tor
Verfasst: 15.10.2011, 17:12
FRÜHER UND NOCH FRÜHER UND WIRKLICH FRÜHER / (TOR)
Als die Katze von dem Bücherregal im Flur absprang, erwischte sie einen zerfetzten Kundera mit den Hinterpfoten und er fiel auf den Boden, wie die längst fällige Spätherbstkrone einer Eiche, direkt vor Miras Füße.
Sie verdrehte kurz die Augen, fauchte die Katze auf dieselbe Art an, wie die Katze es tat , wenn etwas ihr nicht passte, räumte die Blätter des Buches unsortiert in den Einband zurück, und stellte es wieder in das Regal. „Noch hast du nicht ausgedient“, sagte sie zu dem zerfledderten Buch. „Später“. Sie bückte sich um ihre Turnschuhe zu binden, und erblickte ein Foto, das aus dem Buch herausgefallen war und unter dem Regal lag.
Mira war gerade dabei zum Einkaufen aufzubrechen, somit heute noch etwas aufgetischt wird, wenn die Kinder aus der Schule kommen und bevor sie zur Arbeit gehen muss. Sie wollte sich jetzt nicht mit dem suchen nach einem Foto aufhalten lassen. Früher hätte sie dem Vorfall mehr Bedeutung geschenkt. Sie hätte sich sehr wahrscheinlich gefragt, was hatte der Kundera ihr plötzlich zu sagen und hätte vorsichtig das oberste Blatt genommen und gelesen, einen Abschnitt gesucht der sich auf irgendeine zufällige Weiße mit ihrem augenblicklichen Befinden decken würde, eine kleine Zukunftsprophezeiung, eine Beschwörung, einen kleinen Hokuspokus. Einen unverlangten dennoch willkommenen Rat auf das Dilemma,von welchem sie gar nicht gewusst hätte dass sie es hatte, bevor die Antwort sich ihr böte.
Jetzt aber suchte sie keine Bedeutungen in solchen Zufällen. Und an das Früher, in dem sprichwörtlich alles viel besser war, wollte sie jetzt nicht denken. Nicht an das Bessere, und auch an das Schlechtere nicht. Beide lenkten ab. Beide hatten in ihrem jetzigen Leben wenig Platz.
Dann merkte sie, dass das Foto mit dem geschickten Manöver der Schuhspitze doch nicht unerreichbar war. So zog sie daran und nahm das Foto in die Hand. Als sie es umgedreht hatte, erblickte sie ihr eigenes Gesicht, siebzehnjährig, breitlächelnd, fotografiert vor eine Zypresse im Hof ihrer besten Freundin. Sie packte es automatisch neben dem Schlüssel und der Brieftasche in den Korb und ging aus dem Haus.
Ein lauer Wind blies ihr entgegen, als sie die Straße hinunter zum Laden lief. Die Rosenzeit. Auf einem der Häuser kletterte ein Prachtexemplar in geradezu buddhaorange. Früher, ja früher hätte sie sich um sich gedreht, nein, wirklich früher, hätte sie sich nicht einmal um sich gedreht, um zu sehen ob jemand sie beobachtet, hätte einen der prächtigen Köpfe abgemacht, und den ganzen Weg zum Einkauf die Nase darin gehalten, das Seidige an den Lippen gespürt, womöglich auch die Blume geküsst, tief mittig, wie man eine reife Frau küsst. Früher, als alles besser oder alles schlechter war. Als die Zeitrechnung noch eine andere war. Als sie noch nicht den geflochtenen Einkaufskorb die blankgefegte Straße hinunter bedacht trug. Als sie keinerlei Korb besaß, dessen Aufgabe es wäre, ihr Erscheinungsbild mit der seriösen Zugehörigkeitgeständniss zu der Kleinstadtödnis abzurunden.
Im Laden angekommen, entschied sie sich die Zutaten für ein einfaches schnelles Mahl zu kaufen, und sich danach eine Auszeit beim Italiener zu gestatten. Am liebsten aßen die Kinder etwas einfaches, „Da ist kein Kopfstand nötig“, dachte sie. Wie früher, als der Herr Zeitrechnugszersprenger sich gelegentlich „panierte Erbsen“ wünschte. Früher. Als es schlechter war. Worüber nicht mehr gedacht wird.
Mira nahm eine Tüte mit eingefrorenen Kartoffelpuffern und ein paar Joghurts, zuhause wird’s noch etwas vom selbstgemachten Apfelmus vorhanden sein. Obendrauf legte sie ein Tagesblatt, etwas Oberflächliches, genau passend zum Cappuccino.
Draußen bemerkte sie dass der Wind abschwächte und die Augustsonne an Kraft gewann. Schlecht für die Kartoffelpuffer. Sie setzte sich in der Eisdiele auf einen freien Stuhl, neben der Wand, im Schatten des Sonnenschirmes, stellte ihren Einkaufskorb neben sich ab und bestellte einen Cappuccino. Beobachtete kurz das Geschehen um sich. Mund zu Mund, links Zwei Jugendliche die sich ausgiebig mit den Zungen gegenseitig die Mandeln massierten. Rechts am Tisch: Erdbeereis zum Mund, leider nicht getroffen. Und das mehrmals nacheinander. Ein Zweijähriger im Kinderwagen, neben ihm im Stuhl die junge Mutter vertieft im Beipackzettel eines Medikamentes. Gerade aus, ein paar einheitlich helllilafrisierte Omas, allein, oder zu zweit. Ein junger Mann, wohl intellektuell angehaucht, womöglich aber auch Möchtegern angehaucht. Eine angesehene Zeitung in der Hand, Kulturteil. Hornbrille an er Nasenspitze. die soll ja wieder modern sein.
Mira zögerte ein bisschen ihr Zeitung auszubreiten, richtige Lust zu lesen hatte sie nicht. Dann nahm sie doch den Kreuzworträtselteil heraus und fing an zu rätseln. Drei horizontal: „In regelmäßigen Abständen vorgenommene Bestandsaufnahme in einem Geschäft.“ Einblick? Durchblick? Ach: I_N_V_E_N_T_U_R. Es passte. Acht vertikal: Ein Asiatischer Fisch, mit großem Saugmaul, welchen er zum Ausruhen in starker Strömung nutzen kann. Drei Buchstaben. Mira stellte die Zeitung zur Seite, es machte keinen Sinn. Ihr fehlte die Konzentration, herauszufinden wie der Fisch heißt, der sich an Felsen festsaugen kann. Vielleicht „ein Jugendlicher“, dachte sie grinsend, als ihr Blick an die zwei voneinander immer noch nicht Ablassenden fiel. „Wer ist der Fisch, und wer ist der Stein?“, fragte sie sich. „Und besteht die Möglichkeit, dass sich zwei Fische gemeinsam in den Strom werfen, fest und für immer aneinander angesaugt?“ Einer davon verwandelt sich irgendwann in einen Stein, früher oder später…oder beide…es ist nur eine Frage der Zeit. Und dann entsteht diese neue Zeitrechnung. Mit Früher und Nochfrüher und Wirklichfrüher.
Mira zündete eine Zigarette an. Ihr Gesicht mit der Zigarette im Mund spiegelte sich in dem Feuerzeug, als wäre das Feuerzeug eine Weihnachtskugel. Sind ihre Augen nicht riesig geworden? Sind ihre Lippen nicht irgendwie gepresster, schmäler geworden? Als früher? Als noch früher? Als wirklich früher? Als sie noch küsste? Sie kramte unter den Joghurtbechern nach dem mitgenommenen Foto. Tatsächlich, sie sind es.
Reiner Darwinismus, dachte sie ironisch.
Die Frage ist nicht, wie stark der Strom war, dachte sie, während sie zu einem sonnigen Tisch wechselte.
Die Frage ist nicht, wer von uns der Fisch war, und wer der Stein im Fluss.
Die Frage ist: Ist dieses Jetzt überhaupt noch ein Teich, oder schon ein Aquarium?
Und die Frage ist: Wo bleibt der Cameriere?
Als die Katze von dem Bücherregal im Flur absprang, erwischte sie einen zerfetzten Kundera mit den Hinterpfoten und er fiel auf den Boden, wie die längst fällige Spätherbstkrone einer Eiche, direkt vor Miras Füße.
Sie verdrehte kurz die Augen, fauchte die Katze auf dieselbe Art an, wie die Katze es tat , wenn etwas ihr nicht passte, räumte die Blätter des Buches unsortiert in den Einband zurück, und stellte es wieder in das Regal. „Noch hast du nicht ausgedient“, sagte sie zu dem zerfledderten Buch. „Später“. Sie bückte sich um ihre Turnschuhe zu binden, und erblickte ein Foto, das aus dem Buch herausgefallen war und unter dem Regal lag.
Mira war gerade dabei zum Einkaufen aufzubrechen, somit heute noch etwas aufgetischt wird, wenn die Kinder aus der Schule kommen und bevor sie zur Arbeit gehen muss. Sie wollte sich jetzt nicht mit dem suchen nach einem Foto aufhalten lassen. Früher hätte sie dem Vorfall mehr Bedeutung geschenkt. Sie hätte sich sehr wahrscheinlich gefragt, was hatte der Kundera ihr plötzlich zu sagen und hätte vorsichtig das oberste Blatt genommen und gelesen, einen Abschnitt gesucht der sich auf irgendeine zufällige Weiße mit ihrem augenblicklichen Befinden decken würde, eine kleine Zukunftsprophezeiung, eine Beschwörung, einen kleinen Hokuspokus. Einen unverlangten dennoch willkommenen Rat auf das Dilemma,von welchem sie gar nicht gewusst hätte dass sie es hatte, bevor die Antwort sich ihr böte.
Jetzt aber suchte sie keine Bedeutungen in solchen Zufällen. Und an das Früher, in dem sprichwörtlich alles viel besser war, wollte sie jetzt nicht denken. Nicht an das Bessere, und auch an das Schlechtere nicht. Beide lenkten ab. Beide hatten in ihrem jetzigen Leben wenig Platz.
Dann merkte sie, dass das Foto mit dem geschickten Manöver der Schuhspitze doch nicht unerreichbar war. So zog sie daran und nahm das Foto in die Hand. Als sie es umgedreht hatte, erblickte sie ihr eigenes Gesicht, siebzehnjährig, breitlächelnd, fotografiert vor eine Zypresse im Hof ihrer besten Freundin. Sie packte es automatisch neben dem Schlüssel und der Brieftasche in den Korb und ging aus dem Haus.
Ein lauer Wind blies ihr entgegen, als sie die Straße hinunter zum Laden lief. Die Rosenzeit. Auf einem der Häuser kletterte ein Prachtexemplar in geradezu buddhaorange. Früher, ja früher hätte sie sich um sich gedreht, nein, wirklich früher, hätte sie sich nicht einmal um sich gedreht, um zu sehen ob jemand sie beobachtet, hätte einen der prächtigen Köpfe abgemacht, und den ganzen Weg zum Einkauf die Nase darin gehalten, das Seidige an den Lippen gespürt, womöglich auch die Blume geküsst, tief mittig, wie man eine reife Frau küsst. Früher, als alles besser oder alles schlechter war. Als die Zeitrechnung noch eine andere war. Als sie noch nicht den geflochtenen Einkaufskorb die blankgefegte Straße hinunter bedacht trug. Als sie keinerlei Korb besaß, dessen Aufgabe es wäre, ihr Erscheinungsbild mit der seriösen Zugehörigkeitgeständniss zu der Kleinstadtödnis abzurunden.
Im Laden angekommen, entschied sie sich die Zutaten für ein einfaches schnelles Mahl zu kaufen, und sich danach eine Auszeit beim Italiener zu gestatten. Am liebsten aßen die Kinder etwas einfaches, „Da ist kein Kopfstand nötig“, dachte sie. Wie früher, als der Herr Zeitrechnugszersprenger sich gelegentlich „panierte Erbsen“ wünschte. Früher. Als es schlechter war. Worüber nicht mehr gedacht wird.
Mira nahm eine Tüte mit eingefrorenen Kartoffelpuffern und ein paar Joghurts, zuhause wird’s noch etwas vom selbstgemachten Apfelmus vorhanden sein. Obendrauf legte sie ein Tagesblatt, etwas Oberflächliches, genau passend zum Cappuccino.
Draußen bemerkte sie dass der Wind abschwächte und die Augustsonne an Kraft gewann. Schlecht für die Kartoffelpuffer. Sie setzte sich in der Eisdiele auf einen freien Stuhl, neben der Wand, im Schatten des Sonnenschirmes, stellte ihren Einkaufskorb neben sich ab und bestellte einen Cappuccino. Beobachtete kurz das Geschehen um sich. Mund zu Mund, links Zwei Jugendliche die sich ausgiebig mit den Zungen gegenseitig die Mandeln massierten. Rechts am Tisch: Erdbeereis zum Mund, leider nicht getroffen. Und das mehrmals nacheinander. Ein Zweijähriger im Kinderwagen, neben ihm im Stuhl die junge Mutter vertieft im Beipackzettel eines Medikamentes. Gerade aus, ein paar einheitlich helllilafrisierte Omas, allein, oder zu zweit. Ein junger Mann, wohl intellektuell angehaucht, womöglich aber auch Möchtegern angehaucht. Eine angesehene Zeitung in der Hand, Kulturteil. Hornbrille an er Nasenspitze. die soll ja wieder modern sein.
Mira zögerte ein bisschen ihr Zeitung auszubreiten, richtige Lust zu lesen hatte sie nicht. Dann nahm sie doch den Kreuzworträtselteil heraus und fing an zu rätseln. Drei horizontal: „In regelmäßigen Abständen vorgenommene Bestandsaufnahme in einem Geschäft.“ Einblick? Durchblick? Ach: I_N_V_E_N_T_U_R. Es passte. Acht vertikal: Ein Asiatischer Fisch, mit großem Saugmaul, welchen er zum Ausruhen in starker Strömung nutzen kann. Drei Buchstaben. Mira stellte die Zeitung zur Seite, es machte keinen Sinn. Ihr fehlte die Konzentration, herauszufinden wie der Fisch heißt, der sich an Felsen festsaugen kann. Vielleicht „ein Jugendlicher“, dachte sie grinsend, als ihr Blick an die zwei voneinander immer noch nicht Ablassenden fiel. „Wer ist der Fisch, und wer ist der Stein?“, fragte sie sich. „Und besteht die Möglichkeit, dass sich zwei Fische gemeinsam in den Strom werfen, fest und für immer aneinander angesaugt?“ Einer davon verwandelt sich irgendwann in einen Stein, früher oder später…oder beide…es ist nur eine Frage der Zeit. Und dann entsteht diese neue Zeitrechnung. Mit Früher und Nochfrüher und Wirklichfrüher.
Mira zündete eine Zigarette an. Ihr Gesicht mit der Zigarette im Mund spiegelte sich in dem Feuerzeug, als wäre das Feuerzeug eine Weihnachtskugel. Sind ihre Augen nicht riesig geworden? Sind ihre Lippen nicht irgendwie gepresster, schmäler geworden? Als früher? Als noch früher? Als wirklich früher? Als sie noch küsste? Sie kramte unter den Joghurtbechern nach dem mitgenommenen Foto. Tatsächlich, sie sind es.
Reiner Darwinismus, dachte sie ironisch.
Die Frage ist nicht, wie stark der Strom war, dachte sie, während sie zu einem sonnigen Tisch wechselte.
Die Frage ist nicht, wer von uns der Fisch war, und wer der Stein im Fluss.
Die Frage ist: Ist dieses Jetzt überhaupt noch ein Teich, oder schon ein Aquarium?
Und die Frage ist: Wo bleibt der Cameriere?