Der Sadhu

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
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allerleirauh
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Beitragvon allerleirauh » 20.11.2012, 21:38

Ein Sadhu sitzt am Ufer des heiligen Sees.
Er sei, so erzählt er, hierher gekommen, um zu meditieren und zu sterben.

Beim letzten Tageslicht steigt er, vollständig bekleidet, in das eiskalte Wasser.

In der Nacht sinken die Temperaturen weit unter den Gefrierpunkt.

Am Morgen ist sein Platz am Shivaschrein verwaist.
Zuletzt geändert von allerleirauh am 05.12.2012, 06:20, insgesamt 1-mal geändert.

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 22.11.2012, 09:40

Hallo a.

das fängt für mich sehr gut eine Begegnung ein, die "unaufgelöst" bleibt. Eine Beobachtung, ein Sehen, ohne dass man es wirklich verstehen, begreifen könnte, auch das Nichteingreifen, das Geschehenlassen.

Ich würde nur in der letzten Zeile überlegen statt "Morgens", "Am Morgen" zu schreiben.

Liebe Grüße
Flora
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

Mucki
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Beitragvon Mucki » 22.11.2012, 15:26

Hallo Annett,

"mystischer" fände ich es, wenn der Sadhu nicht in das eiskalte Wasser steigt, sondern in das wohl temperierte Wasser.
So würde man erlesen, dass er darum weiß, dass es in der Nacht weit unter den Gefrierpunkt sinken würde.
Ansonsten würde ich auch "Am Morgen" schreiben.

Saludos
Gabriella

jondoy
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Beitragvon jondoy » 27.11.2012, 23:46

Hallo Annett.

eines ist demnach sicher, es war kein luftbekleideter Sadhu. Und der See kein Eisheiliger.

Namaste,
Stefan

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 04.12.2012, 19:53

Liebe Annett,

ich bin nicht ganz sicher, ob der Text bis zu dem durchdringt, was er berühren will, weil er es (tatsächlich!) gesehen hat. Der Text verwendet durchgängig sehr kräftiges Vokabular. Ein Vokabular, das gerade für die gemacht scheint, die keine Erfahrungen mit Sadhu teilen, die aus einer anderen Welt kommen. Und doch spricht das Vokabular in wahren klar behauptenden Deutungen ("verwaist") und auch die einfache Satzstruktur gibt sich Mühe nahe an diese einfache, ruhige, bestimmte, elementare Erleben heranzukommen. Aber eigentlich könnte es doch auch ein zugegeben aufmerksamer Fernsehzuschauer sein, der da spricht, der eine Reportage auf Phönix verfolgt hat. Ich weiß nicht. Die Stimme kommt rechtschaffen und ehrlich bemüht bei mir an, aber sie klingt doch, als sei sie außen vor, ohne dies beabsichtigen zu wollen.

liebe Grüße
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

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allerleirauh
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Beitragvon allerleirauh » 04.12.2012, 21:12

hallo flora, gabriella, jondoy und lisa,

danke für eure rückmeldungen.

für mich ist es schwer, etwas zum text zu schreiben.

die begegnung mit dem sadhu hat so stattgefunden und war, wie flora schreibt, in der tat eine "unaufgelöste", eine, die im wortsinne nur (an-)gedeutet und nicht im ablauf erzählt werden kann. der sadhu könnte ein spinner gewesen sein, seit jahren am see sitzend und über sein bevorstehendes ende orakelnd. vielleicht war ein erfrischendes bad dringend nötig (gabi: auf 5000 m würde ich allerdings nicht von "wohltemperiertem" wasser sprechen) und er hat sich anschließend am feuer gewärmt.

oder: die auskunft war ernst gemeint und er ist in der darauffolgenden nacht erfroren. (ich weiß, dass die leute, die die lodge am gosaikunda-lake betreiben, buddhisten und nicht sonderlich erfreut über sterbewütige heilige sind, denn sie müssen die toten irgendwie entsorgen, was in anbetracht von holzmangel (verbrennen schier unmöglich) und felsigem untergrund (begraben auch) ein schwieriges unterfangen darstellt.)

die verstörende vielfalt von deutungen ergibt sich für mich auch aus der tatsache, dass ich nur sehr wenig über hinduismus weiß.

@lisa: ich habe keine ahnung, ob ich mit dem text wirklich an etwas "rühren" will, wie du es nennst. ich hatte das gefühl, das erlebnis mit wenigen klaren worten bewahren zu wollen, und zwar ohne zu interpretieren. ich wollte auch mein eigenes bestreben, dem ganzen eine (gute?) richtung zu geben, stoppen. es ist gut möglich, dass die sprache nicht mit dieser intention korrespondiert. vielleicht war der eindruck noch zu frisch. ich bin noch nicht fertig mit dem sadhu, soviel ist sicher. was ich aber mit ihm anstelle, weiß ich noch nicht.

lga

jondoy
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Beitragvon jondoy » 04.12.2012, 23:33

Zitat: "für mich ist es schwer, etwas zum text zu schreiben."

Warum schreibt Sie nichts dazu, die Frage ist mir schon tagelang durch den Kopf gegangen.

Liegen wir alle total daneben? Ist das, was sie da schreibt, tatsächlich so gewesen oder war alles nur methaphorisch, also in einem übertragenen Sinne gemeint, vieldeutig, vielbeliebigdeutig?

Ich war wegen dem verwendeten Begriff `Sadhu` total auf Indien fixiert, wenn das echt stattgefunden haben sollte, hab ich mich gefragt, wo kann dort ein See liegen, der so kalt ist, wie im Text beschrieben, Geographie interessiert mich sehr, ich habs mir fast nicht vorstellen können, wann, dann höchstens ganz oben in Pradesh in der Nähe der chinesischen Grenze in den Grenzregionen, im Einzugsgebiet des Himalaya, hab ich mir gedacht. So weit oben in Indien war ich nie gewesen.

Hab jetzt natürlich nachgelesen, was das für ein See ist, weil ich das wissen wollte, der Gosainkunda Lake, auf einer Höhe von 4.380 m in Nepal gelegen, hab noch nie von ihm gehört.

Mir tut es gut, dass es diesmal kein Rätseltext gewesen ist. Ich hab schon nicht mehr dran geglaubt.

Die Luftbekleideten gibt es übrigens wirklich, bei den Jainas, das ist so eine eigene `kleinere` Religion, mit der ich in Indien etwas in Berührung kam, bei denen gibt es zwei Gruppen asketisch lebender Mönche, die Weißgekleideten und die (mit) Luft Bekleideten (mit ´Sadhu´ assoziiere ich eher einen westlichen Touristenbegriff, auch wenn das nicht zutreffen mag).
Der Text hat erzählt, dass der Sadhu vollständig bekleidet war, als er ins Wasser stieg, somit war ich mir sicher, es kann es kein luftbekleideter Mönch (der Jains) gewesen sein.

Was lässt einen See heilig werden? Wenn ihn Menschen als spirituelles Symbol auserkören? Das hab ich mich auch gefragt.

Danke für die Rückmeldung, den Austausch.

Namaste,
jondoy

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 05.12.2012, 20:41

Liebe allerleirauh,

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der sadhu könnte ein spinner gewesen sein, seit jahren am see sitzend und über sein bevorstehendes ende orakelnd


Genau das stellt für mich der Text nicht in Möglichkeit. Er spielt zwar mit dem Gedanken, aber für mich gibt der Text klar die Sichtweise vor, dass der Sidhu weiß, was er tut.

ich wollte auch mein eigenes bestreben, dem ganzen eine (gute?) richtung zu geben, stoppen.


Das ist für mich nicht gelungen. Der Kontext, den das Vokabular erschafft, ist für mich eindeutig so, dass es zwar nicht "schön" ist, was passiert, aber es ist in Ordnung, ruhig. Der Text lässt für mich nicht die Wahrnehmung aufkommen, dass es vielleicht ein verrückter gewesen ist.


ich habe keine ahnung, ob ich mit dem text wirklich an etwas "rühren" will, wie du es nennst.


Doch, ich glaub schon - was sollte sonst sein Sinn sein? ( :-) )

liebe Grüße
Lisa
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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 06.12.2012, 09:51

Hallo Lisa, a.

das finde ich interessant, da es mir hier ganz anders geht.
Zitat:
der sadhu könnte ein spinner gewesen sein, seit jahren am see sitzend und über sein bevorstehendes ende orakelnd


Genau das stellt für mich der Text nicht in Möglichkeit. Er spielt zwar mit dem Gedanken, aber für mich gibt der Text klar die Sichtweise vor, dass der Sidhu weiß, was er tut.
Woraus erliest du das, Lisa? Und meinst du damit, dass du das Gefühl hast, dass das die Antwort ist, die dem Erzähler am nächsten liegt, oder dass der Erzähler ein alleswissender Erzähler ist, der hier eine Tatsache "erschafft"? Denn es könnte ja tatsächlich und in einer möglichen Interpretation des Lesers ein Spinner sein, selbst wenn das ErzählIch zu 100% von einer anderen Ansicht überzeugt wäre. Für mich bleibt es tatsächlich völlig offen.
Zitat:
ich wollte auch mein eigenes bestreben, dem ganzen eine (gute?) richtung zu geben, stoppen.


Das ist für mich nicht gelungen. Der Kontext, den das Vokabular erschafft, ist für mich eindeutig so, dass es zwar nicht "schön" ist, was passiert, aber es ist in Ordnung, ruhig. Der Text lässt für mich nicht die Wahrnehmung aufkommen, dass es vielleicht ein verrückter gewesen ist.
Gerade dieses "in Ordnung" und "ruhig" wird für mich, durch die Sprache und den Zusatz:
In der Nacht sinken die Temperaturen weit unter den Gefrierpunkt.
nicht zugelassen. Da ist eine Beunruhigung, die sich durch die Nacht zieht. Das Gedankenmachen lässt sich nicht abstellen. Der Erzähler ruft sich das noch mal bewusst ins Gedächtnis, "spricht es aus", und trotzdem folgt keine Handlung, keine Einmischung.
Dem Leser wird nichts abgenommen, vorgekaut, aufgelöst, weder in einer Beruhigung, noch in einem Abschluss, dass der Sadhu tot aufgefunden wird.
Das "verwaist" ist für mich beispielsweise nicht bewusste Deutung, kein vom Erzähler eingesetztes Wort, um dem Leser etwas zu suggerieren, sondern der Versuch es/etwas festzuhalten, ohne sich in Vermutungen und Vorwürfen (er)gehen zu lassen, in dem sich aber das Unterschwellige, das Rumorende Ausdruck verschafft, einschleicht.
Aber eigentlich könnte es doch auch ein zugegeben aufmerksamer Fernsehzuschauer sein, der da spricht, der eine Reportage auf Phönix verfolgt hat. Ich weiß nicht. Die Stimme kommt rechtschaffen und ehrlich bemüht bei mir an, aber sie klingt doch, als sei sie außen vor, ohne dies beabsichtigen zu wollen.
Dass der Erzähler außen vor ist, reiner Beobachter in dieser Situation, wird für mich auch sehr deutlich und mir scheint das auch nicht gegen den Text zu arbeiten, oder nicht beabsichtigt zu sein, sondern im Gegenteil für ihn zu sprechen. Für mich klingt es gerade durch die versuchte Nüchternheit, die gesuchte Distanz und Zurückhaltung "körperlich" erlebt, stimmig, bis hin zu den Sinneseindrücken des "eiskalten" Wassers, der Fremdheit die darin spürbar bleibt. Den Bericht über eine angesehene Dokumentation würde ich anders erwarten, vermutlich sogar wesentlich "übergriffiger", behauptender und distanzloser, urteilender, rechtschaffener, plapperiger.

Liebe Grüße
Flora
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Lisa
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Beitragvon Lisa » 10.12.2012, 20:03

Liebe Flora,

Woraus erliest du das, Lisa? Und meinst du damit, dass du das Gefühl hast, dass das die Antwort ist, die dem Erzähler am nächsten liegt, oder dass der Erzähler ein alleswissender Erzähler ist, der hier eine Tatsache "erschafft"? Denn es könnte ja tatsächlich und in einer möglichen Interpretation des Lesers ein Spinner sein, selbst wenn das ErzählIch zu 100% von einer anderen Ansicht überzeugt wäre. Für mich bleibt es tatsächlich völlig offen.


Denn es könnte ja tatsächlich und in einer möglichen Interpretation des Lesers ein Spinner sein, selbst wenn das ErzählIch zu 100% von einer anderen Ansicht überzeugt wäre.


Das hieße doch, dass immer jegliche Interpretation möglich ist und sie damit willkürlich sind. Ich glaube, ein Text gibt bewusst und unbewusst, beabsichtigt und unbeabsichtigt vor, wie er gelesen wird. Und für mich wird wie gesagt in diesem Text durch die Sprache ganz klar deutlich gemacht, dass es sich nicht um einen Spinner handelt. Schon der Titel legt das für mich fest - ein einziges, klar definiertes Wort, das für mich schon die Stärke und Klarheit und damit den Raum des Protagonisten vorgibt. Kann sich ein Sadhu irren? Ich finde nicht, wenn auch das folgende Vokabular durchgängig in seiner Sprache beschrieben ist. Der Sadhu bewegt sich im Sadhuraum, wie kann er da ein Spinner sein? Für mich ist das unmöglich in diesem Text.

Gerade dieses "in Ordnung" und "ruhig" wird für mich, durch die Sprache und den Zusatz:
In der Nacht sinken die Temperaturen weit unter den Gefrierpunkt.
nicht zugelassen. Da ist eine Beunruhigung, die sich durch die Nacht zieht. Das Gedankenmachen lässt sich nicht abstellen. Der Erzähler ruft sich das noch mal bewusst ins Gedächtnis, "spricht es aus", und trotzdem folgt keine Handlung, keine Einmischung.


Für mich klingt das sehr faktenorientiert, es wird für mich nur erzählt, dass es wirklich sehr sehr kalt ist. Dass das wirklich so ist. Um deutlich zu machen, was für ein Akt das ist, dabei ins Wasser zu gehen. So wie wenn man in irgendeiner großen Abendshow sieht, wie ein buddhistischer Mönch sich mit seiner Kehle gegen eine Speerspitze stemmt und damit einen Zugwagon in Bewegung setzt und eine Stimme im Hintergrund nennt die Gewichtszahlen des Wagons. Es betont die Unglaublichkeit der Tat, aber nicht das verrückte daran. Und das funktioniert für mich wie der Rest der Sprache auch: Auch das sind große, normalsterblichen nicht erfassbare Begriffe, sie sind transzendent, oder zumindest haben sie ein Echo in diese Richtung, aber sie sind für mich nicht beunruhigend.


liebe Grüße
Lisa
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Zefira
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Beitragvon Zefira » 10.12.2012, 22:05

Ihr Lieben,
ich stoße eben zufällig wieder auf diesen Ordner (den Text habe ich schon früher gelesen), nach dem Anschauen einer Reportage über die Mapuche, Ureinwohner Chiles.
Vorgestellt wurde u.a. eine Heilerin, die einen Patienten empfing. Sie ließ sich von ihm die Symptome schildern, begutachtete eine mitgebrachte Flasche Urin und befragte eine hölzerne Statue vor ihrem Haus. Darauf gründete sie ihre Diagnose.
Wenig später war eine Gruppe von Leuten zu sehen, die mit Gesang und Tanz einen ständig leicht brodelnden Vulkan zu beruhigen suchten.
Die Sprecherin der Dokumentation berichtete das alles in völlig neutralem Ton; dem gleichen Ton, mit dem sie kurz zuvor einen Häuptlingssohn und Universitätsabsolventen vorstellte, der sich dafür einsetzt, dass die Mapuche einen Teil ihres enteigneten Landes wiederbekommen.
Ich war beim Anschauen dieses Films zeitweise durchaus bereit zu akzeptieren, dass der Vulkan auf die Mapuche hört. Wenn ich mich jetzt frage warum, kann ich das nur mit dem Ton der Doku erklären.
Vielleicht meint Lisa etwas Ähnliches mit der Vorgabe des Textes.

Grüße von Zefira
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)

jondoy
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Beitragvon jondoy » 10.12.2012, 22:10

Hallo Annett,

tut mir leid, dass ich mich mit dem Text auf eine andere Weise beschäftige, nicht literarisch, obgleich wir doch hier in einem Literaturforum sind.

Ich denk über das "Unaufgelöste" nach.

Das Lyrische Ich war natürlich real an diesem Ort.
Bin kein Bergsteiger, hab bloß oberflächlich nachgelesen, Weiße gelangen dorthin gewöhnlich auf einer Trekkingtour, die zu den Heiligen Seen hinaufführt, zuerst zum Saraswati Kund, dann zum Bhairav Kund und schließlich zum Höchstgelegenen, dem Gosainkund.
Ich hab versucht, mir die Stimmung dort oben weit weg vom Lärm der Welt bildlich vorzustellen. Nicht panoramabildlich.
Hab über ihn gelesen:
"Überall sind Gebetsfähnchen und wir sind beeindruckt von diesem Ort weit oben in den Bergen."
und auch das:
"Jagat (ein Nepalese) nutzt die Gelegenheit für eine rituelle Waschung in dem ziemlich kalten Wasser."

Offenbar baden Einheimische öfters in diesem See, nehmen dort rituelle Waschungen vor.

Und für mich selbst hab ich nochmals klären wollen, was ein Sadhu überhaupt ist.
Ein heiliger Mann, das ist mir als Erklärung viel zu seicht.
Ein Sadhu ist ein Mensch, das vorweg, ein gläubiger Hindu, (Hinduismus ist lediglich Sammelbegriff für eine Vielzahl nicht monotheistischer Religionen), der sein weltliches Leben aufgegeben hat, um fortan als Asket zu leben (also das genaue Gegenteil des Lebenswandels eines gewissen Bhagwan Shree Rajneesh, der sich in Rolls-Royse hat rumfahren lassen und dem Luxus gefrönt hat).
Durch ständige Askese und Buße versuchen diese Menschen Erlösung aus dem immerwährenden Kreislauf der Wiedergeburt der Seele zu finden, in dem sie sich wähnen, denn diese Wanderung der Seele von einem Körper in einen anderen Körper wird von ihnen als Zwang empfunden (sie selbst finden Wiedergeburt also gar nicht so toll wie viele von uns "Wessis").

Ein solcher Sadhu war an jenem Tag an diesem besonderen Ort am Ufer dieses Sees gesessen und hat dort meditiert, als eine Fremde dort vorbei kam. Der Text erzählt, dass er anderen erzählt hat, dass er hierher gekommen sei, um zu sterben.

Ich hab keine genaue Vorstellung davon, was für einen Menschen, der an Wiedergeburt glaubt, "Sterben" bedeutet.
Dass er bloß sofort wiedergeboren wird oder dass er tatsächlich am Ende seines langen Weges der Wiedergeburten angekommen ist und nun "stirbt" (nach westlicher Vorstellung) , also endlich Erlösung aus dem Kreislauf der erdischen Wiedergeburten findet.

Ich selbst bin Sadhus vor allem dann sehr misstrauisch begegnet, sobald die sich an Plätzen aufgehalten haben, an denen regelmäßig größere Gruppen von westlichen Touristen vorbeikommen. Ich bin welchen begegnet auf dem Staub der Straßen, die alleine unterwegs waren, im Nirgendwo, die haben mich mehr beeindruckt.

Ich weiss nicht, ist der Gosainkund noch ein bodenständiger Ort oder klingen da auch schon die Devisen?

" ich bin noch nicht fertig mit dem sadhu, soviel ist sicher. was ich aber mit ihm anstelle, weiß ich noch nicht."

Ich kann das gut nachvollziehen.

Namaste,
Stefan

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Ylvi
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Registriert: 04.03.2006

Beitragvon Ylvi » 11.12.2012, 09:15

Hallo Lisa,

Das hieße doch, dass immer jegliche Interpretation möglich ist und sie damit willkürlich sind. Ich glaube, ein Text gibt bewusst und unbewusst, beabsichtigt und unbeabsichtigt vor, wie er gelesen wird.
Für mich heißt das lediglich, dass ich dem Erzähler nicht zwingend glaube, vertraue, oder nur (noch) mit seinen Augen sehe. Also selbst wenn ich hier den Eindruck hätte, dass ich vom Erzähler in eine bestimmte Richtung gelenkt werden soll, hieße das nicht, dass ich sie automatisch, ohne sie zu hinterfragen, mitgehen würde. Sobald jemand erzählt, erhält die Geschichte, die ich lese, eine zusätzliche Ebene, die des Erzählers. Und die wirkt für mich mit, mal stärker, mal schwächer, manchmal kann man sie sicher auch "vergessen", weil das Erzählte selbst einen so in den Bann zieht und die Erzählstimme, -motivation etc. sehr stimmig erscheint. Aber letztlich ist sie für mich immer ein Teil des Lesens, Sehens und "Verstehens".
Und für mich wird wie gesagt in diesem Text durch die Sprache ganz klar deutlich gemacht, dass es sich nicht um einen Spinner handelt. Schon der Titel legt das für mich fest - ein einziges, klar definiertes Wort, das für mich schon die Stärke und Klarheit und damit den Raum des Protagonisten vorgibt.
Hm ... wenn da also stünde "Der Spinner" würdest du diese Einschätzung auch teilen, dann wäre es ein Spinner gewesen? Meinst du mit Protagonist den "Sadhu" oder den Erzähler?
Kann sich ein Sadhu irren? Ich finde nicht, wenn auch das folgende Vokabular durchgängig in seiner Sprache beschrieben ist. Der Sadhu bewegt sich im Sadhuraum, wie kann er da ein Spinner sein? Für mich ist das unmöglich in diesem Text.
Vielleicht ist das auch ein Knackpunkt. Ich würde den Text anders lesen, wenn er offensichtlich im Phantasiebereich angesiedelt wäre. Der Troll. Dann würde der Text auch für mich eine eigene Welt, einen eigenen Raum erschaffen, in der ich dem Erzähler glauben müsste und könnte, da es seine Phantasiewelt, seine Phantasiegestalten sind. Hier wird aber eine Erfahrung, Begegnung in den Rahmen der "realen" Welt gestellt, (was natürlich nicht heißt, dass es real, autobiographisch erlebt sein muss), es erzählt mir von Menschen und die können immer irren, sowohl ein Sadhu, als auch der Erzähler und ich.

Liebe Grüße
Flora
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

pjesma

Beitragvon pjesma » 11.12.2012, 14:37

ich hab da etwas angst mit meinem komm ins unwichtige abzutrifften, aber sei mir verziehen, es beschäftigt mich sehr, der text... ;-)
da ist einer der bei letztem licht ins wasser steigt. was in der nacht passiert, wissen wir nicht, sehen wir nicht---jedenfalls ist er am nächstem tag nicht mehr da und see ist gefrohren. hm. hat er sich umgebracht? ist er im schutz des dunkels hinausgestiegen und weg gegangen? wir können rätseln und uns womöglich persönlich entscheiden für eine lösung. und da steigt in mir die "religiöse"konfrontation auf... ---ich wünsche mir nähmlich, er wäre ein spinner---weil ein sadhu der sich das leben nimmt (bei vollem wissen von kostbarkeit des lebens auch eine schilchte mücke) kann mir kein sadhu (lehrer) sein ... :-(... so einfach bin ich gestrickt ;-)
lg


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