Wie wahr ist Erinnerung?

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 14.08.2012, 23:47

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Ich erinnere mich, wie ich seinerzeit im Türrahmen stand, verdammt jung.
Ich glaube, wenn ich an das Gefühl der Sechzehnjährigen zurückdenke, dass sie sich furchtbar abgeklärt vorkam, als sie von dort dem Jungen, mit dem sie ging, zusah, wie er ihre beste Freundin abschmuste. Das kann aber unmöglich sein!
Mein Kleid, das weiß ich noch ganz genau: Tannengrüner Chiffon, bedruckt mit gelben Blumensträußchen. Ich hatte es selbst genäht, im Handarbeitsunterricht, die Ärmel der Länge nach aufgeschnitten, die Ränder rouliert, und dann mit kleinen Stichen in Abständen von zehn Zentimetern fixiert, sodass es Einblicke auf die Haut gab. Wie eine Prinzessin. Die nun betrogen wurde.
Das schmerzt jetzt. Sie war aber, meiner Erinnerung nach, erhaben.
Es folgten viele Jungs, das Spiel hatte damals erst seinen Anfang gehabt.

Rückblickend war doch alles herrlich ungestüm. Denke ich. Die wilde Zeit des Flowerpower, die war doch phänomenal! Fühle ich mich dorthin, ganz und gar, ehrlich, soweit das möglich ist nach der Ewigkeit, war es eigentlich scheußlich. Voller Unsicherheit, Ahnungslosigkeit; Ich schwamm in dieser Aufbruchsstimmung herum, einsam und ängstlich. Glaube ich heute. Oder war es doch anders? Ich sehe mich andererseits im „Flamingo“, der Disko, in die auch wir Jungen hineindurften, tanzen, lachen, flirten, es hat den Anschein, als gehörte mir die Welt, die Liebe.

Ich schmiede mir die Erinnerung zurecht. Das ist die Wahrheit.

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Wir schmieden uns die Erinnerung zurecht
Danke fürs Mitdenken an Zefi, Gerda, Amanita, Flora!
Zuletzt geändert von Elsa am 15.08.2012, 10:55, insgesamt 1-mal geändert.
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Zefira
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Beitragvon Zefira » 15.08.2012, 00:01

Liebe Elsa,
mich beschäftigt das Thema auch immer wieder und immer mehr, je älter ich werde. Es gibt die Theorie, dass wir uns in unseren Erinnerungen immer wieder selbst erfinden. Für mich muss ich das leider so bestätigen.
In der Rückschau bin ich sehr stark beeinflusst von Gefühlen, die ich jetzt und hier habe und auf mein damaliges Selbst anwende. Das hauptsächliche Gefühl ist Scham - sehr heftig und sehr schlimm, so dass ich manchmal gar nicht mehr darüber nachdenken möchte. Ich habe heute meine liebe Not, mit meinem damaligen Ich nachsichtig zu sein.
Damals habe ich nicht so empfunden. Ich hielt mich für ein wachsendes Etwas auf der Gewinnerstraße.

Das bringst Du genau auf den Punkt.
Ich weiß trotzdem nicht so recht, ob die resümierenden Schluss-Sätze nötig sind. Vielleicht sagt noch jemand anders was dazu.

Sehr bewegte Grüße,
Zefira
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Gerda

Beitragvon Gerda » 15.08.2012, 09:03

... und was ist, wenn ich spüre, dass ich empfinde wie ehemals und sich jemand mit mir erinnert? ... Nur mal so eingeworfen... ist ein bisschen OT ... Ich bin verleitet worden auszuholen.
Ich habe jganz real eine ziemlich einmalige Situation, dass sich zwei Menschen nach über vierzig Jahre finden, sich verabreden und wiederbegegnen und sich dann auch tatsächlich wiederfinden. Jeder hat ein paar Mosaiksteinchen parat, um das alte Bild als Grundlage für einen Neubeginn zusammenzusetzen.
Ich denke, dass Erinnern sehr speziell ist, von Mensch zu Mensch ganz unterschiedlich. Es hängt ganz stark davon ab, ob (falsche) Scham eine Rolle gespielt hat oder heute spielt. Siehe Zefiras Beitrag. Ferner wie jemand sein Leben als Erwachsener "Im Griff hat", ob er sich Schwäche eingesteht und auch dem Kind verzeihen kann. oder ob er nur "automatisch" lebt.
Bei mir ist es noch gar nicht lange her, vielleicht, 4, 5 Jahre, dass ich gelernt habe, mir zu verzeihen und mir einzugestehen, dass manches auch anders gewesen sein könnte, als ich mich erinnere. Ein weites Feld, siehe auch hier
viewtopic.php?f=38&t=13293
Es geht zwar vorrangig um die Erzählperspektive, aber eben auch um Erinnerungen.

Zum Text: Liebe Elsa,

mir ist der Schluss deiner Episodenschilderung zu absolut. Es handelt sich um eine Behauptung und die könnte genau so gut in einem wissenschaftlichen Aufsatz stehen, wo sie zu bewesien wäre.
Ich finde es hier nicht ganz passend, dieses in einem literarischen belletristischen Text zu lesen. :neutral:

Liebe Grüße
Gerda

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 15.08.2012, 09:20

Liebe Zefi, liebe Gerda,

Ihr meint diesen Satz: Wir schmieden uns die Erinnerung zurecht. Das ist die Wahrheit.

und dass er einfach nur gestrichen wird? Hm ... ihr habe recht, klar, aber dann müsste ich ein anderes Ende finden, nicht wahr?

Ansonsten freu ich mich, Zefi, dass ich nicht allein stehe mit dieser eigenartigen Erinnerungssache, danke für deine Gedanken.

Nun, Gerda, wahrscheinlich hilft es, dem Kind zu verzeihen, doch was? Es benahm sich der Situation gemäß, man kann froh sein, wenn so einem Kind nix Ärgeres zustößt, finde ich. Die Schamgefühle, nun, ich denke, die vergisst man nie.

Liebe Grüße
ELsa
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Amanita
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Beitragvon Amanita » 15.08.2012, 09:28

Könnte man nicht schließen "Wir schmieden immer an der Wahrheit" - oder so?


Ich selbst lasse sicher auch viel (Lästiges) weg und beschönige meinen Rückblick auf diese Weise ganz sicher, andererseits habe ich ein Gedächtnis wie ein Elefant und erinnere mich der schönen und doofen Vorkommnisse (und Stimmungen) so deutlich, als wäre es gestern gewesen. Die pubertäre Zerrissenheit ist mir noch genauso gegenwärtig, wie die "vernünftige" Zeit danach, die Depression, die dann folgte usw. Jedes einzelne Stadium mit seinem speziellen Charakter habe ich noch parat.

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 15.08.2012, 09:59

Danke Amanita!

Oder: Wir schnitzen uns die Wahrheit zurecht - das wäre eher meine Sprache.

Ist vielleicht aber auch noch zu behauptend? *grübel*
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Zefira
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Beitragvon Zefira » 15.08.2012, 10:03

Jetzt habe ich beim ersten flüchtigen Blick gelesen: "Wir schwitzen uns die Wahrheit zurecht."

Ich will Dir nicht zu dieser Version raten :mrgreen: , aber darüber nachdenken werde ich, das hat was.

Grüße von Zefira
ps. "Schnitzen" ist mir ein zu überlegter, absichtlicher Vorgang.
Ich würde wahrscheinlich - wäre es mein Text - den zweitletzten Satz stehen lassen und nur den letzten streichen. Aber bei einem so individuellen Vorgang muss jeder sein eigenes mot juste finden.
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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 15.08.2012, 10:14

Hallo Elsa,

nur ein kleiner Einwurf zum letzten Satz ... wenn du beim Ich bleiben würdest, würde es für mich gut aufgehen.

Ich schmiede mir die Erinnerung zurecht. Das ist die Wahrheit.

Schmieden passt für mich bildlich besser zum Text, als das Schnitzen. (Und das Schwitzen, :o) auch wenn das als Gedanke schon was hat.)

Liebe Grüße
Flora
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Elsa
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Beitragvon Elsa » 15.08.2012, 10:53

Hihi, liebe Zefi, naja, man schwitzt eh dabei :)

Liebe Flora, DAS nehme ich, ja. Mit Ich klappt das, vielen Dank!

Liebe Grüße
Elsa
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Beitragvon Mucki » 15.08.2012, 12:03

Liebe Elsie,

ja, mit diesem geänderten Schlusssatz finde ich das sehr gelungen.
Die Erinnerungen, ein weites Feld, oh ja. Und ich empfinde es auch so, dass ich heute oft mit zweifelnden Gedanken an meine Teenagerzeit denke, mir sage: das kann doch so gar nicht gewesen sein, nie im Leben! Da gibt es einige Situationen, deren Wahrheit, an die ich mich fest zu erinnern glaube, ich heute gerne in Frage stellen will, sie mir schönreden möchte. Und dann kommt da so ein Teufelchen und sagt mir: du spinnst dir was zurecht oder aber: doch, genau so "bekloppt" hast du damals gehandelt, etc. etc. ,-)

Liebe Grüße
Gabi

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 15.08.2012, 12:31

Ist die Mehrdeutigkeit des Schlusses eigentlich Absicht?
Ich schmiede mir die Erinnerung zurecht und nenne das dann die Wahrheit.
Oder: Es ist wahr, dass ich mir die Erinnerung zurecht schmiede.

Grüße von Zefira
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Beitragvon Mucki » 15.08.2012, 12:34

Gerade die Mehrdeutigkeit im Schlusssatz finde ich gut.

Gerda

Beitragvon Gerda » 15.08.2012, 12:46

Elsa hat geschrieben:Nun, Gerda, wahrscheinlich hilft es, dem Kind zu verzeihen, doch was? Es benahm sich der Situation gemäß, man kann froh sein, wenn so einem Kind nix Ärgeres zustößt, finde ich. Die Schamgefühle, nun, ich denke, die vergisst man nie.


Liebe Elsa,

ich hatte geschrieben, dass es ein wenig OT sei. Also mein "Verzeihen" ist allgemeiner gemeint, nicht konkret auf deine Geschichte bezogen, sondern bezogen auf jene Fehler, die man als Kind gemacht hat und nun als Erwachsene im Nachhinein zu erkennen glaubt.
Ich halte es in der Tat in meiner Biographie für einen wesentlichen Schritt, dass ich mich als ein Kind mit "Fehlern" (Eigentlich sind es nur Schwächen gewesen), letztlich irgendwann annehmen konnte und nicht auf Dauer davon abgespaltet blieb.

Liebe Grüße
Gerda

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 21.08.2012, 08:23

Guten Morgen!

ja, die Mehrdeutigkeit ist Absicht.

@Gerda: Da bin ich ganz bei dir. Diese Schwächen/Fehler sind ja Bestandteil der Persönlichkeit. Ohne die wär's ja fad. :)

Liebe Grüße
Elsa
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