Lösungsvorschlag

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 25.02.2013, 01:27

Theologen, gerade habe ich etwas erkannt:

Homosexualität ist nicht verlernbar, Homophobie aber.


Kirchenchorleiter, heute bin ich zu Ihnen gekommen, um folgende Melodie vorzuschlagen:

Homoliebe: nicht verlernbar. Homoangst doch schon.



(Aus: "Pjotr ringt um Aphorismen", 2013.)

Sam

Beitragvon Sam » 26.02.2013, 18:49

Hallo Pjotr,

den zweiten Teil verstehe ich nicht. Aber als Aphorismus gefällt mit der erste Satz recht gut. Wobei ich mir vorstellen kann, dass eine etwas weniger umgangsprachliche Formulierung dem Satz noch eine größere Wirkung verleihen könnte.

Für mich formuliere ich den Satz folgendermaßen um:

Homosexualität ist nicht verlernbar, Homophobie dagegen nur erlernbar.


Schön, dich hier wieder zu lesen!

Gruß

Sam

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 26.02.2013, 19:26

Ich finde den zweiten Teil/ das zweite Statement fast besser! (Oder vielleicht: eine Kombination aus beiden) Nur kapier ich nicht, warum das an den Kirchenchorleiter geht. Der sagt doch erstmal gar nichts dazu, jedenfalls nicht qua Amt.

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 26.02.2013, 20:44

(Ich werd noch antworten. Bin schon im Bett.)

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nera
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Beitragvon nera » 27.02.2013, 00:15

ich versteh auch nicht, warum es an theologen geht (gerade an die?)
lg

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 27.02.2013, 06:42

Sam. Amanita. Nera. Hallo, hallo, hallo, guten Morgen.

Danke!

Ich sehe das so: Das Textlein ist ein Cocktail* aus verschiedenen Substanzen.


Geschichtensubstanz.

Die Schichten, die Schichterei, das Geschichte, a building several stories high, story, history. Schicht um Schicht. Diese kleine Geschichte hier handelt von jemandem, der von Instanz zu Instanz reist, wieder- und wiederkehrt, und in den hier geschichteten Teilen der Reise auf eine Erkenntnis stößt, die er gerne als Aphorismus verpacken will, aber nicht weiß, wie. ("Auf eine Erkenntnis stoßen", kann man das sagen?)


Aphorismussubstanz.

Enthalten ist ein Aphorismus, und dessen Entwicklung. Deren Darbietung soll die Lesenden zum literarischen Mitwickeln anlüstern. (Oder Lust anwickeln? Hm.)


Ästhetiksubstanz.

Das Wort Homosexualität klingt äußerst sperrig. Es dient gut in der neutralen Wissenschaft, ist aber deutungslos in der Ästhetik. Wohlan, Ästhetik heißt nicht das Schöne, sie ist die Lehre vom Schönen. Also das Studieren und Diskutieren über das Was und Warum. Jedenfalls versucht sich besagter Aphorismant zunächst an einer wissenschaftlichen Version, dann, weils schöner ist, an einer musikalischen. Am Ende dieses ästhetischen Prozesses entscheidet er sich für diese rhythmische Form:
Ho-mo-lie-be nicht ver-lern-bar, Ho-mo-angst doch schon.


Komiksubstanz.

Als ich letzteres las, musste ich lachen. Vor mir war ein frommer Chor beim Proben, die Beteiligten hochkonzentriert auf die Übung der Rhythmik, noch nicht ganz bewusst des Inhalts.


Metaphernsubstanz.

Warum steht da "Kirschenchorleiter"? Sischerlich ist das verallgemeinert. Aber in puncto "Abschaffung der Homosexualität" sind genau in dieser Allgemeinheit -- ich meine in den monotheistischen Religionen -- viele zuständige Adressen zu finden. Die müssen für das kurze Textlein stellvertretend herhalten. Putinchöre, beispielsweise, singen natürlich auch. -- Am Textanfang, warum "Theologen"? Sie sind die Schnittstelle zur wissenschaftlichen Betrachtung (und vielleicht gar nicht mal so metapherös).


Ethiksubstanz.

Wie wir ja wissen, die Ethik, sie ist nicht die Moral, sie ist die Lehre und Diskussion darüber, was Moral -- oder Gerechtigkeit -- sein könnte. Das Textlein soll ein bisschen politisch sein. Sam, ich meine ebenfalls, Homophobie ist erlernbar, denke aber, dass sie teilweise auch angeboren sein kann, so wie Spinnenphobie etwa. Wenn ich die Aussage also rückwärts aufrolle, mit "verlernbar" synonym für "loslösen" nachdem es da ist, ziele ich auf das Dasein der Phobie-Erlernung als auch auf das der Phobie-Vererbung. Beides, das Erlernte und Vererbte, kann meiner Meinung nach abgelöst werden: Menschen haben sich von ihren Phobien gelöst. Noch nie aber haben sich Menschen von ihrer speziellen Sexualität gelöst, geschweige denn wollen, denn es ist ja nicht notwendig ein Leid.

Wenn der katholische Bischof argumentiert, Homosexualität richte sich gegen die gottgewollte Fortpflanzung, dann köpft der Bischof sich selbst: Er tut auch nichts für die Fortpflanzung. Oder doch? Ja, indirekt schon, er leistet Beiträge zum Erhalt einer fruchtbaren Gesellschaft. Aber Homosexuelle tun das auch. Also kann der Bischof einen Kopfstand machen, sein Argument zieht nicht. Er hat einfach nur Angst.

Ist dieser harte Konflikt lösbar? Eins ist klar: Kompromisse sind nicht möglich. Man kann nicht "ein bisschen" schwul sein, und Bisexualität sei auch schon zuviel des Bösen.

Klar ist auch: Homosexualität verschwindet nicht, darauf brauchen Homophobiker nicht zu hoffen. Also bleibt nur die Hoffnung auf das Verschwinden der Homophobie. Die Phobie loszuwerden ist die einzige Lösung.



Substanzensubstanz.

Bekanntlich ergibt die Summe aller Substanzen noch nicht das Ganze. Es kommt darauf an, in welchem Verhältnis und Vektor sie zueinander stehen.

Wenn Substanzen sich scheiden, ensteht ein Potential zu etwas sehr schönem, so schön, dass es Menschen stets zu Tränen rührt: Die Wiederberührung, die Ent-Scheidung.

Wo-immer sich zwei Substanzen sanft berühren, es berührt. Warum empfinden Lebende das als schön? Vielleicht weil Lebende sich nur durch Zellteilung und -verschmelzung erhalten können.



Grüßend

P.




* Englisch für Schwanzschwanz.

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Beitragvon aram » 06.03.2013, 00:51

pjotr, ich freue mich, diesen text heute vorzufinden wie ich ihn vor 8tagen sah, denn er gefällt mir so.

die nachgestellten 'aber' und 'doch schon' entsprechen nicht dem üblichen sprachgebrauch, sind aber wohl sehr bewusst gesetzt; jedenfalls entfalten sie gedankendienliche wirkung (wenn leser das zulässt)

'theologe' und 'kirchenchorleiter' sagen mir zu, wie auch 'melodie', und 'heute bin ich zu ihnen gekommen, um'

punktation und andere textmomente scheinen sämtlich schön mittig auf der goldwaage zu liegen, die für meinen begriff gut geeicht ist.

und wie man so sagt inhaltlich - in der lektüre geschah es mir erstmals seit langem, dass ein dargelegter gedanke helle aufmerksamkeit erzeugt hat.

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 06.03.2013, 02:08

Aram, spät in der Nacht, vielen Dank für Deinen Kommentar!

Ja, jene Details sind schon bewusst so gesetzt. Freut mich, wenn das wahrgenommen wird.


Ahoi

P.


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