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Alle Jahre wieder

Verfasst: 25.12.2011, 10:19
von Jelena
Alle Jahre wieder

Was, wenn Weihnachten ihrer Mutter noch nie gelungen ist? Die Tochter hält die Regeln ein. Ein Anruf. Ein Rückruf. Ja, Mutter, ich weiß.

Die Mutter klagt über das Weihnachten, an dem sie nur einen Fetzen der Gänsebrust bekam. Die Betonung darauf, wie viel Arbeit sie immer damit hat, aber dann wird einfach nur mitgenommen ohne ein Dankschön, sie selbst zurückgelassen in einer Küche, in der das dreckige Geschirr längst in der Spülmaschine steht. Die Gäste hätten die Kerzen am Baum ohne sie angezündet. Wegen der Kinder hätten sie nicht länger warten wollen. Das wird sie ihnen nie verzeihen. Hauptsache die Kinder, die Kinder. Die Alte kann ja alles richten. Aber morgen wird sie das Fleisch, das an den Knochen zurückblieb, ablösen. Einer muss ja die Reste essen.

Später fängt es an zu schneien. Der Wetterbericht hat das nicht ausgeschlossen. Die Mutter beendet das Telefonat und hört die Kirchenglocken, die zur Mitternachtsmesse läuten, nicht. Stattdessen schaltet sie das Radio ab, mitten im Gnadenvoll. Sie nimmt den angebrochenen Rosé vom Fensterbrett und kippt sich ein Glas bis knapp unter den Rand voll. Der Bordeaux war gut angekommen und leer. Stellt das Glas auf den Couchtisch. Sammelt das Geschenkpapier vom Boden und streicht die größeren Stücke auf dem Esstisch glatt – die Tischdecke längst in der Wäsche. Wäre ihre Tochter hier, wäre sie auch keine Hilfe. Wahrscheinlich hätte sie alles zerknüllt. Lüften, sie sollte lüften. Sie öffnet die Balkontür. Das Glockengeläut wird lauter. Sie geht zurück in die Wohnung und holt die Zigaretten. Endlich in Ruhe rauchen. Zwischendurch bückt sie sich zum leeren Marmeladenglas, um nicht auf die Fliesen zu aschen. Sie bekommen auch ohne die Asche weiße Punkte. Schneeflocken. Wieder in der Wohnung schaltet sie den Fernseher ein und legt die Füße auf die gefaltete Decke am Sofaende.

Mutter, Mutter, denkt sie. Zum Glück musste ich mir das nicht mit ansehen.
Vielleicht vergisst ihre Mutter jedes Jahr, mit wem sie telefoniert? Vielleicht spricht sie nur zu sich selbst? Sie kann ihr Tochtersein nicht vergessen, wenn sie diese Worte hört. Nie wird sie das vergessen. Sie wird jedes Jahr neu daran erinnert. Egal, wo sie an Weihnachten gerade ist.

Kann man Weihnachten lernen? Sie fragt sich, ob sie es je gelernt hat. Nein, denkt sie, nein, Weihnachten lernen heißt leben und älter werden und eben deshalb ist es gut, wenn man alt wird. Jedes Jahr des Lebens auch eine neue Chance für Weihnachten.

Dieses Jahr hat sie Mitleid mit ihrer Mutter. Und mit ihren Kindern gefeiert, aber davon kann sie ihr nicht viel erzählen, weil sie selbst ja beides ist, eine Mutter und ein Kind, und weil eine Mutter zu ihren Kindern gehört. Was nächstes Jahr sein wird, das weiß sie noch nicht.

Verfasst: 25.12.2011, 11:55
von Amanita
Hallo Jelena! Frohe Weihnachten!

Bis Egal, wo sie an Weihnachten gerade ist gefällt mir Dein Text gut - dann bräuchte es für mich (vielleicht) noch einen Schlusssatz, mehr aber eigentlich nicht. Das Sinnieren über Weihnachten kommt bei mir im Kontext eher banal an und schwächt die ersten 2/3.

Noch eine Frage: dass das die Worte ihrer Mutter sind - worauf genau bezieht sich das?

Verfasst: 25.12.2011, 14:34
von Jelena
Amanita hat geschrieben:Hallo Jelena! Frohe Weihnachten!

Bis Egal, wo sie an Weihnachten gerade ist gefällt mir Dein Text gut - dann bräuchte es für mich (vielleicht) noch einen Schlusssatz, mehr aber eigentlich nicht. Das Sinnieren über Weihnachten kommt bei mir im Kontext eher banal an und schwächt die ersten 2/3.



Danke Amanita, dir auch frohe Weihnachten!

Stimmt, an der von dir genannten Stelle hätte der Text enden können. Der Rest ist erklärend, stimmt auch. Ich finde die Erklärungen insofern nicht banal - die Vokabel kann ich dem Textzusammenhang gar nicht einordnen -, dass sie einen Bogen zum Titel schlagen. Weihnachten verändert sich im Laufe des Lebens, alle Jahre wieder Weihnachten, alle Jahre wieder ein neuer Versuch, Weihnachten zu leben. Ebenso ist mir der Mutter-Tochter-Konflikt, gerade durch die erwähnte Doppelrolle, wichtig gewesen. Diese Umkehr von Situationen, die Fürsorge, die in beide Richtungen verlangt wird, die nicht mehr funktionieren kann, wenn der Wille dazu nicht aus beiden Richtungen fließt, wenn die Verbitterung in der Mutter-Tochter-Beziehung Einzug gehalten hat. Ich denke, der Gedanke dieses Textes ist, dass es immer wieder eine neue Herausforderunge ist, die eigenen Ansprüche zurückzustellen und einfach nur froh zu geben, ohne in ein Märthyrertum zu rutschen. Ich bin mir nicht sicher, ob der Text dieses auch entsprechend deinem Vorschlag gekürzt transportiert hätte. Vielleicht hätte er das ja. Ich dachte, er täte es nicht.

Noch eine Frage: dass das die Worte ihrer Mutter sind - worauf genau bezieht sich das?

Ja, das ist ungeschickt formuliert, jetzt merke ich es auch. Eigentlich ist der Genitiv das Gemeinte. Sie kann nicht vergessen, dass es ihre Mutter am Telefon ist, die so erzählt, und sie eben nur diese eine Mutter hat. Über das Jahr kann sie das auch verdrängen, an Weihnachten funktioniert das aber nicht. Das wollte ich ausdrücken, weniger bestimmt Worte.

Danke fürs Lesen, Jelena.

Verfasst: 27.12.2011, 15:41
von Nifl
Huhu Jelli,

mir gefällt der Text. Er ist schön schonungslos, will keinen Kitsch verkaufen, lässt den Menschen ihre Macken auch zu Weihnachten. Die Mutter ist ein tolles Original, verschroben ehrlich. Daran hat die Tochter zu knabbern, will sich nicht recht damit abfinden, eine Mutter zu haben, die gar nicht erst versucht das Bild einer Klischeeweihnacht zu improvisieren. Das setzt ein tolles Spannungsgefüge. Perspektivisch hüpfst du ziemlich und schreitest auf einem schmalen Grat, stört mich aber nicht.

Die letzen beiden Sätze würde ich streichen.

Später fängt es an, zu schneien. Es ist der erste Schnee des Jahres.

Ja, das denkt man immer, ist es aber ja nicht (höchstwahrscheinlich) ... (siehe Jan./Feb.)
(Komma trotz Infinitiv zu viel)

die zur Mitternachtsmesse rufen,

weiß nicht "rufen" ist mir zu verspielt ungenau, sie läuten doch eher

Stattdessen schaltet sie das Radio ab, mitten im Gnadenvoll.

klasse

Sie nimmt das Tetrapack Rotwein vom Fensterbrett und gießt sich ein Wasserglas bis knapp unter den Rand ein.

diese Stelle überzieht für mich die feine Zeichnung der Mutter, das ist mir zu "pennerhaft" und passt mE. nicht recht zu der Figur. Ich würde sie einen Whisky trinken lassen ... und sie könnte vielleicht mit einem imaginären Gegenüber anstoßen, aber mindestens gäbe ich ihr ein Weinglas (die falsche Form, also Rot- statt Weißwein oder umgekehrt) und eine Flasche mit Schraubverschluss. Und dann würde ich durchschimmern lassen, dass sie "aufatmet", es genießt wieder allein zu sein.

Das Glockengeläut wird lauter, aber sie geht zurück in die Wohnung und holt die Zigaretten.

wieso "aber"?

LG
Nifl

Verfasst: 28.12.2011, 09:43
von Jelena
Danke Nifl!

Ich denke, du meintest die letzten drei Sätze? Sie müssten alle drei weg, finde ich.
Die anderen Verbesserungsvorschläge setze ich um, später dann auch im Eingangsposting, wenn es keine neuen Tipps gibt.

Habe auch den Hinweis von Amanita beherzigt und hoffe, dass er genannte Satz damit klarer geworden ist.

Liebe Grüße, Jelena




Alle Jahre wieder

Was, wenn Weihnachten ihrer Mutter noch nie gelungen ist? Die Tochter hält die Regeln ein. Ein Anruf. Ein Rückruf. Ja, Mutter, ich weiß.

Die Mutter klagt über das Weihnachten, an dem sie nur einen Fetzen der Gänsebrust bekam. Die Betonung darauf, wie viel Arbeit sie immer damit hat, aber dann wird einfach nur mitgenommen ohne ein Dankschön, sie selbst zurückgelassen in einer Küche, in der das dreckige Geschirr längst in der Spülmaschine steht. Die Gäste hätten die Kerzen am Baum ohne sie angezündet. Wegen der Kinder hätten sie nicht länger warten wollen. Das wird sie ihnen nie verzeihen. Hauptsache die Kinder, die Kinder. Die Alte kann ja alles richten. Aber morgen wird sie das Fleisch, das an den Knochen zurückblieb, ablösen. Einer muss ja die Reste essen.

Später fängt es an zu schneien. Der Wetterbericht hat das nicht ausgeschlossen. Die Mutter beendet das Telefonat und hört die Kirchenglocken, die zur Mitternachtsmesse läuten, nicht. Stattdessen schaltet sie das Radio ab, mitten im Gnadenvoll. Sie nimmt den angebrochenen Rosé vom Fensterbrett und kippt sich ein Glas bis knapp unter den Rand voll. Der Bordeaux war gut angekommen und leer. Stellt das Glas auf den Couchtisch. Sammelt das Geschenkpapier vom Boden und streicht die größeren Stücke auf dem Esstisch glatt – die Tischdecke längst in der Wäsche. Wäre ihre Tochter hier, wäre sie auch keine Hilfe. Wahrscheinlich hätte sie alles zerknüllt. Lüften, sie sollte lüften. Sie öffnet die Balkontür. Das Glockengeläut wird lauter. Sie geht zurück in die Wohnung und holt die Zigaretten. Endlich in Ruhe rauchen. Zwischendurch bückt sie sich zum leeren Marmeladenglas, um nicht auf die Fliesen zu aschen. Sie bekommen auch ohne die Asche weiße Punkte. Schneeflocken. Wieder in der Wohnung schaltet sie den Fernseher ein und legt die Füße auf die gefaltete Decke am Sofaende.

Mutter, Mutter, denkt sie. Zum Glück musste ich mir das nicht mit ansehen.
Vielleicht vergisst ihre Mutter jedes Jahr, mit wem sie telefoniert? Vielleicht spricht sie nur zu sich selbst? Sie kann ihr Tochtersein nicht vergessen, wenn sie diese Worte hört. Nie wird sie das vergessen. Sie wird jedes Jahr neu daran erinnert. Egal, wo sie an Weihnachten gerade ist.

Kann man Weihnachten lernen? Sie fragt sich, ob sie es je gelernt hat. Nein, denkt sie, nein, Weihnachten lernen heißt leben und älter werden und eben deshalb ist es gut, wenn man alt wird. Jedes Jahr des Lebens auch eine neue Chance für Weihnachten.

Dieses Jahr hat sie Mitleid mit ihrer Mutter. Und mit ihren Kindern gefeiert, aber davon kann sie ihr nicht viel erzählen, weil sie selbst ja beides ist, eine Mutter und ein Kind, und weil eine Mutter zu ihren Kindern gehört. Was nächstes Jahr sein wird, das weiß sie noch nicht.