Jede Beschreibung ist falsch
Verfasst: 22.04.2011, 17:09
Jede Beschreibung ist falsch
1
Trotzdem bin ich aufgebrochen, als könnte man alles hinter sich lassen. Die Erinnerungen und das Zuhause, die Grenzen und sogar die Traurigkeit. Als könnte ich ganz neu beginnen, nur weil ich jung bin. Indem ich einen Koffer packe, und alles überflüssige in der Dunkelheit meines leeren Zimmers zurücklasse.
Inzwischen war ich lange genug hier, um mir eingestehen zu müssen, dass ich mir die Stadt ganz anders vorgestellt hatte. Mit ruhigen Hinterhöfen, Milchwagen und Bierkutschern. Mit Gefängnissen und den Menschen, die den Gefängnissen entkamen und nur ihre Hoffnung dafür aufgeben mussten, die blieb gefangen und der Mensch war frei.
Jeden Morgen machte ich mich auf den Weg. Einen Weg, der sich beständig verwandelte. Es war nicht nur die Zeit, die ihn veränderte. (Unmerklich, aber umso nachhaltiger). Es waren auch ganz handfeste, eindeutig zu benennende Veränderungen. Ein Fenster, das sonst immer gekippt gewesen war, war seit einigen Tagen fest verschlossen. Das Mädchen mit den roten Zöpfen hatte eine neue Tasche. Ein Baum im Vorhof war gefällt worden.
Ein Flugzeug flog zu tief. Ich stellte mir vor, was man sehen konnte, wie der Pilot seine Knöpfe bediente, die Hebel und Schalter und schließlich resigniert einen Blick nach unten warf; Autos, Häuser, Menschen. Die Elektrische, wie Franz Biberkopf sie nannte und dieses Gebäude, von dem der Pilot wusste, dass es das Gefängnis Tegel war.
Ich wusste nicht, was ich dort suchte. Es war vielleicht eine Art Alternativlosigkeit, die mich immer wieder zu diesem Gebäude trieb, die Tatsache, dass ich kein Ziel hatte. Ich hatte nicht diesen festen Vorsatz ein anständiges Leben zu führen, ein Vorsatz an dem ich dann Stück für Stück, Schlag für Schlag scheitern könnte, aber auch den festen Vorsatz auszubrechen und alles ganz anders zu machen, hatte ich nicht. Ich hatte ja nicht einmal mich, oder ein feststehendes Bild von mir, nur ein kleines bisschen Sehnsucht und eine winzige Hoffnung, die das alles Tag für Tag aufrecht erhielt.
Vielleicht suchte ich etwas, das mich aufhielt, vielleicht ging ich darum immer wieder an dem Gefängnis vorbei, das Franz Biberkopf damals (und in meiner Vorstellung immer wieder) so zögerlich verlassen hatte.
Aber natürlich war nicht 1929, das war lange vorbei, und ich war kein Mann. Die Zeit hatte alles verändert, diejenigen, die damals in den Gefängnissen saßen und die Freiheit fürchteten, weil man vielleicht nirgendwo so gut wie in einem Gefängnis begreifen kann, dass es keine Freiheit gibt, dass das alles leere Worte sind und das einzige, das zählt, ist die Hoffnung und darum ist es so wichtig, sich davor zu schützen. Diejenigen, die das damals begriffen hatten, waren längst tot, aber diese Tatsache nicht. Diese Art Wahrheit war nicht totzukriegen. Nicht mit den sich verändernden Jahreszahlen, nicht mit neuen Kleidern und anderen Staatsgrenzen.
Ich dachte an Hanna, wie sie damals mit Andrea in einer neuen Stadt neu angefangen hatte. Auf einmal konnte ich mir vorstellen, dass sie nur deshalb hier her gekommen war, um eine Traurigkeit, die sie nicht wahrhaben wollte in eine andere Traurigkeit zu kleiden, die sie hinter sich lassen konnte, wenn sie wieder ging.
Seit einigen Tagen, stellte ich mir ständig vor, wie es sein würde zurückzukehren. Ich fragte mich, ob alles wieder so sein könnte wie vorher, stellte mir vor, wie Luigi vor dem Salon stehen würde, wie er dort schon seit Tagen auf mich wartete, weil er längst zurückgekehrt war und ich war völlig überflüssigerweise immer noch hier, in dieser Stadt, um ihn zu suchen.
Aber ich wusste, dass ich mir etwas vormachte. Das Warten war in Ordnung gewesen, die Suche auch. Aber das hier, der Versuch mich selbst zu täuschen, mich selbst in die Irre zu führen, das ging nicht. Trotzdem verirrte ich mich immer wieder in den Erinnerungen.
Wie leer ich mich fühlte, nachdem ich die Schule abgeschlossen hatte und Andrea und Frank nicht müde wurden von Zukunft zu reden, von Andreas Ausstellung und Franks Aufstiegschancen, von Studienplätzen und Praktika im Ausland.
„Was willst du werden?“, fragten sie mich immer wieder mit dieser Bestimmtheit, mit der sie von Anfang an festgelegt hatten, wer ich bin.
Es war zu laut. Man hörte zu viel von den Dingen, von denen man nichts wissen wollte. Ich wollte das alles hinter mir lassen, die Vorwürfe und die Erwartungen, die geordneten Bahnen und die, die mein Leben lenken wollten. Das konnte unmöglich alles sein. Das Fehlen nicht auszusprechen und auf diese Weise zu hoffen, es werde ganz von allein verschwinden.
Ich wusste, dass ich mir etwas vormachte. Dass man das von mir erwartete, wusste ich auch. Was ich nicht wusste war, woher ich den Mut nehmen sollte, meinen Eltern zu sagen, dass ich den Ausbildungsvertrag bei Herrn Richter längst unterschrieben hatte.
„Ich werde Friseurin“, hatte ich schließlich gesagt. Und während dieser Satz noch durch die Luft segelte, durch unser fast leeres Wohnzimmer schwebte und kurz über der Kerze auf dem Glastisch verweilte, legte sich Ratlosigkeit auf die Gesichter meiner Eltern. Auf dem Tisch lag eine Zeitung. Man trug jetzt wieder schwarz – rot – gold.
„Nur weil du blond bist“, hatte Frank gesagt und gelacht, „musst du doch keine Friseuse werden.“
Andrea hatte mich angesehen und ihre Patchworkdecke noch etwas enger um die Schultern gezogen.
Frank sagte: „Du wirst mit den Leuten reden müssen, Lisa, hast du daran gedacht? Über das was in den großen Boulevardblättern steht, du musst antworten und fragen, Geschichten aus ihnen herausholen. Nur mit Zuhören ist es nicht getan.“
Er lächelte, er hielt das alles immer noch für einen mehr oder weniger misslungenen Scherz.
Und Andrea unterstützte ihn: „Du wirst aufmerksam sein müssen. Noch einen Kaffee, Frau Meier? Darf ich Ihnen aus dem Mantel helfen, Herr Schmidt?“
Daran konnte ich mich noch erinnern. Dann war die Erinnerung nur noch ein Bild. Nur innerhalb dieses Bildes fanden die Bewegungen statt. Minimale Bewegungen, die eine Flasche hielten, ein Glas füllten, einen Arm hoben. An die Worte, die ja auch gefallen sein mussten, erinnerte ich mich nicht.
Letztendlich waren sie froh, dass ich diese Lehre angefangen hatte, weil ich jetzt nicht mehr ziellos (heillos) durch die Gegend lief, allein, verwildert und mit einem Blick, der den Menschen Angst machte, der sie mit Abscheu erfüllte, weil sich ihre eigene Bedürftigkeit darin spiegelte.
Dabei tat ich nichts Böses. Sie sammelten Erfahrungen und ich sammelte Regenwürmer, die ich später an ausgewählten Orten wieder aussetzte.
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Trotzdem bin ich aufgebrochen, als könnte man alles hinter sich lassen. Die Erinnerungen und das Zuhause, die Grenzen und sogar die Traurigkeit. Als könnte ich ganz neu beginnen, nur weil ich jung bin. Indem ich einen Koffer packe, und alles überflüssige in der Dunkelheit meines leeren Zimmers zurücklasse.
Inzwischen war ich lange genug hier, um mir eingestehen zu müssen, dass ich mir die Stadt ganz anders vorgestellt hatte. Mit ruhigen Hinterhöfen, Milchwagen und Bierkutschern. Mit Gefängnissen und den Menschen, die den Gefängnissen entkamen und nur ihre Hoffnung dafür aufgeben mussten, die blieb gefangen und der Mensch war frei.
Jeden Morgen machte ich mich auf den Weg. Einen Weg, der sich beständig verwandelte. Es war nicht nur die Zeit, die ihn veränderte. (Unmerklich, aber umso nachhaltiger). Es waren auch ganz handfeste, eindeutig zu benennende Veränderungen. Ein Fenster, das sonst immer gekippt gewesen war, war seit einigen Tagen fest verschlossen. Das Mädchen mit den roten Zöpfen hatte eine neue Tasche. Ein Baum im Vorhof war gefällt worden.
Ein Flugzeug flog zu tief. Ich stellte mir vor, was man sehen konnte, wie der Pilot seine Knöpfe bediente, die Hebel und Schalter und schließlich resigniert einen Blick nach unten warf; Autos, Häuser, Menschen. Die Elektrische, wie Franz Biberkopf sie nannte und dieses Gebäude, von dem der Pilot wusste, dass es das Gefängnis Tegel war.
Ich wusste nicht, was ich dort suchte. Es war vielleicht eine Art Alternativlosigkeit, die mich immer wieder zu diesem Gebäude trieb, die Tatsache, dass ich kein Ziel hatte. Ich hatte nicht diesen festen Vorsatz ein anständiges Leben zu führen, ein Vorsatz an dem ich dann Stück für Stück, Schlag für Schlag scheitern könnte, aber auch den festen Vorsatz auszubrechen und alles ganz anders zu machen, hatte ich nicht. Ich hatte ja nicht einmal mich, oder ein feststehendes Bild von mir, nur ein kleines bisschen Sehnsucht und eine winzige Hoffnung, die das alles Tag für Tag aufrecht erhielt.
Vielleicht suchte ich etwas, das mich aufhielt, vielleicht ging ich darum immer wieder an dem Gefängnis vorbei, das Franz Biberkopf damals (und in meiner Vorstellung immer wieder) so zögerlich verlassen hatte.
Aber natürlich war nicht 1929, das war lange vorbei, und ich war kein Mann. Die Zeit hatte alles verändert, diejenigen, die damals in den Gefängnissen saßen und die Freiheit fürchteten, weil man vielleicht nirgendwo so gut wie in einem Gefängnis begreifen kann, dass es keine Freiheit gibt, dass das alles leere Worte sind und das einzige, das zählt, ist die Hoffnung und darum ist es so wichtig, sich davor zu schützen. Diejenigen, die das damals begriffen hatten, waren längst tot, aber diese Tatsache nicht. Diese Art Wahrheit war nicht totzukriegen. Nicht mit den sich verändernden Jahreszahlen, nicht mit neuen Kleidern und anderen Staatsgrenzen.
Ich dachte an Hanna, wie sie damals mit Andrea in einer neuen Stadt neu angefangen hatte. Auf einmal konnte ich mir vorstellen, dass sie nur deshalb hier her gekommen war, um eine Traurigkeit, die sie nicht wahrhaben wollte in eine andere Traurigkeit zu kleiden, die sie hinter sich lassen konnte, wenn sie wieder ging.
Seit einigen Tagen, stellte ich mir ständig vor, wie es sein würde zurückzukehren. Ich fragte mich, ob alles wieder so sein könnte wie vorher, stellte mir vor, wie Luigi vor dem Salon stehen würde, wie er dort schon seit Tagen auf mich wartete, weil er längst zurückgekehrt war und ich war völlig überflüssigerweise immer noch hier, in dieser Stadt, um ihn zu suchen.
Aber ich wusste, dass ich mir etwas vormachte. Das Warten war in Ordnung gewesen, die Suche auch. Aber das hier, der Versuch mich selbst zu täuschen, mich selbst in die Irre zu führen, das ging nicht. Trotzdem verirrte ich mich immer wieder in den Erinnerungen.
Wie leer ich mich fühlte, nachdem ich die Schule abgeschlossen hatte und Andrea und Frank nicht müde wurden von Zukunft zu reden, von Andreas Ausstellung und Franks Aufstiegschancen, von Studienplätzen und Praktika im Ausland.
„Was willst du werden?“, fragten sie mich immer wieder mit dieser Bestimmtheit, mit der sie von Anfang an festgelegt hatten, wer ich bin.
Es war zu laut. Man hörte zu viel von den Dingen, von denen man nichts wissen wollte. Ich wollte das alles hinter mir lassen, die Vorwürfe und die Erwartungen, die geordneten Bahnen und die, die mein Leben lenken wollten. Das konnte unmöglich alles sein. Das Fehlen nicht auszusprechen und auf diese Weise zu hoffen, es werde ganz von allein verschwinden.
Ich wusste, dass ich mir etwas vormachte. Dass man das von mir erwartete, wusste ich auch. Was ich nicht wusste war, woher ich den Mut nehmen sollte, meinen Eltern zu sagen, dass ich den Ausbildungsvertrag bei Herrn Richter längst unterschrieben hatte.
„Ich werde Friseurin“, hatte ich schließlich gesagt. Und während dieser Satz noch durch die Luft segelte, durch unser fast leeres Wohnzimmer schwebte und kurz über der Kerze auf dem Glastisch verweilte, legte sich Ratlosigkeit auf die Gesichter meiner Eltern. Auf dem Tisch lag eine Zeitung. Man trug jetzt wieder schwarz – rot – gold.
„Nur weil du blond bist“, hatte Frank gesagt und gelacht, „musst du doch keine Friseuse werden.“
Andrea hatte mich angesehen und ihre Patchworkdecke noch etwas enger um die Schultern gezogen.
Frank sagte: „Du wirst mit den Leuten reden müssen, Lisa, hast du daran gedacht? Über das was in den großen Boulevardblättern steht, du musst antworten und fragen, Geschichten aus ihnen herausholen. Nur mit Zuhören ist es nicht getan.“
Er lächelte, er hielt das alles immer noch für einen mehr oder weniger misslungenen Scherz.
Und Andrea unterstützte ihn: „Du wirst aufmerksam sein müssen. Noch einen Kaffee, Frau Meier? Darf ich Ihnen aus dem Mantel helfen, Herr Schmidt?“
Daran konnte ich mich noch erinnern. Dann war die Erinnerung nur noch ein Bild. Nur innerhalb dieses Bildes fanden die Bewegungen statt. Minimale Bewegungen, die eine Flasche hielten, ein Glas füllten, einen Arm hoben. An die Worte, die ja auch gefallen sein mussten, erinnerte ich mich nicht.
Letztendlich waren sie froh, dass ich diese Lehre angefangen hatte, weil ich jetzt nicht mehr ziellos (heillos) durch die Gegend lief, allein, verwildert und mit einem Blick, der den Menschen Angst machte, der sie mit Abscheu erfüllte, weil sich ihre eigene Bedürftigkeit darin spiegelte.
Dabei tat ich nichts Böses. Sie sammelten Erfahrungen und ich sammelte Regenwürmer, die ich später an ausgewählten Orten wieder aussetzte.