen, dass er existierte, oder existiert hatte, kam man auf die Idee, seine Mutter nach Deutschland kommen zu lassen.
Sie unterrichtete in der deutschen Schule in Buenos Aires. Dort war auch Claudio (er hieß eigentlich Klaus) geboren. Nach dem Abitur wurde er nach München geschickt, um dort Maschinenbau zu studieren.
Für den Sommerurlaub war er nach Hause geflogen. Dort wurde er von der Geheimpolizei der Militärdiktatur entführt. Wie viele junge Menschen, hatte Claudio die Welt verändern wollen.
Claudios Mutter ließ sich überreden und kam nach Deutschland. Sie wurde am Flughafen von einem einäugigen Bischoff empfangen.
Da war sie also, diese ältere, vornehm aussehende Dame, die sich nie für Politik interessiert hatte, mitten unter Linksradikalen. Sie weigerte sich allerdings, sich auf den Boden des Münsterplatzes zu setzen, sie nahm Platz auf der Bank, über der ein Transparent hing:
WO IST KLAUS ZIESCHANK?
Sie übernachtete auch nicht auf dem Platz, sondern im Haus des Bischofs.
Die Bank, auf der sie tagsüber saß, wurde in der Nacht von einem Penner besetzt. Mitten in der Nacht konnte man hören, wie er pinkelte, ohne von der Bank aufzustehen ...
Tagsüber war der Penner ein eifriger Unterstützer der Forderung der Hungerstreikenden. Immer wieder setzte er seinen Namen auf die Liste, die man auf einem Tisch aufgestellt hatte.
Anstatt einer Unterschrift hatte jemand HIJOS DE PUTA auf die Liste geschrieben.
Es gab Leute, die demonstrativ langsam, an einer Wurst kauend, vorbeigingen.
Damit das Transparent nicht verdreht wurde, hatte Orlando, ein Kolumbianer, seine Schuhe daran gehangen. Die Schuhe hatte ihm seine Freundin aus Mailand mitgebracht.
Wir lagen zu Füßen des Beethovens Denkmals, neben einem italienischen Café. Der Besitzer hasste uns. Das sah man an der Art, wie er abends seine Stühle ankettete. Auch die Leute von der Müllabfuhr, die den Platz früh am Morgen kehrten, sahen uns verächtlich an.
Eine Bolivianerin hatte ein Loch in ihren Schlafsack gemacht, um einen Fuß rausstrecken zu können.
Neulich, fast 40 Jahre später, musste ich in Bonn umsteigen. Ich beschloss, einen späteren Zug zu nehmen und dem Schauplatz jener Tragikomödie einen Besuch zu erstatten.
Ich wollte mich nach dem Weg zum Münsterplatz erkundigen, aber ich war dort bevor ich einen Passanten fragen konnte. Die alte Kirche, die Basilika, habe ich gleich erkannt. Die Bank, wo der Penner schlief, die zwei Bäume, an denen das Transparent festgebunden war. Der Boden des Platzes hatte man durch kleine, flache Steine ersetzt.
Ich ging um das Beethoven Denkmal herum, auf der Suche nach etwas, das nicht mehr existierte.
Das italienische Café war noch da.
Damals war es Sommer gewesen, jetzt fiel ein kalter Dauerregen. Die Hand mit dem Regenschirm fing an zu frieren.
Ich hatte noch Zeit, wollte etwas sinnvolles tun, ging zum alten Friedhof, wo Beethovens Mutter begraben liegt.
Die Tür war offen, außer zwei Gärtnern war niemand drin. Ich las im Vorbeigehen einige Namen. Bei manchen stand vor dem Namen ein Titel: Doktor, Professor, Studienrat ...
Der Friedhof ist nicht groß. In seiner Mitte, unübersehbar, das Grabmal von Schumann. Eine in weißem Marmor dargestellte Flamme. Ein stilles, ewiges, nur für sich selbst brennendes Feuer.