Die Bibliothek

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Sam

Beitragvon Sam » 17.09.2012, 18:00

Die Bibliothek



Zwei Tage bevor mein Vater starb, hatte er mich noch angerufen.
„Es ist schon wieder eins weg“, sagte er aufgeregt, „und weißt du welches?“
„Nein.“
„Der Somerset. Wie ich es vorausgesehen habe.“
„Tatsächlich, der Somerset“, sagte ich in einem Tonfall, der, wie ich hoffte, meinen Vater glauben ließ, ich würde mich daran erinnern, dass er vor einiger Zeit gesagt hatte, der Somerset würde der nächste sein, der verschwindet.
„Du musst unbedingt kommen. Wir müssen reden.“
„Ich komme am Montag“, erwiderte ich.
„Montag? Das ist ja erst nächste Woche. Da kann es schon zu spät sein. Es fehlt ja nur noch eins.“
„Vater“, sagte ich laut, „wenn du nicht willst, dass dich bald alle, mich eingeschlossen, für einen Irren halten, dann hör auf damit. Es ist noch lange nicht zu spät. Du bist zwar alt, aber kerngesund.“
„Was soll das denn heißen?“, fragte er, hörbar empört.
„Das soll heißen, dass zwar deine Bücher eins nach dem anderen verschwinden, dies aber kein Hinweis darauf ist, dass du auch bald verschwindest. Es sei denn du hast dir ein Ticket nach sonstwo gekauft und planst es auch zu benutzen.“
„Du bist ein Ekel, weißt du das? Und jetzt komm, verdammt! Mir läuft die Zeit davon.“

Also fuhr ich zu ihm.
„Ich hab schon alles aufgeschrieben, was du erledigen musst“, sagte er, als wir uns an den Küchentisch gesetzt hatten. Auf dem Weg hatte ich an einer Tankstelle zwei Dosen Bier gekauft, die ich jetzt öffnete. Ich überflog den Zettel. Es waren scheinbar detaillierte Anweisungen, wie seine Beerdigung zu verlaufen habe.
Als ich wieder aufsah, meinte er: „Ich hoffe, ich kann mich auf dich verlassen.“
„Natürlich kannst du dich auf mich verlassen. Und wenn es mal soweit ist, dann wird alles so gemacht, wie du es hier aufgeschrieben hast.“ Ich versuchte ruhig und gelassen zu bleiben.
Vater beugte sich über den Tisch, so dass seine knorpelige Nase fast meine Brillengläser berührte.
„Es ist bald soweit. Vielleicht morgen schon“, flüsterte er eindringlich.
„Vater“, versuchte ich es erneut, „wir waren letzte Woche beim Arzt. Er hat dich von Kopf bis Fuß untersucht. Dir fehlt nichts. Du könntest, wenn du wolltest sogar noch Kinder zeugen, hat er gesagt.“
Mein Vater machte eine abfällige Geste. „Ach dieser blöde Arzt. Hielt sich für besonders witzig. Hat doch keine Ahnung. Was weiß der denn schon von meinen Büchern. Außerdem, wie soll dieser Doktor etwas verstehen, was noch nicht mal mein eigen Fleisch und Blut versteht?“
„Was verstehen?“, fragte ich, „dass deine Bücher dich umbringen wollen?“
„Pah“, rief der Alte, „du bist ein widerlicher Ignorant. Es sind nicht die Bücher, die mich umbringen werden. Im Gegenteil. Die Bücher haben mich bisher am Leben erhalten. Es ist ihr Verschwinden, was mich töten wird.“

Dass meinem Vater nach und nach die Bücher seiner umfangreichen Bibliothek abhanden kamen war wirklich ein Rätsel. Angefangen hatte es kurz nach dem Tod meiner Mutter. Zunächst dachte ich, er hätte sie verlegt. Bestürzt zeigte er mir die Lücken in seinen Bücherregalen. Aber obwohl wir das ganze Haus auf den Kopf stellten, waren sie nicht aufzufinden. Mein Vater verdächtigte die Putzfrau und entließ sie. Von da an machte ich jeden Montag bei ihm sauber. Dennoch verschwanden immer wieder Bücher. Manchmal nur eins, manchmal mehrere. Die Intervalle waren unterschiedlich. Aber wenigstens einmal im Monat bekam ich einen Anruf von meinem Vater, indem er den weiteren Verlust eines Buches beklagte. Ich konnte es mir nicht anders erklären, als dass mein Vater, obwohl er geistig noch voll auf der Höhe erschien, an einer gewissen Form von Demenz litt und die Bücher entweder wegwarf oder außer Haus brachte, ohne sich dessen bewusst zu sein.
Einmal nahm ich mir sogar eine Woche Urlaub und beobachtete die ganze Zeit sein Haus, um zu sehen ob es nicht doch er war, der die Bücher verschwinden ließ. Aber er ging höchstens in den Supermarkt um die Ecke oder zum Bäcker. Selbst den Müll untersuchte ich, fand aber nichts. Schlussendlich sagte ich mir, dass mein Vater irgendwo im Haus ein geheimes Versteck haben musste, wo er die Bücher deponierte und ich sie spätestens nach seinem Tod finden würde.

Was meinen Vater so beunruhigte war allerdings nicht nur dass, sondern welche Bücher aus seinen Regalen verschwanden. Die erste Zeit kam es ihm sehr willkürlich vor, aber irgendwann meinte er ein System erkannt zu haben.
Eines Tages legte er mir eine Liste vor, in die er alle Titel eingetragen hatte, die ihm bis zu diesem Tag abhanden gekommen waren.
„Und?“, fragte er gespannt, als ich mir seine Aufstellung angesehen hatte, „fällt dir was auf?“
„Vater“, erwiderte ich leicht gereizt, „du weißt, ich kann mit Büchern nicht viel anfangen. Die meisten der Sachen, die da stehen kenne ich gar nicht.“
Er verdrehte die Augen und nahm das Papier wieder an sich.
„Dann kannst du es ja gar nicht verstehen.“
„Erklär’s mir halt.“
„Warum, wenn du mich gar nicht ernst nimmst.“
„Ach Vater, natürlich...komm sag schon.“
Er setzte sich neben mich und legte den Zettel vor uns auf den Tisch.
„Also hier, Buch Nummer eins – Wahlverwandtschaften von Goethe. Das war das letzte Buch, welches ich mir gekauft habe. Vorigen Sommer, als wir nach Travemünde fuhren. Erinnerst du dich?“
Tatsächlich konnte ich mich daran erinnern, dass mein Vater von mir verlangte auf dem Weg von München an die Ostsee von der Autobahn abzufahren um irgendwo einen Buchladen zu finden, weil er noch etwas zum Lesen für seinen Kuraufenthalt kaufen wollte.
„Danach“, fuhr er fort, „ Die Lücke die der Teufel lässt – und – Die Stadt der Blinden. Die beiden letzten Bücher, die deine Mutter mir geschenkt hat. zu meinem achtundsiebzigsten. Dann verschwanden vier auf einmal. Und zwar alte Bücher, aus meiner Schulzeit, wunderbare Bücher, die ich durch all die Jahre hindurchgerettet habe. Zunächst dachte ich ja, es hätte was damit zu tun, wann ich die Bücher gekauft oder bekommen hatte. Nun aber, die alten Bücher, die ich schon so lange besaß. Bis mir einfiel, dass ich alle vier vor einigen Jahren habe von einem Buchbinder neu einbinden lassen. Danach sahen sie wieder aus wie neu. Sie kamen mir auch ganz neu vor, und da habe ich sie gerade noch mal durchgelesen, zum hundersten Mal denke ich.“
„Du meinst also“, sagte ich, ein wenig erleichtert so schnell hinter das sogenannte System gekommen zu sein, „die Bücher verschwinden in der Reihenfolge, in der du sie gelesen hast?“
„Ja, das dachte ich zunächst. Aber es waren nicht alle Bücher verschwunden, die ich gelesen habe. Hier, der Grass steht noch da, der Schwanitz, der Walser, die Sontag. Das Datum der Lektüre ist nur ein Kriterium, merkte ich. Es musste noch weitere geben.“
„Und, hast du die auch entdeckt?“
„Ja!“, sagte er triumphierend, und ich fand seine Begeisterung richtig drollig.
„Schau dir die Liste weiter an. Wir kommen langsam in die neunziger Jahre. Da gibt es Bücher, die ich neu gekauft habe und auch solche, die ich schon lange hatte und wieder gelesen habe. Manche allerdings nur stellenweise.“
„Halt, „unterbrach ich ihn, „woher weißt du, wann du welches Buch gelesen hast? Das ist mittlerweile zehn Jahre und länger her.“
Das faltige Gesicht meines Vaters verzog sich zu einem hämischen Grinsen.
„Das mein lieber Sohn, war genau der Punkt. Ich habe mir dieselbe Frage gestellt. Diese Bücher, da auf der Liste. Worin unterscheiden sie sich von den anderen, die da noch ganz unversehrt im Regal stehen. Nächte lang saß ich über der Liste und habe nachgedacht. Bis es mir dann auffiel. Es verschwinden nur die Bücher, an deren erste Lektüre ich mich erinnern kann. Oder daran, wie ich sie wiederentdeckte. Deswegen sind die Bücher, die ich in den letzten Jahren gekauft habe, beinnahe alle verschwunden. Je weiter es in die Vergangenheit geht, desto größer werden die Lücken.“

Das war zuviel für mich. Eine rein zeitliche Abfolge wäre noch nachvollziehbar gewesen. Nachprüfbar, was hieß, ich hätte die Möglichkeit gehabt, meinem Vater seinen Irrsinn irgendwie durch Logik auszutreiben. So aber verschwanden jene Bücher nach einem Schema, das einzig und allein er nachvollziehen konnte. Und solange ich nicht wusste, wo die Bücher abgeblieben waren, blieb mir nur übrig, so zu tun, als würde ich ihm glauben.

„Der nächste, der verschwindet, ist der Somerset.“ sagte er noch.


Dann war es eigenartigerweise monatelang ruhig, und das rätselhafte Bücherverschwinden hörte auf. Ich hatte es schon fast vergessen, bis zu jenem Anruf.
„Der Somerset. Wie ich es vorausgesagt habe.“

Nur einmal hatten wir in der Zwischenzeit noch darüber gesprochen. Mein Vater hatte eine schwere Erkältung und ich verlangte von ihm, im Bett zu bleiben. Missmutig trank er den Kamillentee, den ich ihm kochte. Wenn er Hunger hatte, machte ich ihm eine klare Brühe, die er, leise vor sich hinmaulend, löffelte. Irgendwann sagte er:
„Übrigens, wegen der Bücher. Ich weiß jetzt, was ihr Verschwinden zu bedeuten hat.“
„Jaja, ich weiß, sie verschwinden weil du dich an sie erinnern kannst.“
„Ja, deswegen verschwinden sie. Aber was ich bisher nicht wusste ist, warum sie verschwinden. Warum in dieser Reihenfolge und warum überhaupt.“
„Und, hast du das herausgefunden?“
„Natürlich. Ich beschäftige mich eben mit Dingen, die über die tägliche Lebensbewältigung hinausgehen. Was dir übrigens auch nicht schaden könnte.“
Ich überhörte diese Spitze und wischte ihm mit einem Handtuch den Mund ab, was ihn noch mehr verärgerte.
„Es ist ein Hinweis. Die Bücher verschwinden, weil sie mir damit sagen möchten, dass meine Zeit gekommen ist.“
„Deine Zeit gekommen?“
„Meine Zeit zu sterben. Ja.“
„Und das sagen dir deine Bücher, indem sie eins nach dem anderen verschwinden?“
Obwohl ich merkte, wie ernst es meinem Vater war, konnte ich weder meinen Ärger noch den aufkommenden Sarkasmus unterdrücken.
„Ich habe nicht erwartet, dass du mir glaubst, mein Junge. Du sollst einfach nur vorbereitet sein. Erst wird der Somerset verschwinden. Danach geht’s dann schnell.“

Angesichts des Wahnsinns sucht der Mensch, der sich für normal hält, Schutz im Schatten von Institutionen, denen er vertraut. In diesem Fall einem Arzt.
In der folgenden Woche ließ ich meinen Vater gründlich untersuchen. Mit einem mehr als ermutigenden Ergebnis. Von Demenz keine Spur. Und überhaupt warteten da noch eine ganze Reihe von angenehmen Lebensjahren auf ihn, so die Meinung des jungen aber durchaus kompetenten Mediziners.
„Du wirst schon sehen“, war alles, was mein Vater dazu sagte.



„Eins fehlt noch“, sagte Vater und schlürfte an seinem Bier.
„Und welches ist es deiner Meinung nach?“
„Ich weiß es nicht“
„Wie, du weißt es nicht?“
„An den Somerset kann ich mich genau erinnern. Den hab ich gelesen, damals, als ich in Kriegsgefangenschaft war. Ich war ja einer der wenigen, die englisch konnten. Und einer der Offiziere meinte über gute Literatur wäre das mit der Entnazifizierung am besten zu bewerkstelligen.“
„Ja und, davor? Das war ja nicht das erste Buch, das du gelesen hast.“
„Nein, nein, da gab es viele. Aber die habe ich alle nicht mehr. Da waren die vier, die ich neu binden ließ, aber die sind ja schon weg.“
„Dann könnte es ja durchaus sein“, sagte ich gut gelaunt, weil ich meinte, ihn nun endlich zu haben, „ dass es mit dir doch nicht zu Ende geht. Schlicht und einfach, weil dir die Bücher ausgehen, an die du dich erinnern kannst.“
„Wenn es so einfach wäre...“

Dann fand in Nachbar meinen Vater tot vor der Haustür liegen. Als Ursache wurde eine Hirnblutung festgestellt. Keine zwei Sekunden hätte es gedauert, sagte man mir, als wäre das ein Trost.
Die Tage bis der Leichnam zur Beerdigung freigegeben wurde, verbrachte ich meist alleine. Trauer, Selbstvorwürfe und eine vollständige Verwirrtheit über den plötzlichen Tod meines Vaters, samt der Tatsache seines Vorauswissens über sein baldiges Ableben erzeugten in mir ein Gefühlschaos, welches ich bald nur noch mit einer gehörigen Menge Alkohol bewältigen konnte. Schließlich aber kam ich zu dem Schluss, dass es eben Dinge gibt, die man nicht erklären kann, die unseren Verstand übersteigen, die man einfach so hinnehmen muss. Nichts anderes blieb mir zu tun, als meinen Vater zu beerdigen, um ihn zu trauern und mein Leben so weiter zu führen, wie zuvor.
Mir fiel wieder der Zettel ein, den mein Vater mir gegeben hatte und auf dem die Wünsche seine Beerdigung betreffend aufgeschrieben waren. Nach langem Suchen fand ich ihn in meinem Nachttisch. Ich erschrak als ich las, er wolle nur im engsten Familienkreis beerdigt werden. Keinen Pfarrer, so seine Anweisungen. Ich solle lediglich am Grab etwas vorlesen. Aus der Bibel.

Eine Bibel hatte ich natürlich nicht. Aber mein Vater mit Sicherheit. Da ich sowieso seine Sachen noch alle sortieren und für die Haushaltsauflösung fertig machen musste, beschloss ich unter seinen verbliebenen Büchern nach einer Bibel zu suchen. Als ich in die Bibliothek kam, der größte Raum des Hauses, gemütlich eingerichtet mit Kamin und Ohrensessel, fiel mir sofort auf, dass die Bücherregale so voll waren, wie ich sie seit je her in Erinnerungen hatte. Ich begann nachzusehen. Da standen die Wahlverwandtschaften, weiter oben die Stadt der Blinden, auf der gegenüberliegenden Seite der Kluge. Auch den Somerset fand ich, sowie alle anderen Bücher, deren Verschwinden mein Vater beklagt hatte.
Schließlich entdeckte ich eine Bibel, die ich verwirrt aufschlug. Auf der ersten Seite stand eine Widmung. Es waren die Worte meiner Großmutter an ihren einzigen Sohn:
„Das erste Buch, das man geschenkt bekommt, sollte das beste sein, das je geschrieben wurde. Mögest du es lesen und es niemals vergessen.“

Ich stellte die Bibel zurück an ihren Platz, setzte mich in den Sessel und betrachtete die Unzahl an Büchern. Dann stand ich auf, holte irgendeines aus dem Regal und begann zu lesen.


Ein paar Fehlerchen beseitigt nach Hinweisen von scarlett und zefira
Zuletzt geändert von Sam am 18.09.2012, 06:17, insgesamt 1-mal geändert.

scarlett

Beitragvon scarlett » 17.09.2012, 19:02

lieber sam,

was für eine geschichte!
ich bin ganz hin und weg!
du meine güte ... wie hat sich doch das warten auf einen neuen text von dir gelohnt!

ein paar kleinigkeiten sind mir aufgefallen, meist fehlende kommas.

mehr kann ich grad nicht sagen als

chapeau!!!

monika

nachtrag:
irgendwie kann man meine eingefügten satzzeichen u ä nicht erkennen! keine ahnung, wieso das so ist.

Sam hat geschrieben:Die Bibliothek



Zwei Tage bevor mein Vater starb, hatte er mich noch angerufen.
„Es ist schon wieder eins weg“, sagte er aufgeregt, „und weißt du welches?“
„Nein.“
„Der Sommerset. Wie ich es vorausgesehen habe.“
„Tatsächlich, der Sommerset“, sagte ich in einem Tonfall, der, wie ich hoffte, meinen Vater glauben ließ, ich würde mich daran erinnern, dass er vor einiger Zeit gesagt hatte, der Sommerset würde der nächste sein, der verschwindet.
„Du musst unbedingt kommen. Wir müssen reden.“
„Ich komme am Montag“, erwiderte ich.
„Montag? Das ist ja erst nächste Woche. Da kann es schon zu spät sein. Es fehlt ja nur noch eins.“
„Vater“, sagte ich laut, „wenn du nicht willst, dass dich bald alle, mich eingeschlossen, für einen Irren halten, dann hör auf damit. Es ist noch lange nicht zu spät. Du bist zwar alt, aber kerngesund.“
„Was soll das denn heißen?“, fragte er, hörbar empört.
„Das soll heißen, dass zwar deine Bücher eins nach dem anderen verschwinden, dies aber kein Hinweis darauf ist, dass du auch bald verschwindest. Es sei denn, du hast dir ein Ticket nach sonstwo gekauft und planst es auch zu benutzen.“
„Du bist ein Ekel, weißt du das? Und jetzt komm, verdammt! Mir läuft die Zeit davon.“

Also fuhr ich zu ihm.
„Ich hab schon alles aufgeschrieben, was du erledigen musst“, sagte er, als wir uns an den Küchentisch gesetzt hatten. Auf dem Weg hatte ich an einer Tankstelle zwei Dosen Bier gekauft, die ich jetzt öffnete. Ich überflog den Zettel. Es waren scheinbar detaillierte Anweisungen, wie seine Beerdigung zu verlaufen habe.
Als ich wieder aufsah, meinte er: „Ich hoffe, ich kann mich auf dich verlassen.“
„Natürlich kannst du dich auf mich verlassen. Und wenn es mal soweit ist, dann wird alles so gemacht, wie du es hier aufgeschrieben hast.“ Ich versuchte ruhig und gelassen zu bleiben.
Vater beugte sich über den Tisch, so dass seine knorpelige Nase fast meine Brillengläser berührte.
„Es ist bald soweit. Vielleicht morgen schon“, flüsterte er eindringlich.
„Vater“, versuchte ich es erneut, „wir waren letzte Woche beim Arzt. Er hat dich von Kopf bis Fuß untersucht. Dir fehlt nichts. Du könntest, wenn du wolltest, sogar noch Kinder zeugen, hat er gesagt.“
Mein Vater machte eine abfällige Geste. „Ach dieser blöde Arzt. Hielt sich für besonders witzig. Hat doch keine Ahnung. Was weiß der denn schon von meinen Büchern. Außerdem, wie soll dieser Doktor etwas verstehen, was noch nicht mal mein eigen Fleisch und Blut versteht?“
„Was verstehen?“, fragte ich, „dass deine Bücher dich umbringen wollen?“
„Pah“, rief der Alte, „du bist ein widerlicher Ignorant. Es sind nicht die Bücher, die mich umbringen werden. Im Gegenteil. Die Bücher haben mich bisher am Leben erhalten. Es ist ihr Verschwinden, was mich töten wird.“

Dass meinem Vater nach und nach die Bücher seiner umfangreichen Bibliothek abhanden kamen, war wirklich ein Rätsel. Angefangen hatte es kurz nach dem Tod meiner Mutter. Zunächst dachte ich, er hätte sie verlegt. Bestürzt zeigte er mir die Lücken in seinen Bücherregalen. Aber obwohl wir das ganze Haus auf den Kopf stellten, waren sie nicht aufzufinden. Mein Vater verdächtigte die Putzfrau und entließ sie. Von da an machte ich jeden Montag bei ihm sauber. Dennoch verschwanden immer wieder Bücher. Manchmal nur eins, manchmal mehrere. Die Intervalle waren unterschiedlich. Aber wenigstens einmal im Monat bekam ich einen Anruf von meinem Vater, indem er den weiteren Verlust eines Buches beklagte. Ich konnte es mir nicht anders erklären, als dass mein Vater, obwohl er geistig noch voll auf der Höhe erschien, an einer gewissen Form von Demenz litt und die Bücher entweder wegwarf oder außer Haus brachte, ohne sich dessen bewusst zu sein.
Einmal nahm ich mir sogar eine Woche Urlaub und beobachtete die ganze Zeit sein Haus, um zu sehen, ob es nicht doch er war, der die Bücher verschwinden ließ. Aber er ging höchstens in den Supermarkt um die Ecke oder zum Bäcker. Selbst den Müll untersuchte ich, fand aber nichts. Schlussendlich sagte ich mir, dass mein Vater irgendwo im Haus ein geheimes Versteck haben musste, wo er die Bücher deponierte und ich sie spätestens nach seinem Tod finden würde.

Was meinen Vater so beunruhigte war allerdings nicht nur dass, sondern welche Bücher aus seinen Regalen verschwanden. Die erste Zeit kam es ihm sehr willkürlich vor, aber irgendwann meinte er ein System erkannt zu haben.
Eines Tages legte er mir eine Liste vor, in die er alle Titel eingetragen hatte, die ihm bis zu diesem Tag abhanden gekommen waren.
„Und?“, fragte er gespannt, als ich mir seine Aufstellung angesehen hatte, „fällt dir was auf?“
„Vater“, erwiderte ich leicht gereizt, „du weißt, ich kann mit Büchern nicht viel anfangen. Die meisten der Sachen, die da stehen, kenne ich gar nicht.“
Er verdrehte die Augen und nahm das Papier wieder an sich.
„Dann kannst du es ja gar nicht verstehen.“
„Erklär’s mir halt.“
„Warum, wenn du mich gar nicht ernst nimmst.“
„Ach Vater, natürlich...komm sag schon.“
Er setzte sich neben mich und legte den Zettel vor uns auf den Tisch.
„Also hier, Buch Nummer eins – Wahlverwandtschaften von Goethe. Das war das letzte Buch, welches ich mir gekauft habe. Vorigen Sommer, als wir nach Travemünde fuhren. Erinnerst du dich?“
Tatsächlich konnte ich mich daran erinnern, dass mein Vater von mir verlangte, auf dem Weg von München an die Ostsee von der Autobahn abzufahren, um irgendwo einen Buchladen zu finden, weil er noch etwas zum Lesen für seinen Kuraufenthalt kaufen wollte.
„Danach“, fuhr er fort, „ Die Lücke die der Teufel lässt – und – Die Stadt der Blinden. Die beiden letzten Bücher, die deine Mutter mir geschenkt hat. zu meinem achtundsiebzigsten. Dann verschwanden vier auf einmal. Und zwar alte Bücher, aus meiner Schulzeit, wunderbare Bücher, die ich durch all die Jahre hindurchgerettet habe. Zunächst dachte ich ja, es hätte was damit zu tun, wann ich die Bücher gekauft oder bekommen hatte. Nun aber, die alten Bücher, die ich schon so lange besaß. Bis mir einfiel, dass ich alle vier vor einigen Jahren habe von einem Buchbinder neu einbinden lassen. Danach sahen sie wieder aus wie neu. Sie kamen mir auch ganz neu vor, und da habe ich sie gerade noch mal durchgelesen, zum hundersten Mal denke ich.“
„Du meinst also“, sagte ich, ein wenig erleichtert so schnell hinter das sogenannte System gekommen zu sein, „die Bücher verschwinden in der Reihenfolge, in der du sie gelesen hast?“
„Ja, das dachte ich zunächst. Aber es waren nicht alle Bücher verschwunden, die ich gelesen habe. Hier, der Grass steht noch da, der Schwanitz, der Walser, die Sontag. Das Datum der Lektüre ist nur ein Kriterium, merkte ich. Es musste noch weitere geben.“
„Und, hast du die auch entdeckt?“
„Ja!“, sagte er triumphierend, und ich fand seine Begeisterung richtig drollig.
„Schau dir die Liste weiter an. Wir kommen langsam in die neunziger Jahre. Da gibt es Bücher, die ich neu gekauft habe und auch solche, die ich schon lange hatte und wieder gelesen habe. Manche allerdings nur stellenweise.“
„Halt, „unterbrach ich ihn, „woher weißt du, wann du welches Buch gelesen hast? Das ist mittlerweile zehn Jahre und länger her.“
Das faltige Gesicht meines Vaters verzog sich zu einem hämischen Grinsen.
„Das mein lieber Sohn, war genau der Punkt. Ich habe mir dieselbe Frage gestellt. Diese Bücher, da auf der Liste. Worin unterscheiden sie sich von den anderen, die da noch ganz unversehrt im Regal stehen. Nächte lang saß ich über der Liste und habe nachgedacht. Bis es mir dann auffiel. Es verschwinden nur die Bücher, an deren erste Lektüre ich mich erinnern kann. Oder daran, wie ich sie wiederentdeckte. Deswegen sind die Bücher, die ich in den letzten Jahren gekauft habe, beinnahe alle verschwunden. Je weiter es in die Vergangenheit geht, desto größer werden die Lücken.“

Das war zuviel für mich. Eine rein zeitliche Abfolge wäre noch nachvollziehbar gewesen. Nachprüfbar, was hieß, ich hätte die Möglichkeit gehabt, meinem Vater seinen Irrsinn irgendwie durch Logik auszutreiben. So aber verschwanden jene Bücher nach einem Schema, das einzig und allein er nachvollziehen konnte. Und solange ich nicht wusste, wo die Bücher abgeblieben waren, blieb mir nur übrig, so zu tun, als würde ich ihm glauben.

„Der nächste, der verschwindet, ist der Sommerset.“ sagte er noch.


Dann war es eigenartigerweise monatelang ruhig, und das rätselhafte Bücherverschwinden hörte auf. Ich hatte es schon fast vergessen, bis zu jenem Anruf.
„Der Sommerset. Wie ich es vorausgesagt habe.“

Nur einmal hatten wir in der Zwischenzeit noch darüber gesprochen. Mein Vater hatte eine schwere Erkältung und ich verlangte von ihm, im Bett zu bleiben. Missmutig trank er den Kamillentee, den ich ihm kochte. Wenn er Hunger hatte, machte ich ihm eine klare Brühe, die er, leise vor sich hinmaulend, löffelte. Irgendwann sagte er:
„Übrigens, wegen der Bücher. Ich weiß jetzt, was ihr Verschwinden zu bedeuten hat.“
„Jaja, ich weiß, sie verschwinden, weil du dich an sie erinnern kannst.“
„Ja, deswegen verschwinden sie. Aber was ich bisher nicht wusste ist, warum sie verschwinden. Warum in dieser Reihenfolge und warum überhaupt.“
„Und, hast du das herausgefunden?“
„Natürlich. Ich beschäftige mich eben mit Dingen, die über die tägliche Lebensbewältigung hinausgehen. Was dir übrigens auch nicht schaden könnte.“
Ich überhörte diese Spitze und wischte ihm mit einem Handtuch den Mund ab, was ihn noch mehr verärgerte.
„Es ist ein Hinweis. Die Bücher verschwinden, weil sie mir damit sagen möchten, dass meine Zeit gekommen ist.“
„Deine Zeit gekommen?“
„Meine Zeit zu sterben. Ja.“
„Und das sagen dir deine Bücher, indem sie eins nach dem anderen verschwinden?“
Obwohl ich merkte, wie ernst es meinem Vater war, konnte ich weder meinen Ärger noch den aufkommenden Sarkasmus unterdrücken.
„Ich habe nicht erwartet, dass du mir glaubst, mein Junge. Du sollst einfach nur vorbereitet sein. Erst wird der Sommerset verschwinden. Danach geht’s dann schnell.“

Angesichts des Wahnsinns sucht der Mensch, der sich für normal hält, Schutz im Schatten von Institutionen, denen er vertraut. In diesem Fall einem Arzt.
In der folgenden Woche ließ ich meinen Vater gründlich untersuchen. Mit einem mehr als ermutigenden Ergebnis. Von Demenz keine Spur. Und überhaupt warteten da noch eine ganze Reihe von angenehmen Lebensjahren auf ihn, so die Meinung des jungen aber durchaus kompetenten Mediziners.
„Du wirst schon sehen“, war alles, was mein Vater dazu sagte.



„Eins fehlt noch“, sagte Vater und schlürfte an seinem Bier.
„Und welches ist es deiner Meinung nach?“
„Ich weiß es nicht“
„Wie, du weißt es nicht?“
„An den Sommerset kann ich mich genau erinnern. Den hab ich gelesen, damals, als ich in Kriegsgefangenschaft war. Ich war ja einer der wenigen, die englisch konnten. Und einer der Offiziere meinte über gute Literatur wäre das mit der Entnazifizierung am besten zu bewerkstelligen.“
„Ja und, davor? Das war ja nicht das erste Buch, das du gelesen hast.“
„Nein, nein, da gab es viele. Aber die habe ich alle nicht mehr. Da waren die vier, die ich neu binden ließ, aber die sind ja schon weg.“
„Dann könnte es ja durchaus sein“, sagte ich gut gelaunt, weil ich meinte, ihn nun endlich zu haben, „ dass es mit dir doch nicht zu Ende geht. Schlicht und einfach, weil dir die Bücher ausgehen, an die du dich erinnern kannst.“
„Wenn es so einfach wäre...“

Dann fand in ein Nachbar meinen Vater tot vor der Haustür liegen. Als Ursache wurde eine Hirnblutung festgestellt. Keine zwei Sekunden hätte es gedauert, sagte man mir, als wäre das ein Trost.
Die Tage bis der Leichnam zur Beerdigung freigegeben wurde, verbrachte ich meist alleine. Trauer, Selbstvorwürfe und eine vollständige Verwirrtheit über den plötzlichen Tod meines Vaters, samt der Tatsache seines Vorauswissens über sein baldiges Ableben erzeugten in mir ein Gefühlschaos, welches ich bald nur noch mit einer gehörigen Menge Alkohol bewältigen konnte. Schließlich aber kam ich zu dem Schluss, dass es eben Dinge gibt, die man nicht erklären kann, die unseren Verstand übersteigen, die man einfach so hinnehmen muss. Nichts anderes blieb mir zu tun, als meinen Vater zu beerdigen, um ihn zu trauern und mein Leben so weiter zu führen, wie zuvor.
Mir fiel wieder der Zettel ein, den mein Vater mir gegeben hatte und auf dem die Wünsche seine Beerdigung betreffend aufgeschrieben waren. Nach langem Suchen fand ich ihn in meinem Nachttisch. Ich erschrak, als ich las, er wolle nur im engsten Familienkreis beerdigt werden. Keinen Pfarrer, so seine Anweisungen. Ich solle lediglich am Grab etwas vorlesen. Aus der Bibel.

Eine Bibel hatte ich natürlich nicht. Aber mein Vater mit Sicherheit. Da ich sowieso seine Sachen noch alle sortieren und für die Haushaltsauflösung fertig machen musste, beschloss ichunter seinen verbliebenen Büchern nach einer Bibel zu suchen. Als ich in die Bibliothek kam, der größte Raum des Hauses, gemütlich eingerichtet mit Kamin und Ohrensessel, fiel mir sofort auf, dass die Bücherregale so voll waren, wie ich sie seit je her in Erinnerungen hatte. Ich begann nachzusehen. Da standen die Wahlverwandtschaften, weiter oben die Stadt der Blinden, auf der gegenüberliegenden Seite der Kluge. Auch den Sommerset fand ich, sowie alle anderen Bücher, deren Verschwinden mein Vater beklagt hatte.
Schließlich entdeckte ich eine Bibel, die ich verwirrt aufschlug. Auf der ersten Seite stand eine Widmung. Es waren die Worte meiner Großmutter an ihren einzigen Sohn:
„Das erste Buch, das man geschenkt bekommt, sollte das beste sein, das je geschrieben wurde. Mögest du es lesen und es niemals vergessen.“

Ich stellte die Bibel zurück an ihren Platz, setzte mich in den Sessel und betrachtete die Unzahl an Büchern. Dann stand ich auf, holte irgendeines aus dem Regal und begann zu lesen.

ecb

Beitragvon ecb » 17.09.2012, 20:03

Ausgezeichnet, Sam - wie sich diese Geschichte geschickt eindeutigen Auslegungen entzieht und dadurch schön zum Grübeln anregt, ein wenig dabei mit Unerklärlichem spielend, worin ich mich leicht an MR James erinnert fühle, aber nur ganz leicht. Unerklärliches, das einem gar nicht so völlig unplausibel vorkommt, aber dafür sorgt, daß die Geschichte schön offen bleibt für die Phantasie des Lesers.
So mag ich das. :daumen:

Liebe Grüße
Eva

scarlett

Beitragvon scarlett » 17.09.2012, 20:06

der kluge!
ja ja, sehr fein gesetzt der hinweis.

monika

pjesma

Beitragvon pjesma » 17.09.2012, 21:33

eine fesselnde geschichte, habs am bildschirm durchgelesen ;-)
lg, pjesma

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Zefira
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Registriert: 24.08.2006

Beitragvon Zefira » 17.09.2012, 22:05

Lieber Sam,
bitte nimm mir den Hinweis nicht übel - es heißt Somerset, nicht Sommerset. (Wenn Du Maugham meinst, was ich annehme.)
Habe eben die Geschichte nur rasch überflogen, später mehr, aber solche Verschreiber irritieren mich immer furchtbar ...., deshalb dies schon vorab.

Grüße von Zefira (liebt die drei dicken Damen von Antibes)
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)

Sam

Beitragvon Sam » 18.09.2012, 06:13

Hallo Monika,

vielen Dank! Freut mich sehr, dass dir die Geschichte gefällt.

Danke auch für deine Hinweise. Ich werde versuchen im Laufe des Tages noch ein wenig auszubessern.


Hallo Eva,

schön, wenn dir das Unerklärte bzw. Unerklärliche in der Geschichte gefällt. Ich ging eigentlich davon aus, dass sich die Leser vielleicht darüber beschweren, keine wirkliche Auflösung des Rätsels vorzufinden.


Pjesma, auch dir vielen Dank!


Hallo Zefi,

jep, der Sommerset ist ziemlich peinlich. Ich dachte eigentlich, dies noch geändert zu haben, aber ich bin in dieser Hinsicht manchmal schrecklich blind, was meine Texte angeht. Ich werde das gleich mal korrigieren.


Nochmals Danke euch allen!

Gruß

Sam

Sam

Beitragvon Sam » 18.09.2012, 20:57

scarlett hat geschrieben:der kluge!
ja ja, sehr fein gesetzt der hinweis.

monika


das freut mich ungemein, dass du das bemerkt hast!

Gruß

Sam

Nifl
Beiträge: 3884
Registriert: 28.07.2006
Geschlecht:

Beitragvon Nifl » 19.09.2012, 19:52

Hallo Sam,

David schrieb kürzlich zu einem Gedicht es sei "nett". Dieses "nett" trifft es auch hier für mein Leseempfinden recht gut. Eine harmlos unterhaltende Geschichte, die nicht sonderlich berührt, aufmerken lässt oder Spuren zurücklässt. Trotzdem ist sie nicht langweilig, man bereut nicht die verschwendete Lesezeit. Ein Vatersöhnchen nimmt die Anwandlungen des Vaters eine Korrelation zwischen Bücherschwund und nahendem Tod zu sehen nicht ernst, versucht halbherzig die verstiegenen Theorien zu entkräften. Es kommt, wie es kommen musste, der Vater stirbt. Die Bibel war das letzte und erste Buch. Warum die Bücher verschwanden und warum sie plötzlich wieder auftauchen, bleibt ungelöst.
Der Sohn ist profillos und ungewöhnlich wenig markant gezeichnet für deine Verhältnisse, fügt sich aber gut in die Geschichte, wenngleich ich da irgendwie mehr eine Tochter mit Helfersyndrom sehe als einen Sohn. Ein paar Kleinigkeiten haben mich gestört, wie zB. dass Vater und Sohn in der Küche sitzen. Wenn jemand eine großräumige Bibliothek besitzt und eine Putzfrau beschäftigt, da hockt er nicht mit Besuch in der Küche, wie der Rentner aus einem Sozialwohnungsblock. Das ist für mich statusinkongruent. Dann wirkten mir die Dialoge teilweise unecht, speziell vom Sohn und stilistisch fiel der Text mE nach dem Tod ab.
Dies zB. ist pures Tell und leseärgerlich :
Trauer, Selbstvorwürfe und eine vollständige Verwirrtheit über den plötzlichen Tod meines Vaters, samt der Tatsache seines Vorauswissens über sein baldiges Ableben erzeugten in mir ein Gefühlschaos,


Die Quintessenz, warum er zu lesen beginnt, erschließt sich mir nicht aus dem Text. Sollte sich deine Figur in diese Richtung entwickelt haben, so habe ich das ignorant überlesen.

Die Begeisterungsstürme kann ich nicht ganz nachvollziehen, aber jou, auch kein Text für die Tonne.

LG
Nifl

Ach, das noch:
Dann fand in Nachbar meinen Vater tot vor der Haustür liegen
"Das bin ich. Ich bin Polygonum Polymorphum" (Wolfgang Oehme)

scarlett

Beitragvon scarlett » 19.09.2012, 20:27

Nifl hat geschrieben: Wenn jemand eine großräumige Bibliothek besitzt und eine Putzfrau beschäftigt, da hockt er nicht mit Besuch in der Küche, wie der Rentner aus einem Sozialwohnungsblock.


wie unterschiedlich wir doch geprägt worden sind.
mir wäre diese stelle in sams text "aufgestoßen", wenn sie im akkurat aufgeräumten, weitläufigen wohnzimmer oder gar in der bibliothek angesiedelt worden wäre, die protagonisten aus gläsern statt aus dosen getrunken hätten, womöglich noch aus pils- oder weißbiergläsern, je nachdem.

ja, einen "besucher" empfängt man wohl so- nicht aber einen sohn.

die küche mit dem herd, das "nährende" element, die keimzelle der familie, in der man dicht gedrängt sitzt, sie schafft eine atmosphäre, in der wärme, vertrauen, offenheit herrscht, man sitzt so nah, dass sich die nasen beinha berühren oder die brillengläser ... es geht ums "eingemachte" bei diesem gespräch und das kann - für mich! - nur in diesem raum stattfinden und ich denke, sam hat das sehr wohl überlegt so gesetzt.

lg,
sca

Yorick

Beitragvon Yorick » 20.09.2012, 11:49

Hallo Sam,

ähnlich wie auf Nifl hat der Text auch auf mich gewirkt. Der Plot recht vage, die Personen irgendwie verschwommen.

Nifls Anmerkung zur Küche/Bibliothek finde ich nachvollziehbar, ebenso scarletts Herd/Keimzellen-Assoziation (die ich stimmig finde). Das könnte gut im Text angesprochen werden, vielleicht als Gedanke/Gefühl vom Sohn.

Schließlich habe ich mich ganz auf die Vater/Sohn-Beziehung konzentriert, da die "Geschichte um die verschwundenen Bücher" mich nicht in den Bann gezogen hat. Und da ist viel zu finden. Beide nehmen sich nicht ernst, der Vater nennt seinen Sohn ein "Ekel", "widerlich", einen Ignoranten. Der Sohn nimmt seinen Vater nicht für voll; letztlich weicht er dem Gedanken an den Tod seines Vater damit aus - das ist respektlos.

Aber existiert eine Beziehung, in der man über diese Dinge reden kann? Über den (eigenen) Tod, darüber, den Vater zu verlieren? Beide vermeiden es, sich dieser Tatsache zu nähern. Stattdessen kommt ein Zettel mit (scheinbar, wieso scheinbar?) detailierten Beerdigungsanweisungen. Im Bewußtsein des Vaters erlebt dieser seine letzten Tage. Was macht er mit dieser wertvollen letzten Zeit? Was ist für ihn wichtig im Leben?

Und da kommt nichts. Die Beerdigung - noch nicht einmal der Nachlass (das Haus, die Bücher, etc). Wo kommt da der Sohn drin vor? Gar nicht. Nach meinem Gefühl ist der Vater vom Sohn enttäuscht. Kein Interesse für die "Bücher" (das Erbe), also auch kein Nachfolger. Keinen Sinn für die die Dinge, die über die Lebensbewältigung hinaus gehen. Ein Versager.

Und der Sohn? Sucht nach dieser verwehrten Anerkennung (das ist: Liebe). Macht sich zur Putzfrau für seinen Vater. Flüchtet sich in Sarkasmus, weil er sich dieser Realität nicht stellt. Verdrängt das Ende des Vaters (alles gesund). Und was ist das für ein Satz: "Du [Vater] könntest noch Kinder zeugen." Das ist doch nun die "Aufgabe" des Sohnes, des Nachfolgers, aber das lehnt er ab, d.h. er ist nicht bereit, die Nachfolge anzutreten.
Anstelle des Sohnes wäre ich sehr wütend. Der Vater stirbt (ob nun in Verbindung mit den Büchern oder auch nicht). Und alles woran der alte Arsch denkt ist der Somerset.
(Das letzte Buch: die Bibel. Worum geht es da? Um die Liebe. Ach, das hatte der alte Herr ja vergessen!!!)

Beide sind also verstrickt in Ablehnung und Leugnung des Unausweichlichen. Das wird im Text auch nicht mehr direkt gelöst, sondern durch den "Beginn des Lesens" angedeutet. Da steckt drin: das Erbe antreten, ja, auch. Der Sohn ist nun Vollwaise, ihm bleibt nichts anderes übrig als die Leugnung (Alkohol) aufzugeben. Das Lesen könnte auch für eine Aufarbeitung der Beziehung zum Vater stehen, wobei die Gefahr besteht, dass er nun/nur den Vater nachspielt, immer noch auf die Anerkennung hoffend.

Also ein Text mit mehreren Ebenen. Man kann ihn als "nette" magische/mystische Geschichte lesen. Man kann literarischen Leckerbissen und Querverweisen nachsinnen und sich an der Idee der Rückführung aller Literatur auf "das Buch der Bücher" erfreuen. Oder man geht auf die Gefühlsebene (die mag bei anderen Lesern anders sein als bei mir) - Vaterbeziehung, Erwachsenwerden, Tod.

Mir ist der Text zu unentschlossen, wo es zum einen um die "magische" Seite geht (Plot), aber auch um die Vater/Sohn-Beziehung. Gerade die von Nifl/Scarlett besprochene Stelle hat meiner Meinung nach das Potential dazu, hier mehr Tiefe hinein zu bringen: Warum Küche, warum nicht Bibliothek, als Empfindungen des Sohnes (nicht als Gedankenmaschine).

(es könnte auch anders herum sein: warum wird der Sohn nicht in die Bibliothek geladen (Vaterbereich), sondern in die Küche (Mutterbereich)? Hägt das eventuell auch zusammen mit der Putzfunktion des Sohnes?)

Viele Grüße,
Yorick.

Renée Lomris

Beitragvon Renée Lomris » 20.09.2012, 12:12

Lieber Sam, du hast ein hohes Ansehen hier auf dem Blog und deine Texte kritisch zu betrachten ist geradezu eine Stilübung. Von deinen Texten erwarte ich viel und freue mich aufs Lesen. Da schraubt man die Ansprüche gleich ein bisschen höher .


mein Kommentar war gespickt mit Fehlern, soo unklar und krottenschlecht, hab keine Set mehr und muss weg. Heut abend mehr ... lG
Renée

Sam

Beitragvon Sam » 20.09.2012, 19:14

Hallo Nifl,

nett ist die kleine Schwester von Scheiße :mrgreen:

Im Ernst, vielen Dank für deinen Kommentar!

Zum Küchenthema hat Monika ja schon geantwortet - Vielen Dank Monika! - und ich sehe es auch so. Die Küche ist selbst bei jemanden dem ich den Mittelstand zugehörig sehen würde (eine Bibliothek mit Kamin + Putzfrau sind ja längst nicht mehr Zeichen eines irgendwie besonders gehobenen Lebensstandards), eine Art Gesellschaftsraum, indem sich große Teile des Lebens abspielen. Die Küche hat mehr "Intimität", als ein Wohnzimmer. Ganz bewusst aber wollte ich dieses Gespräch nicht in der Bibiothek stattfinden lassen. Diese ist der Raum, der dem Vater gehört, und erst vom Sohn nach dessen Tod sozusagen "entdeckt" wird. Darin ist dann auch der Grund zu suchen, warum er anfängt zu lesen. Es geht ja nur vordergründig um Bücher.

Den von dir zitierten Satz könnte man bestimmt besser formulieren. Natürlich ist er pures Tell, aber in dieser Geschichte so ziemlich die einzige Stelle und an diesem Schnittpunkt des Textes meiner meinung nach nicht gänzlich unangebracht.

Statusinkongruent ist ein geiles Wort! Das muss ich mir merken.


Hallo Yorick,

du hast eine Menge an interessanten Anmerkungen zu dem Text gemacht und viele Fragen gestellt, die eine Auseinandersetzung mit dem Inhalt darstellen. Ein Leserselbstgespräch nach der Lektüre, bei dem ich als Autor zwar sehr gerne zuhöre, aber nicht wirklich etwas dazu sagen kann. Außer: hätte ich diese Fragen alle in dem Text beantwortet, hättest du sie dir als Leser nicht gestellt. Wie groß dann noch die Freude am Lesen gewesen wäre - ich weiß es nicht.

Ich hatte beim Schreiben dieser Geschichte nie das Bedürfniss, das Vater/Sohn Verhältnis weiter auszuleuchten. Es sollte sich in diesem einen Konflikt darstellen. Am Ende geht es, wie eigentlich immer bei zwischenmenschlichen Beziehungen, um das Thema Kommunikation und in wieweit wird in der Lage sind, in das Denken eines anderen Menschen, selbst denen, die uns am nächsten stehen, einzudringen, es zu verstehen. Und wie erklären wir uns den anderen, wenn einem sämtliche Erklärungen abhanden gekommen sind.

Natürlich wünsche ich mir, der Leser würde den Text nicht als unentschlossen wahrnehmen, sondern das Exemplarische in dem dargestellten Konflikt erkennen. Und natürlich ein wenig Vergnügen an dem aufgezeigten Rätsel haben. Dass es am Ende nicht aufgelöst wird, mag ihn vielleicht verärgern - und dazu bringen die Figuren psychologisch ausdeuten zu wollen - aber das NIchtaufgelöste ist eben auch Teil des gezeigten Problems. Wenn es eine Lösung gibt, dann nicht das Verstehen. Am Ende stehen keine Antworten - sondern dass endlich die richtigen Fragen gestellt werden (der Sohn beginnt zu lesen).


Hallo Renée,

deinen Kommentar habe ich heute morgen noch gelesen, aber jetzt ist er weg. Schade. Aber es würde mich freuen, wenn du die Zeit findest, deine Gedanken nochmals zu schildern.

Euch allen vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren!

Gruß

Sam

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birke
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Beitragvon birke » 20.09.2012, 19:29

Lieber Sam,

zweifelsohne eine packende Geschichte, spannend geschrieben, sehr gute Idee mit den verschwindenden Büchern, die mich gleich in den Bann deiner Geschichte gezogen hat.

Aber … mich hat der Schluss deiner Geschichte gewissermaßen enttäuscht, lächel.

Die Bibel … das „Buch der Bücher?“ Na jaaaa …

Fragen stellen sich mir … Unstimmigkeiten … (vermutlich aber nur durch meine Lesart)?

Musste er sterben, weil er die Bibel „vergessen“ hat? -> Strafe Gottes? Wobei ja die Bibel von Menschen geschrieben wurde …
Oder auch einfach nur die Botschaft: Wir sind in Gottes Hand?

Und – wenn er es vergessen hat, warum gibt er dann seinem Sohn Anweisung aus genau diesem Buch bei seiner Beerdigung vorzulesen?

Sodann – woher wusste der Vater so genau, dass nach dem Somerset nur noch genau ein Buch fehlte, wenn er es doch vergessen hat?

Oder hat er gar nicht vergessen … aber wo ist dann der Sinn der verschwindenden Bücher, der Sinn deines Textes?

Dennoch … oder gerade auch deshalb! hab ich deine Geschichte gern gelesen … ihr nachgespürt und darüber nachgedacht!
(Und ich spüre immer noch nach, bspw. der Auswahl der Schriftsteller/innen, die erwähnt sind!)

Die Küchenszene ist mir übrigens auch nicht unstimmig erschienen, ganz im Gegenteil, auch mich hätte es befremdet, hätten sie sich im Wohnzimmer/ der Bibliothek, in offiziellerem Rahmen, zusammengesetzt.

Herzlich
diana
tu etwas mond an das, was du schreibst. (jules renard)

https://versspruenge.wordpress.com/


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