Die Bestimmung des Menschen
Verfasst: 12.09.2011, 11:53
An der Bestimmung des Menschen kann, wer einmal gründlich auf ihn hinblickt, nicht den geringsten Zweifel haben: Er ist das denkende, vernünftige, das erkennende Wesen. Zugleich ist er als Leib auch tätiges Wesen, und als solches wollend, schaffend und ordnend. Sofern er vernünftig und wollend ist, ist er zugleich frei: Er untersteht der Ordnung, die er selbst geschaffen hat.
Es bedarf damit nicht einmal mehr der biblischen Offenbarung, um seine Aufgabe im Miteinander der Geschöpfe zu erkennen. Er hat ihr Herr zu werden, sie sich Untertan zu machen, und zwar nicht im Sinn einer willkürlichen Tyrannei, sondern als hilfreicher Hüter seiner denkschwachen Mitgeschöpfe, Gärtner der Erde, Hirte des Seins.
Große Worte, vor denen zurückzuschrecken freilich eine völlige Verkennung des Menschenwesens wäre. Nicht Ausflüchte und Aufschübe zu suchen gilt es, sondern sich der hehren Pflicht mit frischem Mut zu stellen, jederzeit von dem befeuernden Zuruf beseelt, der uns aus der Tiefe unserer Natur entgegenhallt: "Du kannst - denn du sollst!"
Nun, ich habe verstanden. Meine Pflicht gegen die Kreatur steht mir klar vor Augen, und ich handle nach ihr - jeden Tag.
Neulich beispielsweise saß ich mit meiner Frau und meinen Kindern - ich habe drei - beim Abendessen. Dabei bemerkte ich die Spinne, die in einem hinteren Winkel an der Küchendecke ihr Netz gesponnen hatte. Was dem vernunftlosen Mitgeschöpf entgangen war, stand mir mit einem Schlage klar vor Augen: Daß es nämlich vergeblich war, dort ein Netz zu bauen, wohin sich höchstens ausnahmsweise einmal eine Fliege oder ähnliches verirren würde. Meinem Sohn Fritz verdankte ich den Hinweis, daß eine Ecke im Treppenhaus, in der sich eine Wandleuchte befindet, ein viel geeigneterer Ort sei - ein kluger Junge, der trotz seiner gerade erreichten fünf Jahre bereits klar nach seinem Vater kommt. Meine Frau und meine Töchter hingegen mußte ich erst mühsam überreden, ehe wir den Eßtisch in die nämliche Ecke rückten, auf die Platte stiegen und die Fäden, die das Gespinst dort an der Wand hielten, mit der gebotenen Vorsicht lösten.
Vom Tisch zu steigen - jeder einen Faden in jeder Hand - ohne das Netz zu beschädigen, war eine noch ungleich größere Herausforderung, doch wandte meine väterliche Weisungskunst alles zum Besten. Wir trugen das Netz behutsam zum Zimmer hinaus
und ein Stück weit die Treppe herunter. Zu meiner Freude fand ich nun auch meine Töchter rührend bemüht, seine Bewohnerin - ein massiges braunes Tier, das gut einen Handteller bedeckte - nicht durch unnötiges Schwanken aufzuschrecken.
Die abgelösten Fäden wieder anzukleben, erwies sich dagegen nahezu als Ding der Unmöglichkeit. Nicht nur wollte sich das ganze nach Form und Größe an die vorgesehene Stelle nicht recht fügen, es hatten auch die Fäden stark an Haftung eingebüßt. Mehr als einmal wäre die kunstreiche Konstruktion uns fast in ein unentwirrbares Fadenknäuel zusammengefallen. Letztlich gab ich Fritz meine beiden Fäden in die Hand, holte eine Säge aus dem Keller und beseitigte damit einen hinderlichen Vorsprung in der Lampenhalterung. Dann klebten wir das Netz mit Tesafilm an seinen Platz.
Die folgende Nacht schlief ich unruhig, und erwachte schon am frühen Morgen durch einen lautstarken Gedanken. Hinsichtlich ihrer Elastizität und Unsichtbarkeit waren diese Spinnenfäden ja bekanntlich Meisterwerke, die jeden Ingenieur neidvoll erblassen ließen; wenn aber die Klebkraft derart schwach war, war dann nicht auch der Jagderfolg latent gefährdet? Hatte ich nicht wirklich schon kräftigere Brummer noch entkommen sehen?
Kurzerhand entnahm ich der Fangvorrichtung (an deren Platzierung ich nun, auch nach erneuter Erwägung, nichts mehr auszusetzen fand) die Besitzerin und strich, den Einspruch meiner Frau mit gebietender Geste niederhaltend, den Leim von einem Fliegenfänger darauf. Dann setzte ich meinen Schützling zurück.
Der Erfolg war überwältigend! Binnen eines Tages zappelten im Leim nicht weniger als sieben Fliegen. Erstaunlich war indes, daß die Spinne keine Anstalten machte, ihre Beute in Besitz zu nehmen. Sie hockte regungslos noch immer da, wo ich sie gelassen hatte. Erst ein Hinweis meines Sohnes - ganz der Vater! - klärte mich auf: Das einfältige Wesen hatte seine Beine nicht zu setzen gewußt und sich im eigenen Netz verfangen! So findet die Sorge für die Kreatur stets Stoff zu neuen Taten.
Fritz und ich gingen sogleich an die Befreiung. Mit einem Schwämmchen, etwas Seifenlauge und einer Pinzette kamen wir auch leidlich gut voran - nur beim sechsten Bein, das weiter als die anderen, etwa bis zum ersten Gelenk hin, angeklebt war, geschah uns ein Malheur. Als ich es mit sanftem Rucken lösen wollte, riß es entzwei! Ein entsetzliche Anblick, der meinen zarten Fritz in Tränen ausbrechen ließ.
Ich tat auch hier, wie immer, was ich konnte, zog das amputierte Stück Spinnenbein aus dem Netz heraus, packte es in Eis und fuhr, so schnell es eben ging, zum nächsten Tierarzt.
Dessen Verhalten war kaum weniger als skandalös zu nennen. Nicht nur wurde ich, obwohl ich Art und Dringlichkeit des Falls emphatisch schilderte, nicht sogleich vorgelassen und mußte, die Verletzte in der Hand, mit ansehen, wie drei Katzen, zwei Hunde, eine Schildkröte und eine Ratte, denen durchweg offenbar nichts dem Verlust eines Gliedes vergleichbares widerfahren war, der Vorrang gegeben wurde. Es beschied mir auch der Doktor, für ihn sei hier nichts zu machen, man könne das Bein getrost verloren geben, und ferner, so ein Spinnentier wisse mit sieben Beinen sehr bequem zu leben.
So roh spricht blinder Geist, der Mitgefühl nicht kennt.
Ärztlichen Beistandes also beraubt, befestigte ich das Fragment mit etwas Pattex selbst am Stumpf. Es tat mir in der Seele weh.
Um solche Vorkommnisse künftig zu vermeiden rieb ich der Kleinen die Beine vorsichtig mit Seinfenlauge ein, ehe ich sie zurück setzte. Das müssen wir nun etwa zweimal täglich wiederholen, in der Familie wechseln wir uns damit seither reihum ab.
Aus mir nicht erfindlichen Gründen fällt unser Sorgenkind nun öfter von der Decke und zeigt sich unfähig, wieder empor zu klettern. Stattdessen schabt sie sinnlos an der Wand herum und hinterläßt unschöne Seifenflecken, bis einer von uns sich seiner annimmt und sie hochhebt. Die kleine Wendeltreppe aus Holz, die ich eigens dafür hergestellt habe, findet bisher keine Beachtung.
Dummes Tier. Ein Glück, daß es mich hat.
************************************************************************
(In der zuerst geposteten Fassung lautete ein jetzt geänderter Satz:
"Kurzerhand entnahm ich einer ähnlichen Fangvorrichtung im Schlafzimmer (an deren Platzierung ich nichts auszusetzen fand, bei der ich aber den gleichen Defekt vermutete) die Besitzerin und strich, den Einspruch meiner Frau mit gebietender Geste niederhaltend, den Leim von einem Fliegenfänger darauf. Dann setzte ich meinen Schützling zurück."
Ich danke Gabriella für den Hinweis.)
Weitere Änderungen:
"fürsorgliche Haltung gegen" ersetzt durch "Sorge für"
Außerdem auf Gabriellas Hinweis einige Rechtschreib- und Zeichensetzungsfehler korrigiert.
Es bedarf damit nicht einmal mehr der biblischen Offenbarung, um seine Aufgabe im Miteinander der Geschöpfe zu erkennen. Er hat ihr Herr zu werden, sie sich Untertan zu machen, und zwar nicht im Sinn einer willkürlichen Tyrannei, sondern als hilfreicher Hüter seiner denkschwachen Mitgeschöpfe, Gärtner der Erde, Hirte des Seins.
Große Worte, vor denen zurückzuschrecken freilich eine völlige Verkennung des Menschenwesens wäre. Nicht Ausflüchte und Aufschübe zu suchen gilt es, sondern sich der hehren Pflicht mit frischem Mut zu stellen, jederzeit von dem befeuernden Zuruf beseelt, der uns aus der Tiefe unserer Natur entgegenhallt: "Du kannst - denn du sollst!"
Nun, ich habe verstanden. Meine Pflicht gegen die Kreatur steht mir klar vor Augen, und ich handle nach ihr - jeden Tag.
Neulich beispielsweise saß ich mit meiner Frau und meinen Kindern - ich habe drei - beim Abendessen. Dabei bemerkte ich die Spinne, die in einem hinteren Winkel an der Küchendecke ihr Netz gesponnen hatte. Was dem vernunftlosen Mitgeschöpf entgangen war, stand mir mit einem Schlage klar vor Augen: Daß es nämlich vergeblich war, dort ein Netz zu bauen, wohin sich höchstens ausnahmsweise einmal eine Fliege oder ähnliches verirren würde. Meinem Sohn Fritz verdankte ich den Hinweis, daß eine Ecke im Treppenhaus, in der sich eine Wandleuchte befindet, ein viel geeigneterer Ort sei - ein kluger Junge, der trotz seiner gerade erreichten fünf Jahre bereits klar nach seinem Vater kommt. Meine Frau und meine Töchter hingegen mußte ich erst mühsam überreden, ehe wir den Eßtisch in die nämliche Ecke rückten, auf die Platte stiegen und die Fäden, die das Gespinst dort an der Wand hielten, mit der gebotenen Vorsicht lösten.
Vom Tisch zu steigen - jeder einen Faden in jeder Hand - ohne das Netz zu beschädigen, war eine noch ungleich größere Herausforderung, doch wandte meine väterliche Weisungskunst alles zum Besten. Wir trugen das Netz behutsam zum Zimmer hinaus
und ein Stück weit die Treppe herunter. Zu meiner Freude fand ich nun auch meine Töchter rührend bemüht, seine Bewohnerin - ein massiges braunes Tier, das gut einen Handteller bedeckte - nicht durch unnötiges Schwanken aufzuschrecken.
Die abgelösten Fäden wieder anzukleben, erwies sich dagegen nahezu als Ding der Unmöglichkeit. Nicht nur wollte sich das ganze nach Form und Größe an die vorgesehene Stelle nicht recht fügen, es hatten auch die Fäden stark an Haftung eingebüßt. Mehr als einmal wäre die kunstreiche Konstruktion uns fast in ein unentwirrbares Fadenknäuel zusammengefallen. Letztlich gab ich Fritz meine beiden Fäden in die Hand, holte eine Säge aus dem Keller und beseitigte damit einen hinderlichen Vorsprung in der Lampenhalterung. Dann klebten wir das Netz mit Tesafilm an seinen Platz.
Die folgende Nacht schlief ich unruhig, und erwachte schon am frühen Morgen durch einen lautstarken Gedanken. Hinsichtlich ihrer Elastizität und Unsichtbarkeit waren diese Spinnenfäden ja bekanntlich Meisterwerke, die jeden Ingenieur neidvoll erblassen ließen; wenn aber die Klebkraft derart schwach war, war dann nicht auch der Jagderfolg latent gefährdet? Hatte ich nicht wirklich schon kräftigere Brummer noch entkommen sehen?
Kurzerhand entnahm ich der Fangvorrichtung (an deren Platzierung ich nun, auch nach erneuter Erwägung, nichts mehr auszusetzen fand) die Besitzerin und strich, den Einspruch meiner Frau mit gebietender Geste niederhaltend, den Leim von einem Fliegenfänger darauf. Dann setzte ich meinen Schützling zurück.
Der Erfolg war überwältigend! Binnen eines Tages zappelten im Leim nicht weniger als sieben Fliegen. Erstaunlich war indes, daß die Spinne keine Anstalten machte, ihre Beute in Besitz zu nehmen. Sie hockte regungslos noch immer da, wo ich sie gelassen hatte. Erst ein Hinweis meines Sohnes - ganz der Vater! - klärte mich auf: Das einfältige Wesen hatte seine Beine nicht zu setzen gewußt und sich im eigenen Netz verfangen! So findet die Sorge für die Kreatur stets Stoff zu neuen Taten.
Fritz und ich gingen sogleich an die Befreiung. Mit einem Schwämmchen, etwas Seifenlauge und einer Pinzette kamen wir auch leidlich gut voran - nur beim sechsten Bein, das weiter als die anderen, etwa bis zum ersten Gelenk hin, angeklebt war, geschah uns ein Malheur. Als ich es mit sanftem Rucken lösen wollte, riß es entzwei! Ein entsetzliche Anblick, der meinen zarten Fritz in Tränen ausbrechen ließ.
Ich tat auch hier, wie immer, was ich konnte, zog das amputierte Stück Spinnenbein aus dem Netz heraus, packte es in Eis und fuhr, so schnell es eben ging, zum nächsten Tierarzt.
Dessen Verhalten war kaum weniger als skandalös zu nennen. Nicht nur wurde ich, obwohl ich Art und Dringlichkeit des Falls emphatisch schilderte, nicht sogleich vorgelassen und mußte, die Verletzte in der Hand, mit ansehen, wie drei Katzen, zwei Hunde, eine Schildkröte und eine Ratte, denen durchweg offenbar nichts dem Verlust eines Gliedes vergleichbares widerfahren war, der Vorrang gegeben wurde. Es beschied mir auch der Doktor, für ihn sei hier nichts zu machen, man könne das Bein getrost verloren geben, und ferner, so ein Spinnentier wisse mit sieben Beinen sehr bequem zu leben.
So roh spricht blinder Geist, der Mitgefühl nicht kennt.
Ärztlichen Beistandes also beraubt, befestigte ich das Fragment mit etwas Pattex selbst am Stumpf. Es tat mir in der Seele weh.
Um solche Vorkommnisse künftig zu vermeiden rieb ich der Kleinen die Beine vorsichtig mit Seinfenlauge ein, ehe ich sie zurück setzte. Das müssen wir nun etwa zweimal täglich wiederholen, in der Familie wechseln wir uns damit seither reihum ab.
Aus mir nicht erfindlichen Gründen fällt unser Sorgenkind nun öfter von der Decke und zeigt sich unfähig, wieder empor zu klettern. Stattdessen schabt sie sinnlos an der Wand herum und hinterläßt unschöne Seifenflecken, bis einer von uns sich seiner annimmt und sie hochhebt. Die kleine Wendeltreppe aus Holz, die ich eigens dafür hergestellt habe, findet bisher keine Beachtung.
Dummes Tier. Ein Glück, daß es mich hat.
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(In der zuerst geposteten Fassung lautete ein jetzt geänderter Satz:
"Kurzerhand entnahm ich einer ähnlichen Fangvorrichtung im Schlafzimmer (an deren Platzierung ich nichts auszusetzen fand, bei der ich aber den gleichen Defekt vermutete) die Besitzerin und strich, den Einspruch meiner Frau mit gebietender Geste niederhaltend, den Leim von einem Fliegenfänger darauf. Dann setzte ich meinen Schützling zurück."
Ich danke Gabriella für den Hinweis.)
Weitere Änderungen:
"fürsorgliche Haltung gegen" ersetzt durch "Sorge für"
Außerdem auf Gabriellas Hinweis einige Rechtschreib- und Zeichensetzungsfehler korrigiert.