Victor
Verfasst: 03.05.2013, 08:28
Auf dem Weg ins Museum traf ich vorhin Leni, sie ist noch mit einem ehemaligen hohen Tier der Gewerkschaft verheiratet, er heißt Victor.
Sie lief ohne Krücken, aber etwas vorsichtiger als früher, war auf dem Weg zur Wassergymnastik. Victor verließ sie vor drei oder vier Jahren, nach vierzig Jahren gemeinsamer Ehe, für eine etwas jüngere Frau. Victor selbst ist jetzt in Rente. Ich hörte ihn ein einziges Mal reden, in einer Streitfrage, und war so beeindruckt und gerührt, dass ich sofort in die Gewerkschaft eingetreten wäre, wenn ich nicht schon Mitglied gewesen wäre. Aber wie so oft bei solchen Führern, scheint es bei ihm auch privat nicht geklappt zu haben. Es hängt vielleicht mit dem Druck der Arbeit in der Öffentlichkeit zusammen. »Zu Hause hat er nie mit mir geredet«, klagte Leni. »Ich wusste nie, was er gerade dachte.«
Ein paar Mal hatte ich Victor zufällig in einem Café getroffen, wo er alleine die Zeitung las. Ich grüßte ihn höflich und er erwiderte den Gruß, aber ich sah, dass er mich nicht einordnen konnte. Was Leni ihm am meisten vorwirft, ist, dass er sie verließ und im Stich ließ, gerade als sie schwer erkrankte und fast gestorben wäre. Anfangs irritierte sie auch der Gedanke, ihn mit dieser Frau in Frankreich zu wissen, in dem Haus, das sie über zwanzig Jahre lang mit unsäglichen Opfern für ihr Rentendasein bezahlt und renoviert hatten. Ich habe das Gefühl, dass ihr das alles mittlerweile egal ist. Sie lebt ihr Leben, hat ihre Ruhe, erfüllt sich ihren Jugendtraum, Tai Chi zu lernen.
Vor einiger Zeit sah ich Victor mit einer Krücke laufen ... Und neulich mit zwei, genau wie Leni nach ihren Operationen. Das besprach ich mit ihr. »Es gibt doch eine Gerechtigkeit«, sagte sie und fügte hinzu: »Neulich war er bei mir, mit diesen Krücken. Als er die Treppe hinuntergehen wollte, stützte er sich auf beide Krücken, was lebensgefährlich sein kann. Ich zeigte ihm, wie man sie richtig benutzt, man stützt sich mit der linken Hand auf das Geländer und nimmt beide Krücken in die rechte Hand.« So hat er es gemacht, und als er ganz unten war, drehte er sich um und sagte zu ihr: »Danke.«
Ich sagte zu Leni: »Ich sehe es schon kommen, dass er zu dir hoch gekrochen kommt.« »Was?«, erwiderte sie, »ich will doch keinen kranken Mann!«
Sie lief ohne Krücken, aber etwas vorsichtiger als früher, war auf dem Weg zur Wassergymnastik. Victor verließ sie vor drei oder vier Jahren, nach vierzig Jahren gemeinsamer Ehe, für eine etwas jüngere Frau. Victor selbst ist jetzt in Rente. Ich hörte ihn ein einziges Mal reden, in einer Streitfrage, und war so beeindruckt und gerührt, dass ich sofort in die Gewerkschaft eingetreten wäre, wenn ich nicht schon Mitglied gewesen wäre. Aber wie so oft bei solchen Führern, scheint es bei ihm auch privat nicht geklappt zu haben. Es hängt vielleicht mit dem Druck der Arbeit in der Öffentlichkeit zusammen. »Zu Hause hat er nie mit mir geredet«, klagte Leni. »Ich wusste nie, was er gerade dachte.«
Ein paar Mal hatte ich Victor zufällig in einem Café getroffen, wo er alleine die Zeitung las. Ich grüßte ihn höflich und er erwiderte den Gruß, aber ich sah, dass er mich nicht einordnen konnte. Was Leni ihm am meisten vorwirft, ist, dass er sie verließ und im Stich ließ, gerade als sie schwer erkrankte und fast gestorben wäre. Anfangs irritierte sie auch der Gedanke, ihn mit dieser Frau in Frankreich zu wissen, in dem Haus, das sie über zwanzig Jahre lang mit unsäglichen Opfern für ihr Rentendasein bezahlt und renoviert hatten. Ich habe das Gefühl, dass ihr das alles mittlerweile egal ist. Sie lebt ihr Leben, hat ihre Ruhe, erfüllt sich ihren Jugendtraum, Tai Chi zu lernen.
Vor einiger Zeit sah ich Victor mit einer Krücke laufen ... Und neulich mit zwei, genau wie Leni nach ihren Operationen. Das besprach ich mit ihr. »Es gibt doch eine Gerechtigkeit«, sagte sie und fügte hinzu: »Neulich war er bei mir, mit diesen Krücken. Als er die Treppe hinuntergehen wollte, stützte er sich auf beide Krücken, was lebensgefährlich sein kann. Ich zeigte ihm, wie man sie richtig benutzt, man stützt sich mit der linken Hand auf das Geländer und nimmt beide Krücken in die rechte Hand.« So hat er es gemacht, und als er ganz unten war, drehte er sich um und sagte zu ihr: »Danke.«
Ich sagte zu Leni: »Ich sehe es schon kommen, dass er zu dir hoch gekrochen kommt.« »Was?«, erwiderte sie, »ich will doch keinen kranken Mann!«