Wohnungssuche

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 13.09.2012, 23:44

Wohnungssuche (neue Fassung)


Es war kurz nach halb zehn, und ich sollte den Makler um zehn Uhr vor dem Haus treffen. Ich war mit dem Zug angekommen, vom Bahnhof aus eine halbe Stunde mit dem Bus weitergefahren und hastete die Fußgängerzone hinauf, den Stadtplan in der Hand. Bis hierher war der Tag ein Reinfall. Um acht Uhr die erste Wohnungsbesichtigung, vorgeblich ein Souterrain, in Wirklichkeit ein niedriger Keller mit offen liegenden Wasserleitungen, die beständig rauschten. Um halb neun ein möbliertes Zimmer mit Familienanschluss; die Hausfrau öffnete mir die Tür, während der Ehemann im Unterhemd, Zigarettenstummel im Mundwinkel, an der Spüle stand und etwas schrubbte. Für die dritte Besichtigung musste ich noch einmal quer durch die Stadt. Ich war verschwitzt und mutlos.

In der Fußgängerzone fing der Vormittagsbetrieb an: Sonnenschirme wurden aufgespannt und Sitzkissen auf Klappstühle verteilt. Meine eigenen Gartenmöbel zu Hause musste ich auch noch verkaufen, fiel mir ein. Verdammter Umzug. Am liebsten hätte ich mich irgendwo hingesetzt und einen Kaffee bestellt. Statt dessen sollte ich dem Makler gegenübertreten, sicher ein geschniegeltes Ekelpaket, und einen möglichst guten Eindruck machen.

An der Straßenkreuzung, wo ich laut Stadtplan links abbiegen musste, war ein Bücherstand aufgebaut. Die Bücher waren genau von der Art, wie ich sie am liebsten mag: Leinenrücken, denen der Schutzumschlag abhanden gekommen war, mit schwer leserlicher Goldprägung; das Papier am Schnitt vergilbt. Ich ging langsamer und schaute in die Seitenstraße links. Lauf weiter, sagte ich mir, die Wohnung ist wichtiger, du kannst die Bücher nachher noch ansehen; und dann: was solls, du bist so gut wie am Ziel, die paar Minuten hast du noch, und mit der Wohnung wird es sowieso nichts. Ich setzte meine Tasche ab und begann zu blättern. Romane von vergessenen Autoren, manche sogar in Fraktur gedruckt und mit verblichenen Widmungen auf dem Vorsatzblatt. Ich nahm ein Buch nach dem anderen in die Hand, schaute nach den Preisen (zwei bis fünf Euro) und las hier und da eine Zeile. Nach wenigen Minuten wurden meine Knie weich und meine Kehle eng: Die Zeit rückte unerbittlich vor; ich musste zum Haus und den Makler treffen; ein interessantes Buch hatte ich nicht gefunden, aber so viele Bücher in der Hand gehabt und wieder hingelegt, dass ich es nicht über mich brachte, einfach wegzugehen.

Es war unsinnig, jetzt ein Buch zu kaufen, wo ich demnächst umziehen musste und ohnehin viel zuviel Kram besaß, der mir im Weg sein würde. Zwei Minuten vor zehn, der Makler wartete sicher schon, und ich sollte seriös und zuverlässig erscheinen. Der Besitzer des Bücherstands sah mich grimmig an. Hastig legte ich ihm einen Zehner hin, nahm meine Tasche und lief mit dem Buch, das ich gerade in der Hand hatte, davon, ohne auf Wechselgeld zu warten.

Das würde mir kein Glück bringen.

Ich musste nicht lange nach dem richtigen Haus suchen: Es standen bereits vier Leute davor, und als ich etwas außer Atem herankam, näherten sich noch zwei andere aus der Gegenrichtung. Misstrauisch beäugten wir einander, Konkurrenten um eine begehrte Beute: bezahlbarer Wohnraum im Zentrum einer Großstadt. Ich schaffte es gerade noch, das Buch in meine Tasche zu packen und meine Frisur etwas zurechtzustreichen, da tauchte hinter meinem Rücken der Makler auf und schüttelte jedem die Hand. Er war sehr jung, sah aus wie ein Pennäler in Nadelstreifen, hatte schwarze, perfekt geschnittene Haare und das Auftreten eines Menschen, der selbstbewusst wirken möchte, sich in seinen Erfolgen aber noch nicht ganz zu Hause fühlt.

Das Haus wurde aufgeschlossen, und wir kletterten fünf Treppen hinauf. Die Wohnung lag im Dachgeschoss. Auf dem obersten Flur führte eine schmale Bodentür zu einer sehr engen Spindeltreppe, über die man direkt in das leuchtend weiß gestrichene Wohnzimmer gelangte. In den USA hätte man es vielleicht ein Penthouse genannt, hier war es einfach ein ausgebauter Speicher. Ich wusste sofort, dass auch diese Wohnung für mich nicht in Frage kam; meine schweren Möbel konnte ich nicht über diese Spindeltreppe hinaufschaffen. Es war völlig sinnlos gewesen, herzukommen. Ein bohrender Missmut über die lange Zugfahrt und den vergeudeten Tag machte sich in mir breit, und während die anderen Interessenten sich im Wohnzimmer verteilten und die beiden Dachfenster bestaunten, bemerkte ich laut, ohne jemand Bestimmten anzusprechen: „Hier wird wohl alles vermietet, was vier Wände hat?“ Der Makler warf mir einen verstörten Blick zu, so dass ich mich sofort schämte; es war ja nicht seine Schuld. Um meiner Bemerkung etwas die Schärfe zu nehmen, begann ich Interesse zu heucheln und betrachtete meinerseits die Dachfenster, die groß genug waren, dass man über eine kurze Leiter aufs Dach hätte hinaussteigen können. Die Gruppe wanderte inzwischen weiter durch das Bad ins Schlafzimmer und kam gleich darauf wieder zurück.

Der Makler führte die Küchenzeile vor, die edle weiße Kunststoff-Fronten hatte. Ich ging weiter in den Schlafraum. An zwei Seiten waren niedrige Einbauschränke; man hatte dazu einfach Schranktüren in die Dachschrägen gesetzt. Ich öffnete eine davon. Der Dachwinkel dahinter zog sich in dunkle Tiefen hinab, es schien Gerümpel darin zu liegen. Ich konnte nicht anders, ich musste hineinkriechen und untersuchen, was es dort gab. So bin ich schon immer gewesen. Ich durchsuche Flohmärkte und die Dachböden meiner Bekannten und rette altes Zeug, ehe es zum Müll wandert; ich betreibe so etwas wie einen Gnadenhof für Krempel. Wieder wurde meine Kehle eng: Verdammter Umzug.

Ich fand einen Stapel zerfledderte Polsterkissen; die Art Kissen, die man auf Liegestühle legt. Dahinter steckte ein ganzer Stoß gerahmter Bilder – er sah vielversprechend aus, aber das Licht war zu schlecht. Ich kroch rückwärts, zerrte den Stapel mit, und plötzlich wurde mir bewusst, dass es in der Wohnung ganz still geworden war. Ich krabbelte aus dem Schrank, richtete mich auf und klopfte die staubigen Knie ab. Unter mir, irgendwo im Treppenhaus, knallte eine Tür. Die anderen waren gegangen, mitsamt dem Makler. Ich war allein in der Wohnung. Ich rannte ins Wohnzimmer und die Spindeltreppe hinunter. Die Bodentür zum Treppenabsatz war abgeschlossen.

Wieder hinauf. Die Dachfenster hatte der Makler natürlich zugemacht. Ich klappte eines auf und versuchte einen Klimmzug am Fensterrahmen, um aufs Dach hinauszugelangen. Wenn ich schnell war, konnte ich mich noch zur Straße hinunter bemerkbar machen, ehe der Makler außer Hörweite war. Meine Zuversicht war ungebrochen; es würde alles klappen, gleich würde er wieder hinaufkommen, mich hinauslassen, wir würden lachen über das Missgeschick, und er hatte ganz bestimmt ein nettes Lachen über dem schicken Anzug und unter dem schön geschnittenen schwarzen Haar. Vielleicht hatte er Zeit für einen Kaffee; ich würde ihn einladen, ihm das neu gekaufte Buch zeigen und ihm erzählen, was für ein Schwachkopf ich war. Die Wohnung kam zwar nicht für mich in Frage, aber ein Kaffee wäre nett. Ich schaffte es, mich soweit aus dem Fenster zu stemmen, dass ich bäuchlings auf dem Dach zu liegen kam. Es war unverschämt hoch, geradezu unglaublich hoch. Die Straße war ein winziger heller Streifen in der Tiefe einer Schlucht. Ich piepste „hallo“, aber nur der Form halber. Der Makler und der Schwarm von Wohnungsinteressenten waren längst über alle Berge. Die Straßenschlucht lag verlassen.

Mein Handy – ich rutschte ins Wohnzimmer zurück und durchsuchte meine Tasche. Das Handy steckte in einem Seitenfach. Das Display war schwarz. Akku entladen. Das war nichts Neues. Da ich das Handy nur selten benutze, achte ich meistens nicht darauf, es rechtzeitig aufzuladen. Im Wohnzimmer gab es einen Telefonanschluss, aber natürlich kein Telefon.

Ich kletterte wieder die Spindeltreppe hinunter – diese verdammte Treppe, man bekam einen Drehwurm dabei – und wummerte mit den Fäusten gegen die Tür. „Hallo! Hallo!“ Nichts rührte sich. Das Obergeschoss stand leer, oder es war niemand zu Hause.

Ein paar Minuten lang suchte ich nach einem Ausweg. Das Badezimmer hatte ein winziges Milchglasfenster in einer Gaube. Das Fenster im Schlafzimmer war größer, aber vergittert. Ich saß fest in dieser Wohnung, die etwas von einem Mastkorb hatte. Leere weiße Wände strahlten mich an. Selbst bei geschlossenen Fenstern hörte ich die Schreie der Mauersegler. Wenn ich ganz still stand, meinte ich die ganze Behausung im Wind schwanken zu fühlen.

Mein Blick fiel auf die offene Schranktür. Da lagen die Bilder.

Ich zog den Stapel aus dem Schrank. Das oberste Bild war so eingestaubt, dass ich es mit spitzen Fingern weglegte. Darunter lag eine sehr dunkle Reproduktion von Rembrandts Mann mit dem Goldhelm. Zwei leere Rahmen folgten, beide etwas aus dem Leim gegangen. Ganz unten im Stapel lag ein großes Porträt. Es reichte mir fast bis zur Hüfte. Ich lehnte es an die Wand, um es mit Abstand betrachten zu können. Die dargestellte alte Frau füllte den Rahmen fast ganz aus. Sie saß sehr aufrecht auf einem einfachen Stuhl und blickte mich streng an. Das Bild hatte einen breiten Goldrahmen und nahm sich vor der weißen Wand gut aus.

Ich überlegte ein paar Minuten, ob die Alte und ich Freundinnen werden könnten; ich setzte mich sogar ihr gegenüber auf den Boden und fragte: „Was meinen Sie? Was soll ich tun?“ Aber ihre Miene wurde nur noch abweisender. Wahrscheinlich war sie der Meinung, ich hätte mich gar nicht erst in diese Lage bringen dürfen. „Es ist nun mal passiert!“, rechtfertigte ich mich. „Es tut mir ja leid, aber das hilft doch jetzt nichts mehr! Was soll ich machen?“ Sie hielt die Hände ineinandergelegt. Die Hände waren recht groß, gerötet und verkrümmt, als seien sie ans Zugreifen gewöhnt. Jetzt umfassten sie einander und hielten still.


**


… Man erzählte sich, dass die alte Eva einen zweiten Frühling erlebte und mit einem der Schnitter hinter den Strohmieten Zusammenkünfte hielt. Ihr Mann konnte sie nicht daran hindern, da er seit dem April mit Reißen in allen Gliedern darniederlag. Im Herbst starb er, und sofort liefen Gerüchte um, die alte Eva hätte ihn so vernachlässigt, dass er elend verhungert sei. Das Gerede kam der Gutsherrin zu Ohren, und sie machte sich auf den Weg zur alten Eva. Groß und herrisch stand sie in ihrem Kutschermantel in der Tür, und der weiße Haarschopf streifte beinahe den Türrahmen. „Was höre ich da, Eva? Du hast deinen Mann verhungern lassen?“
Die alte Eva brach sofort in Tränen aus. „Das erzählen sie, die Leute, ja! Aber es ist nicht wahr! Ich konnte nicht so nach ihm sehen, wie ich sollte, ich musste doch hinaus zur Arbeit. Aber ich habe immer für Essen gesorgt. Er hat alle Tage sein Brot und seinen Kornkaffee gekriegt!“
„Brot und Kaffee? Gute Frau, wie soll denn ein Kranker damit zu Kräften kommen, wie soll er überleben mit nichts als Brot und Kaffee?“
„Ich hatte keine Zeit zu kochen“, schluchzte die alte Eva, „ich musste doch auf den Acker und konnte keine Krankenkost zubereiten. Aber in meiner Jugend hatten wir auch oft wochenlang nur Brot und Kaffee! Keiner ist verhungert! Und wir haben schwer gearbeitet!“
Das machte die Gutsherrin nachdenklich. Ja, es stimmte, in früheren Zeiten hatten die Menschen mit nichts anderem als Brot und Kaffee schwere Arbeitstage überstanden und sich dabei wohl befunden. Wie kam es, dass diese einfache Nahrung heute nicht mehr hinreichte, um Leib und Seele zusammenzuhalten? Und sie fasste den Verdacht, dass es an der modernen Arbeitsweise liegen könne. Man machte fast nichts mehr mit eigenen Händen, es liefen Maschinen über die Äcker, niemand griff in die Krume. Vielleicht hatte das Korn seine Seele verloren und war nicht mehr so nahrhaft wie früher. Die Gutsherrin gab Anweisung, einen Teil ihrer Äcker wieder wie früher zu bewirtschaften, und stellte eigens dafür einige Arbeiter ab, solche vom alten Schlag, die sich nie ganz an die Sä- und Erntemaschinen gewöhnt hatten. Sie sollten die Saat wieder mit bloßen Händen ausstreuen und, wenn das Korn stand, wie früher mit Sense und Sichel mähen. Dann würde man sehen, welche Frucht nahrhafter war für Mensch und Vieh.


Ein Schatten fiel über das Buch – so erschien es mir. Als wäre jemand am Fenster vorbeigegangen. Was ausgeschlossen war in dieser Höhe.

Ich hatte ungefähr zwei Stunden gelesen. Der Roman war aus dem Schwedischen übersetzt und spielte irgendwann um die vorletzte Jahrhundertwende. Schnee und Dunkelheit im Winter, singende Erde im Sommer. Inzwischen war auch in der Wohnung die Sonne weiter gewandert; das Gitter vor dem Schlafzimmerfenster malte dunkle Linien an die weiße Wand. Draußen tönten Vogelschreie; das war sicher die ganze Zeit so gewesen, doch das Geräusch war am Rand meines Bewusstseins entlang gekrochen wie eine ferne Erinnerung. Jetzt klang es schriller denn je. Die alte Frau auf dem Bild musterte mich streng. „Und?“, fragte ich sie. „War das Experiment erfolgreich? Und haben Sie auch daran gedacht, sich bei Vollmond aufs Feld zu stellen und Kräutertee linksherum in die Furchen zu schütten?“ Sie antwortete nicht. Wahrscheinlich hielt sie es für unter ihrer Würde, einem überfütterten Menschen unserer Zeit Rechenschaft abzulegen. Wer das Brot beim Bäcker holte und nie im Leben Kornkaffee getrunken hatte, der hatte vermutlich kein Recht, solche Fragen zu stellen.

„Ich hätte nichts gegen einen Kaffee jetzt“, sagte ich, stand auf und ging ein wenig hin und her, weil meine Knie steif geworden waren. „Gucken Sie mich nicht so abfällig an. Ich bin keine Gutsherrin wie Sie. Ich kann nicht mal mein Haus behalten. Deshalb bin ich ja hier.“ Dann fiel mir eine andere Szene aus dem Buch ein – wie die Gutsherrin am Weihnachtsabend in den Stall gegangen war, um den Kühen und Ziegen für ihre Dienste zu danken. „Wäre vielleicht nett gewesen, in Ihrer Zeit zu leben“, sagte ich. „Kein Fernsehen, keine Banken, keine Scheidungen. Aber das kann sich niemand aussuchen. Wenn Sie mir also keinen Rat geben wollen, werde ich Sie aus dem Fenster werfen müssen. Ich weiß jedenfalls nicht, wie ich mich sonst bemerkbar machen könnte. Schließlich will ich hier nicht die Nacht verbringen.“ Wieder wanderte ein Schatten durch das Zimmer, so rasch wie ein Vogelflug. Ich drehte mich rasch zum Fenster um – vielleicht eine Taube? Als meine Augen zu dem Bild zurückkehrten, schien die Alte ihre Haltung verändert zu haben: Sie lehnte sich rückwärts an die Stuhllehne, und ihre Hände lagen ganz entspannt aufeinander. Sogar ihr Blick war weniger kritisch.

„Die Idee scheint Ihren Gefallen zu finden“, sagte ich. „Dann fange ich jetzt mit diesen beiden Rahmen hier an, die sind sowieso kaputt. Ich verspreche jedenfalls, dass Sie die Letzte sind, die an die Reihe kommt.“ Ich trug die Bilderrahmen nach nebenan und nahm auch den Stapel Polsterkissen mit, weil ich etwas zum Draufsteigen brauchte. Es gelang mir, mitsamt den Rahmen aufs Dach hinauszuklettern. Ich wagte mich nicht bis an den Rand vor, sondern blieb in kniender Stellung auf dem Fensterrahmen; aber ich schaffte es wahrhaftig, die beiden Rahmen über den Rand des Dachs hinauszuwerfen. Sie fielen in den Vorgarten und brachen auseinander; ich hörte den Aufprall.

Jedenfalls hatte ich keinen Menschen getroffen und keinen Schaden angerichtet. Aber es geschah auch sonst nichts. Der Mann mit dem Goldhelm schien eine wertlose Kopie zu sein. Ich beförderte ihn ebenfalls aus dem Fenster. Das eingestaubte Bild hinterher zu schicken, wagte ich nicht. Es war vermutlich ein Stilleben, jedenfalls erkannte ich Blumen, Früchte und einen Auerhahn oder Fasan, der auf dem Rücken lag. Vielleicht war es wertvoll.

Als letztes blieb mein Buch. Ich ging kurz mit mir zu Rate – und warf es hinaus. „He!“, schrie unten jemand. Ich beugte mich soweit wie möglich vor. „Bitte! Ich bin hier eingesperrt! Rufen Sie den Makler an!“ Unmöglich konnte das jemand gehört haben. Meine Stimme verlor sich im Wind und verflog über dem Hausdach. Ich sah Buchseiten davonflattern.

„Da haben wir’s“, sagte ich zu meiner Freundin und setzte mich wieder ihr gegenüber auf den Boden. „Nichts mehr zu lesen und nichts zu essen, nicht einmal Brot und Kornkaffee. Keine Unterhaltung mehr als wir beide.“ Sie lächelte breit. Ihre Arme hingen entspannt an ihren Seiten herunter. „Ein falsches Wort, und Sie fliegen auch hinaus“, drohte ich. Es war nicht ernst gemeint. Ich hätte niemals gewagt, sie durchs Fenster zu werfen. Gleichzeitig war ich sicher, dass dann jedenfalls jemand kommen würde. Die leeren Rahmen, der Mann mit dem Helm, das Buch – alles schien sinnlos davongeflattert zu sein. Aber wenn die Alte in den Vorgarten krachte, das bliebe bestimmt nicht unbemerkt.

Ich sparte mir die Gutsherrin als letzte verzweifelte Maßnahme auf, setzte mich wieder ihr gegenüber auf den Boden und wartete. Sie lächelte die ganze Zeit. Ein paarmal noch flog der Schatten am Fenster vorbei, aber ich blieb stur sitzen und schaute auf das Bild, bis mir fast die Augen zufielen.

Es kann nicht sehr lange gedauert haben, vielleicht eine halbe Stunde. Dann hörte ich die Bodentür klicken und schreckte hoch. Meine Füße waren eingeschlafen. Bis ich mich aufgerappelt hatte, stand der Makler schon in der Tür zum Wohnzimmer und blinzelte mich an.

„O Gott, habe ich Sie eingesperrt? Das tut mir sehr leid … ich bin angerufen worden, jemand sei hier in der Wohnung …“ Unsicher trat er von einem Fuß auf den anderen. Er hatte jetzt Jeans an, und sein Haar war struppig. An einer Schläfe klebte ein Streifen Mehl.

„Ich habe Sie wohl beim Backen gestört“, sagte ich.

„Ja, Kirschkuchen …“ Er lachte verlegen. „Wie ich sehe, haben Sie Gesellschaft …“ Er nickte zu dem Bild hin. „Das ist nur Trödel, sollte längst zum Sperrmüll. Wollen Sie die Wohnung haben?“

„O ja“, sagte ich, ohne zu überlegen. „Ja, ich nehme sie. Ich muss mir wohl ein paar neue Möbel kaufen, die ich diese Treppe hinauftragen kann, aber die Wohnung gefällt mir.“ Vielleicht tat es ja auch einfach eine Matratze auf dem Fußboden. Ein Klapptisch, Klappstühle … Im Geist begann ich die Wohnung einzurichten. Die Alte auf dem Bild hatte wieder die Hände ineinandergelegt und ihre strenge Miene angenommen.

Der Makler wurde geschäftsmäßig und fing an, mir den Mietvertrag zu erklären. Ich durfte nicht untervermieten und musste zweimal jährlich dem Schornsteinfeger die Tür öffnen, weil der einzige Zugang zum Dach durch die Wohnung führte. Hunde waren unerwünscht, aber eine Katze erlaubt. Während er sprach, wischte er sich das Mehl aus dem Gesicht und brachte seine Haare in Fasson, bis er fast wieder so edel aussah wie am Vormittag. Die Verwandlung war erstaunlich. Und, setzte er mit höflichem Lachen hinzu – vermutlich hielt er mich für hoffnungslos schrullig –, das Porträt durfte ich gern behalten, wenn ich wollte.

„Und Kaffee möchte ich“, sagte ich. „Trinken Sie einen Kaffee mit mir?“, ohne zu wissen, ob ich den Makler meinte oder die alte Frau. Er nahm an, immer noch lachend. Wahrscheinlich zweifelte er an meinem Verstand, aber das war ein guter Anfang.


© Anna Rinn-Schad



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Zuletzt geändert von Zefira am 04.10.2012, 09:27, insgesamt 2-mal geändert.
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Gerda

Beitragvon Gerda » 14.09.2012, 03:40

Liebe Zefira,

ich habe deine Geschichte sehr gern gelesen. Sie hat eine gewisse Spannung, die sie nicht allein durch, die Situation des Eingesperrtseins erhält sondern auch durch das "Verhältnis" Makler ./. Protagonistin sowie durch die Anspielungen der Geschichte in der Geschichte.
Dass ich diese Geschichte in einem Rutsch gelesen habe, ist ein Zeichen dafür, dass sie rund ist. Die Szenen sind lebensecht und lebendig geschrieben und da ich mir überdies auch den Ort des Geschehens sehr gut vorzustellen vermag, zum Teil weil ich ungefähr weiß welche Häuser Pate gestanden haben könnten, zum anderen Teil weil du alles anschaulich beschrieben hast, denke ich, Erbsen, so überhaupt vorhanden, sollen andere finden. ;-)

Liebe Grüße
Gerda

pjesma

Beitragvon pjesma » 16.09.2012, 09:25

habe es sehr gerne gelesen, zefira...und hoffe sogar auf weiter! (möglich wäre es, es bietet sich fast an---einzug, einrichten und weitere diskussionen mit der lady ;-)
lg, pjesma

Nifl
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Beitragvon Nifl » 16.09.2012, 11:36

Hallo Zefi,

kann mich leider den positiven Kommentaren nicht anschließen. Mir ist der Text zu langatmig. Und trotz dieser Langatmigkeit bekomme ich kein Gefühl für die Protagonistin und für die Situation. "Die" Zefi-Geschichten, die ich so mag, verkaufen mir Verrücktheit als Normalität, verschränken meinen Blick in verschiedene Ebenen, ohne vordergründig den Boden zu verlassen.
Ich kann nur vermuten, warum das hier nicht funktioniert. Vielleicht, weil du unglaublich viel erklärst. Fast jede Handlung wird erklärend reflektiert. Das wirkt auf mich, als trautest und glaubtest du selbst deinen Figuren nicht (und dem Leser) und so bekommt der Text einen künstlichen und konstruierten Anstrich.
-Dann dieses bewegte Bild (schnarch seit spätestens HP, aber auch schon vorher) .
-Dann die aufgesetzt wirkende Verrücktheit
-Dann dieser schmierige Makler... da sträuben sich mir alle Nackenhaare, wer will mit dem
-Dann überhaupt diese Schmalspur-Lovestory Einsprenkelung
-Dann dieser laute Klassikkonflikt, der alles Leise übertönt
-Dann dieser Bucheinschub, den ich nicht recht verstehe (vielleicht ist das sogar meine Haupt-Krux). Ist die Porträtierte die Gräfin? Soll die Protagonistin zurück zu den menschlichen Wurzeln über all dem entrückenden Stress? Tut sie das, indem sie ihre Erbstücke verrät mit dieser Wohnung und mit Johnny Gel ...?

Ne, nicht mein Text.

LG
Nifl
"Das bin ich. Ich bin Polygonum Polymorphum" (Wolfgang Oehme)

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 16.09.2012, 11:51

Hallo Zefira, ich habe den Text bisher nur überflogen, was sicher nur zur Hälfte an ihm lag. Ich fürchte aber, Nifl hat recht mit der Kritik an den Erklärungen: Ich bin gleich kleben geblieben an der Klammer es war schönes Frühsommerwetter. Wenn Sonnenschirme aufgespannt werden, dann denkt der Leser nicht an Weihnachten, sondern an Sommer - egal ob Früh-, Hoch- oder Spät-.
Mir geht es auch so, dass mir manche Stellen zu langatmig oder fast umständlich erscheinen, z. B.

Es war nicht mehr als eine alte Holzkiste mit einer Markise darüber, aber die Kiste [...]

Ich finde den Einstieg mit dem Bücherkauf auch zu ausführlich, z. B. die Nennung der Preise oder die Erinnerung an den Ex.

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 16.09.2012, 12:17

Liebe alle,
danke für die Rückmeldungen! Der Text scheint unfertiger zu sein, als ich dachte - einmal ist es wohl richtig, dass er zu ausführlich ist, an anderen Stellen scheint er wieder zu wenig ausführlich zu sein, sonst würden einige der Fragen bzw. Kritiken (ich halte zum Beispiel den Ex für wichtig) nicht auftauchen.
Vielleicht ist jemand so nett und schiebt den Faden in die Schreibwerkstatt, ich muss erst mal darüber nachdenken.
In einem Punkt möchte ich aber Nifl widersprechen, nämlich was das bewegte Bild betrifft. Ich habe dieses Motiv zum ersten Mal in einer Geistergeschichte von M.R.James gefunden, es gibt auch eine ältere Geschichte von mir mit diesem Thema ("Barbara und ihr Mieter", ist auch in mehreren Foren erschienen, lange bevor ich je was von HP gehört hatte). Für mich gibt es keine von einzelnen Autoren "gepachteten" Motive. Alles war schon mal da, sogar Ringe der Macht gab es schon lange vor J.R.R. - wenn Nifl es so sieht, kann ich natürlich damit leben (muss ich ja), aber ich seh es nicht so.
Nifl, was bitte meinst Du mit der Schmalspur-Lovestory und was mit dem Klassikkonflikt?
Es kann ein paar Tage dauern, bis ich wieder an den Text gehen kann, ich bin nächste Woche unterwegs. Danke nochmals allen (und bitte verschieben) ...

Grüße von Zefira
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Sam

Beitragvon Sam » 16.09.2012, 12:57

Hallo Zefi,

für mich ist die Sache mit dem Bild das interessanteste an dem ganzen Text. Ich hatte beim Lesen irgendwie gehofft, die Erzählerin würde die ganze Nacht mir ihrer gemalten Freundin verbringen, weil ich gespannt darauf war, wie sich das noch entwickelt. (Z.B. der Konflikt, wenn die Erzählerin wirklich daranginge dieses Bild auch aus dem Fenster zu werfen) Gerade das Unaufgelöste der Frage, ob das Bild sich nun wirklich bewegt oder alles nur in der Einbildung der Erzählerin geschieht, kann eine ziemliche Spannung erzeugen.

Da ich in dieser Hinsicht aber enttäuscht wurde (was nicht deine, sondern meine Schuld ist) und das Potential dieses Aspekts deiner Geschichte als nicht annähernd ausgeschöpft empfinde, ist bei mir keine wirkliche Begeisterung für den gesamten Text vorhanden. Was ihm gegenüber natürlich sehr unfair ist.

Gut gefällt mir aber auch der Einschub aus dem Buch. Ich liebe soetwas.


Gruß

Sam

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 16.09.2012, 13:39

Danke auch Dir, Sam.
Der Text ist wirklich unfertig, merke ich mehr und mehr.
Ich melde mich wieder, wenn die Kritiken etwas gesackt sind und ich wieder dran arbeiten kann.
Zum Einschub: Ich habe diese Anekdote vor ca. 30 Jahren in einem Roman von Clara Nordström gelesen. Das Buch liegt mir leider nicht mehr vor, deshalb kann ich nicht genau zitieren und habe womöglich auch einiges verfälscht.

Grüße von Zefira
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Nifl
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Beitragvon Nifl » 16.09.2012, 14:11

Hallo.

In einem Punkt möchte ich aber Nifl widersprechen, nämlich was das bewegte Bild betrifft. Ich habe dieses Motiv zum ersten Mal in einer Geistergeschichte von M.R.James gefunden, es gibt auch eine ältere Geschichte von mir mit diesem Thema ("Barbara und ihr Mieter", ist auch in mehreren Foren erschienen, lange bevor ich je was von HP gehört hatte).

du, deshalb schrieb ich ja auch :
(schnarch seit spätestens HP, aber auch schon vorher) .

Und natürlich ist es deshalb nicht verboten. Es ist wie das Herz in der Dichtung, um nicht wiederzukäuen und ein neues originelles "Bild" zu erschaffen, muss man sich mE. ordentlich strecken.
Sam hat eine Möglichkeit schön angemerkt.

Nifl, was bitte meinst Du mit der Schmalspur-Lovestory

Dieser Beziehungsaspekt ist für mich hier reines, entwicklungsfreies Tell und nicht nur überflüssig sonder schädlich, weil es die Geschichte in sehr seichte Gewässer führt. Noch dazu diese ständigen "Ex-Anklänge" ... hm, vielleicht ein Frauentext.

was mit dem Klassikkonflikt?

Die vordergründige Topologie deiner Erzählung ist klassisch, also ein "ordentlicher" Konflikt (Eingesperrtsein), kämpfender Heldenprotag und Happyauflösung...

Gruß
Nifl
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Beitragvon Zefira » 04.10.2012, 00:49

Liebe alle,
ich habe eine Neufassung gepostet.
Danke allen für die Kommentare. Es ist tatsächlich so, dass mir erst durch die Lesermeinungen klar wurde, was ich eigentlich erzählen wollte.


Grüße von Zefira
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Renée Lomris

Beitragvon Renée Lomris » 04.10.2012, 08:59

Liebe

Deinen Text habe ich sehr gerne gelesen. Er enthält auf subtile Art eine Skizze unserer Wohnsehnsüchte, mokiert sich ein wenig darüber, lässt Raum für Kritik und Milde. Besonders schön fand ich das Antiklischee des Maklers. ... Hoch erfreut bis bald
LG
Renée

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 14.03.2013, 10:50

Hallo Zefira,

Eben habe ich deine Geschichte gelesen: wunderbar!

Ich will dir verraten, dass ich durch sehr aufmerksame Lektüre mir erhoffe, besser schreiben zu können.

Bei diesem Stück ist dir gelungen, sogar die Veränderungen der porträtierten Frau glaubwürdig zu machen.

Ich brauche ja nicht jeden Satz, jede Wendung zu kommentieren: es macht mir einfach Spaß, deine Geschichten zu lesen!


LG


Carlos

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 14.03.2013, 11:40

Hallo Carlos (und natürlich Renée),
vielen Dank für euer Lob! Ich habe die Geschichte letzte Woche bei einer öffentlichen Lesung vortragen dürfen. Damit es mit dem Binnentext keine Irritation gibt, hatte ich ein richtig altes Buch aus meiner geerbten Sammlung mitgenommen und so getan, als ob ich die Gutsherrin-Geschichte aus diesem vorlese.
@ Klimperer: Du bist ja gerade sehr fleißig im Hervorholen alter Texte. Danke dafür!

Grüße von Zefira
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