Von Hunden und Menschen
Verfasst: 11.02.2011, 16:18
Von Hunden und Menschen
Hunde und Alzheimerkranke haben mindestens zwei Dinge gemeinsam. Zum Einen weiß man nie, was in ihrem Kopf wirklich vor sich geht. Wenn ich zum Beispiel meinen Vater bei meiner Schwester abhole, um mit ihm unsere allsamstägliche Spazierfahrt durch den Schlosspark zu unternehmen, dann sitzt er, der Jahreszeit entsprechend eingepackt, in seinem Rollstuhl und würdigt mich meist keines Blickes. Erst wenn meine Schwester ihn mit lauter Stimme auf meine Anwesenheit aufmerksam macht, schaut er kurz auf, nickt ein- oder zwei Mal mit seinem schweren Schädel, um dann wieder in sich zusammenzusacken, die Schultern noch ein wenig weiter nach vorne gebeugt, so dass man den Eindruck bekommt, der anstehende Spaziergang wäre für ihn eine größer Qual, als für mich. Aber prompt komme ich einen Samstag nicht, dann, so berichtet es meine Schwester, ist er unerklärlich unruhig und greift sich aus Regalen oder von Kommoden Gegenstände, die irgendetwas mit mir zu tun haben. Als würde er mich vermissen. Als würde er gerne von mir durch die Gegend geschoben werden, was ich nun wirklich nicht glaube.
Bei einer Gelegenheit jedoch schaute er mich offen an, mit seinen gelben Augen über den schweren Tränensäcken, die seine Lieder herabziehen und die Augen aussehen lassen, wie kleine Spiegeleier, ein Blick, in dem eine Menge Gefühl zu sein schien. Spontan umarmte ich ihn, worauf er grässlich anfing zu heulen und zu schreien, selbst als ich ihn schon lange wieder losgelassen hatte. Seitdem vermeide ich jeden Körperkontakt, auch wenn es manchmal so ausschaut, als bettele er darum. Für Zärtlichkeiten aller Art, ist nur noch meine Schwester zuständig.
Was Hunde angeht, habe ich seit zwei Wochen reichlich Gelegenheit Erfahrungen zu sammeln. Meine Freundin, eine mäßig erfolgreiche freie Journalistin, entschloss sich kurzfristig John Kerry bei der Schlussphase seines Wahlkampfes zu begleiten, um daraus eine Story oder gar ein Buch zu machen. Ihren grizzlybärgroßen Leonberger, den sie sonst bei ihrer Mutter lässt, was dieses Mal aber nicht möglich war, da diese für etliche Wochen auf Kur in Bad Kohlgrub verweilt, gab sie bei mir in Herberge.
Das Tier ist zwar herzensgut, aber reichlich nervös, bei Hunden seiner Größe eher unüblich. Trotzdem akzeptierte er seine neue Umgebung sofort. Geplagt von fortgeschrittener Hüftdysplasie und einer chronischen Hyperthyreose, nähert sich Ulysses mit großen Schritten dem letzten Gang zum Tierarzt, obwohl er mit fünf Jahren noch recht jung ist. Nach der Kerry-Geschichte, so meine Freundin, wolle sie den schweren Weg antreten, damit der Hund nicht länger zu leiden hätte, und sie auch nicht.
Ob der Hund leidet, weiß ich nicht. Ich weiß eigentlich gar nichts, was die Gefühle des Tieres angeht, und wenn mich eine gewisse Unruhe in seinem Verhalten oder ein langer Blick aus seinen, in Form und wässrigem Glanz denen meines Vaters nicht ganz unähnlichen, Augen glauben lässt, er wolle vielleicht mal eben sein Geschäft erledigen, hat das oft zur Folge, dass er, ohne jedwede Anstallten sich zu lösen, in der Wiese vor dem Haus weiterschläft. Genauso gut kann er aber auch, nach einem ausgedehnten Nickerchen vor der Couch oder im Flur, einfach aufspringen und ohne einen Ton von sich zu geben, vor die Badezimmertür urinieren oder koten. Dergleichen passiert mir mit der Fütterei oder anderen Bedürfnissen, die ich aus seinem Gesichtsausdruck herauszulesen meine. Meistens liege ich daneben. Wie bei meinem Vater.
Die zweite Gemeinsamkeit zwischen dem Tier und dem Kranken ist, dass die Konfrontation mit ihnen den wahren Charakter eines Menschen zum Vorschein bringt. Ich schließe mich da nicht aus. Die Unergründlichkeit dieser beiden Wesen ist eine Herausforderung an meinen Altruismus und an meine Geduld. Meinen Vater schiebe ich meist wortlos durch die Grünanlagen des Nymphenburger Schlosses. Wenn ich etwas sage, dann nur, weil er etwas fallen lässt, er anfängt andere Leute in unverständlichen Worten anzureden da er sie für seine Mutter oder seinen Vater hält, oder wenn er, was dann das schlimmste ist, sich die Hosen so voll macht, dass die Windeln weder der Feuchtigkeit noch des Geruchs Herr werden. Ich schimpfe nicht mit ihm, aber rede ihn so an, als hätte er es absichtlich getan, was ja genauso schlimm ist. Er macht nichts absichtlich. Oder umgekehrt. Er macht alles absichtlich, hat aber vergessen, welche Dinge man nicht absichtlich macht.
Mit dem Hund ergeht es mir ähnlich. Das große Tier erweckt so sehr den Eindruck Herr seiner selbst zu sein, da fällt es einem schwer zu akzeptieren, dass er zu hundert Prozent unter dem Diktum seines Instinktes steht. Und seiner Prägung natürlich. So stolz wirkt dieses kalbsgroße Viech mit seinen herabhängenden Lefzen und dem stoischen Gesichtsausdruck, da kann man die Verweigerung eines klaren Befehls, wie Komm, Sitz, Bleib, nur als bewusste Auflehnung gegen die unumstößliche Autorität des (in meinem Fall Interim-) Alphawolfes deuten, oder als Zeichen einer ausgeprägten Abneigung. Wie auch immer, man mag ihn dann spazierenwatschen, den Sauhund.
Aber nicht nur mein Charakter wird in der Konfrontation mit Dementen oder Caniden offenbar, auch der anderer Personen. Ich hatte Ulysses gerade mal ein paar Tage und schon war wieder Samstag und es stellte sich mir die Frage, ob man Hund und Vater in einem Aufwasch hinter sich bringen könnte, zumindest was ihren Auslauf anging. Ich beschloss, es darauf ankommen zu lassen, verstaute Ulysses im Heck meines Kombi, fuhr zu meiner Schwester um Vater abzuholen und danach mit beiden zum Schloss.
Die meiste Zeit ignorierten sie sich. Ulysses ging an der langen Leine etwa drei Meter vor oder hinter uns. Mein Vater zupfte Fussel aus der Decke, die um seine Beine gewickelt war, brabbelte dabei unverständliches Zeugs und ließ, wie der Hund, den Speichel tropfen.
Hundebesitzer nun sind ein ganz eigenes Völkchen, eine Art Sekte sozusagen, zu der niemand Zutritt erhält, es sei denn, ein Vierbeiner, egal welcher Größe oder Rasse, ziert seine Flanke. Für den Hundebesitzer, vor allen für die Fundamentalisten unter ihnen, ist jeder Nichthundehalter ein potenzieller Feind. Der gemeine Spaziergänger ein noch geduldeter, die Mutter mit Kinderwagen oder freilaufenden Gören ein schon argwöhnisch zu beäugender, der Jogger aber, oder schlimmer noch, Inlineskater oder Radfahrer, eine unter größtem Misstrauen zu begegnende Spezies, die es schon bei der geringsten Annäherung an den eigenen Vierbeiner zu beschimpfen gilt. Rollstuhlfahrer und deren Schieber fallen in eine Unterkategorie, zwischen die Spaziergänger und die Mütter. Man teilt sich halt den Lebensraum, gezwungenermaßen. Da Hunde einen geregelten Tagesablauf bevorzugen, passen sich Herrchen und Frauchen schnell an, und so sehe ich jeden Samstag meist die gleichen Mensch/Hund Paarungen auf den weißen Schotterwegen des Schlossparks. Da gibt’s diesen langen Schlacks, schmales Gesicht mit einem ausladenden Kinn wie Nick Knatterton, Beamter oder Arzt im Ruhestand, mit seinem deutschen Pinscher; den dicken weißbärtigen mit Lederweste und dunkler Jeans, schätzungsweise pensionierter Polizist, mit dem obligatorischen deutschen Schäferhund; die etwas knöchrig wirkende Dame um die Fünfzig mit ihrem ebenso knöchrigen Greyhound. Und noch ein paar andere.
So reserviert sich der Hundehalter gegenüber dem tierlosen Artgenossen verhält, so offen ist er gegenüber jedem, der von Vierbeinern begleitet wird. Als ich das zum ersten Mal erlebte, dachte ich mir, einsame Menschen sollten sich einfach einen Hund anschaffen. Es ist schier unmöglich in Begleitung eines Hundes nicht auf die ein oder andere Art und Weise angesprochen zu werden.
Aufgrund seiner Schilddrüsenüberfunktion ist Ulysses an manchen Tagen leicht reizbar. Auch Daddy hatte einen nicht so guten Tag und so kam es, dass nach gut einer Stunde die Aufnahmefähigkeit der Windeln meines Vaters erschöpft war und der Hund alles und jeden anknurrte, dem er begegnete. Leider war ich da gerade am anderen Ende des Parks und wir hatten noch ein gutes Stück Weg bis zum Auto. Unterwegs begegneten wir der Lederweste und Nick Knatterton, Herrchen wie Hundchen miteinander beschäftigt. Ich hatte Ulysses, der ewigen Zieherei überdrüssig, abgeleint und so lief er stracks zu den beiden Hunden, die sich gegenseitig übers Grün jagten.
„Schöner Kerl“, meinte die Lederweste, als ich die beiden erreichte und da es mir schien, dass Ulysses seine Gereiztheit kurzzeitig beiseite gelegt hatte, beschloss ich einen Moment zu verweilen. Es ging ein leichter Wind, der die unguten Gerüche, die unter Vaters Decke hervorstrudelten, in Richtung Wald davon wehte.
„Ja“, sagte ich, „ist von einer Freundin.“
„Leonberger?“, fragte Nick Knatterton und antwortete sich selber mit eifrigem Kopfnicken.
Miss Greyhound stieß zu unserer Gruppe. Ihr graues Gerippe von Hund gesellte sich zu den anderen und beschnüffelte ausgiebig alle anwesenden Hundeärsche.
„Das ist aber ein Schöner“, bemerkte sie und zu mir gewand fügte sie hinzu:
„Ist das ihrer?“
„Ja, von einer Freundin.“
Mein Daddy ließ einen kurzen Rölpser fahren und zog für eine Sekunde die Blicke auf sich. Da die Hunde jedoch nicht von ihrer gegenseitigen Beschnüffelung abgelenkt wurden, beschloss man in stiller Übereinkunft dieses Lebenszeichen des Rollstuhlinsassen zu ignorieren. Der allerdings schien ein wenig Aufmerksamkeit für seine Person für angebracht zu halten und begann laut zu rufen. Irgendwas von „Mami“ und „Schön dich zu sehen“ und dabei streckte er seine Arme in Richtung der Lederweste aus.
„Vaterjetztberuhigdichmal“, flüsterte ich ihm ins Ohr und drückte seine Arme auf die Lehne zurück.
„Syssszzzschlllluxxx“, sagte er feucht und laut. Lauter noch gluckste es in seinen Windeln.
„Alzheimer“, sagte ich entschuldigend mit wedelnder Geste vor dem Gesicht. Ich erntete ein verständnisvolles Nicken der Umstehenden, welches mich ein wenig beruhigte.
„Mit meiner Großmutter ging´s ähnlich“, ließ die Lederweste wissen, „konnte am Ende auch nichts mehr alleine machen, Sie verstehen. Pflege von morgens bis abends. Ein Leben ist das nicht mehr.“
Kollektives Kopfschütteln jetzt, als Zeichen der Zustimmung. Davon ermutigt setzte die Lederweste hinzu:
„Eine Qual für alle Beteiligten. Waren dann irgendwie froh, als es zu Ende war. War schlimm, natürlich, aber besser letztendlich. Ist eine Schande, wenn jemand so dahinvegetiert.“
„Es gibt ja welche“, meinte Miss Greyhound, hielt dann aber inne, als hätte sie sich vor ihren eigenen Gedanken erschreckt. Sagte aber schließlich:
„Naja, welche die dann dafür sorgen, dass das Drama ein Ende hat. Und wenn alle damit einverstanden sind....“ Verstummte wieder, in der Hoffnung, jemand würde den Satz für sie beenden. Tat niemand, aber alle nickten, auch mein Vater, allerdings in Richtung der Begonien unter einer moosbekleideten Steinstatue.
Dann gab´s ein Gerangel zwischen Ulysses und dem Schäferhund, der Hamlet hieß. (Toller Name für einen Hund, dachte ich. Es gibt allerdings ein Gedicht von Sarah Kirsch über eine Frau in einem KZ. Der Aufseher dort im Lager hat auch einen Schäferhund, der Hamlet heißt. Seitdem ich dieses Gedicht gelesen habe, gefällt mir der Name nicht mehr sonderlich.)
Die Lederweste brachte die Streithähne auseinander und bestrafte Hamlet mit einem Tritt ins Hinterteil. Ulysses lief einen großen Kreis um uns herum und lies sich dann neben Miss Greyhound nieder, die das Fellmonster eifrig zu streicheln begann.
„Wie alt isser denn?“, wollte sie wissen.
„Fünf, glaube ich", bekam sie von mir zur Antwort, und weil auch die beiden Herren so freundlich und zustimmend nickten, als sei es mein Verdienst, dass Ulysses schon dieses Alter erreicht hatte, ja weil sich in diesen Augenblick so etwas wie ein Zugehörigkeitsgefühl in mir breit machte (und ich frage Sie, wer ist vor solchen Eitelkeiten gefeit?), und ich meinte dieses Gefühl durch eine weitere Äußerung über den Hund noch ein wenig intensivieren zu können, machte ich einen schweren Fehler, indem ich folgendes erwähnte:
„Ja, aber viel älter wird er wohl nicht werden. Meine Freundin denkt daran, ihn einschläfern zu lassen.“
Die, wie mir jetzt auffiel, sehr runzelige Haut von Miss Greyhound formte einen erschreckten Gesichtsausdruck. Nick Knatterton hielt sich seine langfingrige Hand vor den Mund, als wäre dies die einzige Möglichkeit sich am Reden zu hindern.
„Was wollen sie?“, rief die Lederweste, immer noch damit beschäftigt seinen Schäferhund notwendige Erziehungsmaßnahmen zukommen zu lassen.
„Nicht ich“, sagte ich, „meine Freundin. Der Hund ist krank. Schilddrüse, Hüfte und was weiß ich noch alles. Leidet nur noch das Tier, meint sie.“
„Leidet?“, fragte Lederweste, der jetzt direkt vor mir stand, sodass ich zwischen grauen und braunen Barthaaren genau unterscheiden konnte.
„Ja“, entgegnete ich, gegen ein aufkommendes Unbehagen ankämpfend. „Schmerzen, ständige Nervosität, Schlafstörungen, Aggressionsverhalten.....“
„Wo ist der Hund denn aggressiv?“, unterbrach mich Nick Knatterton. „Spielt doch wie ein frommes Lämmchen.“
„Ist er ja nicht immer“, versuchte ich zu erklären, „kommt aber oftmals vor. Erregungspotenzial immer auf höchstem Level, sie verstehen. Marihuana müsste man dem Hund geben, dass würd vielleicht helfen. Ich weiß ja auch nicht.“
„So ein schöner Hund“, seufzte Miss Greyhound traurig, als läge Ulysses schon präpariert für die Todesspritze auf dem Behandlungstisch des Tierarztes.
„Ich sag ihnen was“, meinte Lederweste. „Die Leute glauben immer, wenn ihr Hund älter wird und ein paar Wehwehchen bekommt, oder anfängt ein wenig zu humpeln, müsste man gleich zum allerletzten Mittel greifen. So ein Quatsch! Sehen sie sich doch mal die Hunde an. Das sind nicht nur einfach Tiere, das sind Wesen. Die genießen das Leben, auch wenn´s hie und da mal wehtut oder zwackt. Mein letzter Schäfer, der Iltschi, der hatte auch HD, konnte zum Schluss gar nicht mehr laufen. Na und, hab‘ ein kleines Wägelchen gebastelt, ihn reingesetzt und ein bisschen rumgefahren. Im Haus hatte er eine Decke vor der Tür, da konnte er sein Geschäft hinmachen. Glücklich war der noch eine ganze Zeit. Erst als er gar nicht mehr aufstehen konnte, haben wir dann Schluss gemacht. Da war er aber schon bald sechzehn Jahre alt.“
Miss Greyhound streichelte Ulysses immer noch, hatte sich aber zwischen mich und den Hund gestellt, als müsste sie ihn vor mir beschützen.
„Sagen sie ihrer Freundin“, meinte sie, „wenn man kein Herz für Hund hat, sollte man sich keine anschaffen. Der Hund ist immer für den Menschen da. Da ist es nur recht und billig, dass der Mensch auch für den Hund da ist, wenn er ihn braucht.“
Damit wurden die Hunde zu ihren respektiven Herrchen bzw. Frauchen gerufen, angehängt und zogen, sprichwörtlich, Leine. Vater hob die Hand und rief laut: „Auf Wiedersehen!“
„Lass das!“, sagte ich grob und drückte seine Hand unsanft nach unten. Und zu Ulysses:
„Komm!“, so knapp und gefühllos, wie man das Wort nur aussprechen kann.
Ich glaube, meine Freundin wird mit ihrem John Kerry Projekt scheitern. Sie will zu sehr, dass er gewinnt. Sie reist ihm mehr als Fan, denn als Journalistin hinterher. Sosehr hasst sie den Bush, dass ihr dieser konturlose Mensch Kerry wie der Heilsbringer persönlich vorkommt. Sie ist einfach zu sentimental. Das vernebelt den Blick für die Realität. Auch ein Grund, warum sie mit dem Hund nicht klar kommt. Sie ist nicht in der Lage die Realität zu akzeptieren, kann sich aber auch keine eigene zurechtbasteln. Mir geht’s mit meinem Vater ja ähnlich. Da haben diese Hundebesitzer uns schon etwas voraus, so wie sie Lebensberechtigungen verteilen. Ich glaube, auf die Art lebt man viel besser. Und dem Hund hilft´s ja auch.
Einen Unterschied gibt’s zwischen Alzheimerkranken und Hunden. Die leicht angetrocknete Hundescheiße riecht stark nach Ammoniak.
Hunde und Alzheimerkranke haben mindestens zwei Dinge gemeinsam. Zum Einen weiß man nie, was in ihrem Kopf wirklich vor sich geht. Wenn ich zum Beispiel meinen Vater bei meiner Schwester abhole, um mit ihm unsere allsamstägliche Spazierfahrt durch den Schlosspark zu unternehmen, dann sitzt er, der Jahreszeit entsprechend eingepackt, in seinem Rollstuhl und würdigt mich meist keines Blickes. Erst wenn meine Schwester ihn mit lauter Stimme auf meine Anwesenheit aufmerksam macht, schaut er kurz auf, nickt ein- oder zwei Mal mit seinem schweren Schädel, um dann wieder in sich zusammenzusacken, die Schultern noch ein wenig weiter nach vorne gebeugt, so dass man den Eindruck bekommt, der anstehende Spaziergang wäre für ihn eine größer Qual, als für mich. Aber prompt komme ich einen Samstag nicht, dann, so berichtet es meine Schwester, ist er unerklärlich unruhig und greift sich aus Regalen oder von Kommoden Gegenstände, die irgendetwas mit mir zu tun haben. Als würde er mich vermissen. Als würde er gerne von mir durch die Gegend geschoben werden, was ich nun wirklich nicht glaube.
Bei einer Gelegenheit jedoch schaute er mich offen an, mit seinen gelben Augen über den schweren Tränensäcken, die seine Lieder herabziehen und die Augen aussehen lassen, wie kleine Spiegeleier, ein Blick, in dem eine Menge Gefühl zu sein schien. Spontan umarmte ich ihn, worauf er grässlich anfing zu heulen und zu schreien, selbst als ich ihn schon lange wieder losgelassen hatte. Seitdem vermeide ich jeden Körperkontakt, auch wenn es manchmal so ausschaut, als bettele er darum. Für Zärtlichkeiten aller Art, ist nur noch meine Schwester zuständig.
Was Hunde angeht, habe ich seit zwei Wochen reichlich Gelegenheit Erfahrungen zu sammeln. Meine Freundin, eine mäßig erfolgreiche freie Journalistin, entschloss sich kurzfristig John Kerry bei der Schlussphase seines Wahlkampfes zu begleiten, um daraus eine Story oder gar ein Buch zu machen. Ihren grizzlybärgroßen Leonberger, den sie sonst bei ihrer Mutter lässt, was dieses Mal aber nicht möglich war, da diese für etliche Wochen auf Kur in Bad Kohlgrub verweilt, gab sie bei mir in Herberge.
Das Tier ist zwar herzensgut, aber reichlich nervös, bei Hunden seiner Größe eher unüblich. Trotzdem akzeptierte er seine neue Umgebung sofort. Geplagt von fortgeschrittener Hüftdysplasie und einer chronischen Hyperthyreose, nähert sich Ulysses mit großen Schritten dem letzten Gang zum Tierarzt, obwohl er mit fünf Jahren noch recht jung ist. Nach der Kerry-Geschichte, so meine Freundin, wolle sie den schweren Weg antreten, damit der Hund nicht länger zu leiden hätte, und sie auch nicht.
Ob der Hund leidet, weiß ich nicht. Ich weiß eigentlich gar nichts, was die Gefühle des Tieres angeht, und wenn mich eine gewisse Unruhe in seinem Verhalten oder ein langer Blick aus seinen, in Form und wässrigem Glanz denen meines Vaters nicht ganz unähnlichen, Augen glauben lässt, er wolle vielleicht mal eben sein Geschäft erledigen, hat das oft zur Folge, dass er, ohne jedwede Anstallten sich zu lösen, in der Wiese vor dem Haus weiterschläft. Genauso gut kann er aber auch, nach einem ausgedehnten Nickerchen vor der Couch oder im Flur, einfach aufspringen und ohne einen Ton von sich zu geben, vor die Badezimmertür urinieren oder koten. Dergleichen passiert mir mit der Fütterei oder anderen Bedürfnissen, die ich aus seinem Gesichtsausdruck herauszulesen meine. Meistens liege ich daneben. Wie bei meinem Vater.
Die zweite Gemeinsamkeit zwischen dem Tier und dem Kranken ist, dass die Konfrontation mit ihnen den wahren Charakter eines Menschen zum Vorschein bringt. Ich schließe mich da nicht aus. Die Unergründlichkeit dieser beiden Wesen ist eine Herausforderung an meinen Altruismus und an meine Geduld. Meinen Vater schiebe ich meist wortlos durch die Grünanlagen des Nymphenburger Schlosses. Wenn ich etwas sage, dann nur, weil er etwas fallen lässt, er anfängt andere Leute in unverständlichen Worten anzureden da er sie für seine Mutter oder seinen Vater hält, oder wenn er, was dann das schlimmste ist, sich die Hosen so voll macht, dass die Windeln weder der Feuchtigkeit noch des Geruchs Herr werden. Ich schimpfe nicht mit ihm, aber rede ihn so an, als hätte er es absichtlich getan, was ja genauso schlimm ist. Er macht nichts absichtlich. Oder umgekehrt. Er macht alles absichtlich, hat aber vergessen, welche Dinge man nicht absichtlich macht.
Mit dem Hund ergeht es mir ähnlich. Das große Tier erweckt so sehr den Eindruck Herr seiner selbst zu sein, da fällt es einem schwer zu akzeptieren, dass er zu hundert Prozent unter dem Diktum seines Instinktes steht. Und seiner Prägung natürlich. So stolz wirkt dieses kalbsgroße Viech mit seinen herabhängenden Lefzen und dem stoischen Gesichtsausdruck, da kann man die Verweigerung eines klaren Befehls, wie Komm, Sitz, Bleib, nur als bewusste Auflehnung gegen die unumstößliche Autorität des (in meinem Fall Interim-) Alphawolfes deuten, oder als Zeichen einer ausgeprägten Abneigung. Wie auch immer, man mag ihn dann spazierenwatschen, den Sauhund.
Aber nicht nur mein Charakter wird in der Konfrontation mit Dementen oder Caniden offenbar, auch der anderer Personen. Ich hatte Ulysses gerade mal ein paar Tage und schon war wieder Samstag und es stellte sich mir die Frage, ob man Hund und Vater in einem Aufwasch hinter sich bringen könnte, zumindest was ihren Auslauf anging. Ich beschloss, es darauf ankommen zu lassen, verstaute Ulysses im Heck meines Kombi, fuhr zu meiner Schwester um Vater abzuholen und danach mit beiden zum Schloss.
Die meiste Zeit ignorierten sie sich. Ulysses ging an der langen Leine etwa drei Meter vor oder hinter uns. Mein Vater zupfte Fussel aus der Decke, die um seine Beine gewickelt war, brabbelte dabei unverständliches Zeugs und ließ, wie der Hund, den Speichel tropfen.
Hundebesitzer nun sind ein ganz eigenes Völkchen, eine Art Sekte sozusagen, zu der niemand Zutritt erhält, es sei denn, ein Vierbeiner, egal welcher Größe oder Rasse, ziert seine Flanke. Für den Hundebesitzer, vor allen für die Fundamentalisten unter ihnen, ist jeder Nichthundehalter ein potenzieller Feind. Der gemeine Spaziergänger ein noch geduldeter, die Mutter mit Kinderwagen oder freilaufenden Gören ein schon argwöhnisch zu beäugender, der Jogger aber, oder schlimmer noch, Inlineskater oder Radfahrer, eine unter größtem Misstrauen zu begegnende Spezies, die es schon bei der geringsten Annäherung an den eigenen Vierbeiner zu beschimpfen gilt. Rollstuhlfahrer und deren Schieber fallen in eine Unterkategorie, zwischen die Spaziergänger und die Mütter. Man teilt sich halt den Lebensraum, gezwungenermaßen. Da Hunde einen geregelten Tagesablauf bevorzugen, passen sich Herrchen und Frauchen schnell an, und so sehe ich jeden Samstag meist die gleichen Mensch/Hund Paarungen auf den weißen Schotterwegen des Schlossparks. Da gibt’s diesen langen Schlacks, schmales Gesicht mit einem ausladenden Kinn wie Nick Knatterton, Beamter oder Arzt im Ruhestand, mit seinem deutschen Pinscher; den dicken weißbärtigen mit Lederweste und dunkler Jeans, schätzungsweise pensionierter Polizist, mit dem obligatorischen deutschen Schäferhund; die etwas knöchrig wirkende Dame um die Fünfzig mit ihrem ebenso knöchrigen Greyhound. Und noch ein paar andere.
So reserviert sich der Hundehalter gegenüber dem tierlosen Artgenossen verhält, so offen ist er gegenüber jedem, der von Vierbeinern begleitet wird. Als ich das zum ersten Mal erlebte, dachte ich mir, einsame Menschen sollten sich einfach einen Hund anschaffen. Es ist schier unmöglich in Begleitung eines Hundes nicht auf die ein oder andere Art und Weise angesprochen zu werden.
Aufgrund seiner Schilddrüsenüberfunktion ist Ulysses an manchen Tagen leicht reizbar. Auch Daddy hatte einen nicht so guten Tag und so kam es, dass nach gut einer Stunde die Aufnahmefähigkeit der Windeln meines Vaters erschöpft war und der Hund alles und jeden anknurrte, dem er begegnete. Leider war ich da gerade am anderen Ende des Parks und wir hatten noch ein gutes Stück Weg bis zum Auto. Unterwegs begegneten wir der Lederweste und Nick Knatterton, Herrchen wie Hundchen miteinander beschäftigt. Ich hatte Ulysses, der ewigen Zieherei überdrüssig, abgeleint und so lief er stracks zu den beiden Hunden, die sich gegenseitig übers Grün jagten.
„Schöner Kerl“, meinte die Lederweste, als ich die beiden erreichte und da es mir schien, dass Ulysses seine Gereiztheit kurzzeitig beiseite gelegt hatte, beschloss ich einen Moment zu verweilen. Es ging ein leichter Wind, der die unguten Gerüche, die unter Vaters Decke hervorstrudelten, in Richtung Wald davon wehte.
„Ja“, sagte ich, „ist von einer Freundin.“
„Leonberger?“, fragte Nick Knatterton und antwortete sich selber mit eifrigem Kopfnicken.
Miss Greyhound stieß zu unserer Gruppe. Ihr graues Gerippe von Hund gesellte sich zu den anderen und beschnüffelte ausgiebig alle anwesenden Hundeärsche.
„Das ist aber ein Schöner“, bemerkte sie und zu mir gewand fügte sie hinzu:
„Ist das ihrer?“
„Ja, von einer Freundin.“
Mein Daddy ließ einen kurzen Rölpser fahren und zog für eine Sekunde die Blicke auf sich. Da die Hunde jedoch nicht von ihrer gegenseitigen Beschnüffelung abgelenkt wurden, beschloss man in stiller Übereinkunft dieses Lebenszeichen des Rollstuhlinsassen zu ignorieren. Der allerdings schien ein wenig Aufmerksamkeit für seine Person für angebracht zu halten und begann laut zu rufen. Irgendwas von „Mami“ und „Schön dich zu sehen“ und dabei streckte er seine Arme in Richtung der Lederweste aus.
„Vaterjetztberuhigdichmal“, flüsterte ich ihm ins Ohr und drückte seine Arme auf die Lehne zurück.
„Syssszzzschlllluxxx“, sagte er feucht und laut. Lauter noch gluckste es in seinen Windeln.
„Alzheimer“, sagte ich entschuldigend mit wedelnder Geste vor dem Gesicht. Ich erntete ein verständnisvolles Nicken der Umstehenden, welches mich ein wenig beruhigte.
„Mit meiner Großmutter ging´s ähnlich“, ließ die Lederweste wissen, „konnte am Ende auch nichts mehr alleine machen, Sie verstehen. Pflege von morgens bis abends. Ein Leben ist das nicht mehr.“
Kollektives Kopfschütteln jetzt, als Zeichen der Zustimmung. Davon ermutigt setzte die Lederweste hinzu:
„Eine Qual für alle Beteiligten. Waren dann irgendwie froh, als es zu Ende war. War schlimm, natürlich, aber besser letztendlich. Ist eine Schande, wenn jemand so dahinvegetiert.“
„Es gibt ja welche“, meinte Miss Greyhound, hielt dann aber inne, als hätte sie sich vor ihren eigenen Gedanken erschreckt. Sagte aber schließlich:
„Naja, welche die dann dafür sorgen, dass das Drama ein Ende hat. Und wenn alle damit einverstanden sind....“ Verstummte wieder, in der Hoffnung, jemand würde den Satz für sie beenden. Tat niemand, aber alle nickten, auch mein Vater, allerdings in Richtung der Begonien unter einer moosbekleideten Steinstatue.
Dann gab´s ein Gerangel zwischen Ulysses und dem Schäferhund, der Hamlet hieß. (Toller Name für einen Hund, dachte ich. Es gibt allerdings ein Gedicht von Sarah Kirsch über eine Frau in einem KZ. Der Aufseher dort im Lager hat auch einen Schäferhund, der Hamlet heißt. Seitdem ich dieses Gedicht gelesen habe, gefällt mir der Name nicht mehr sonderlich.)
Die Lederweste brachte die Streithähne auseinander und bestrafte Hamlet mit einem Tritt ins Hinterteil. Ulysses lief einen großen Kreis um uns herum und lies sich dann neben Miss Greyhound nieder, die das Fellmonster eifrig zu streicheln begann.
„Wie alt isser denn?“, wollte sie wissen.
„Fünf, glaube ich", bekam sie von mir zur Antwort, und weil auch die beiden Herren so freundlich und zustimmend nickten, als sei es mein Verdienst, dass Ulysses schon dieses Alter erreicht hatte, ja weil sich in diesen Augenblick so etwas wie ein Zugehörigkeitsgefühl in mir breit machte (und ich frage Sie, wer ist vor solchen Eitelkeiten gefeit?), und ich meinte dieses Gefühl durch eine weitere Äußerung über den Hund noch ein wenig intensivieren zu können, machte ich einen schweren Fehler, indem ich folgendes erwähnte:
„Ja, aber viel älter wird er wohl nicht werden. Meine Freundin denkt daran, ihn einschläfern zu lassen.“
Die, wie mir jetzt auffiel, sehr runzelige Haut von Miss Greyhound formte einen erschreckten Gesichtsausdruck. Nick Knatterton hielt sich seine langfingrige Hand vor den Mund, als wäre dies die einzige Möglichkeit sich am Reden zu hindern.
„Was wollen sie?“, rief die Lederweste, immer noch damit beschäftigt seinen Schäferhund notwendige Erziehungsmaßnahmen zukommen zu lassen.
„Nicht ich“, sagte ich, „meine Freundin. Der Hund ist krank. Schilddrüse, Hüfte und was weiß ich noch alles. Leidet nur noch das Tier, meint sie.“
„Leidet?“, fragte Lederweste, der jetzt direkt vor mir stand, sodass ich zwischen grauen und braunen Barthaaren genau unterscheiden konnte.
„Ja“, entgegnete ich, gegen ein aufkommendes Unbehagen ankämpfend. „Schmerzen, ständige Nervosität, Schlafstörungen, Aggressionsverhalten.....“
„Wo ist der Hund denn aggressiv?“, unterbrach mich Nick Knatterton. „Spielt doch wie ein frommes Lämmchen.“
„Ist er ja nicht immer“, versuchte ich zu erklären, „kommt aber oftmals vor. Erregungspotenzial immer auf höchstem Level, sie verstehen. Marihuana müsste man dem Hund geben, dass würd vielleicht helfen. Ich weiß ja auch nicht.“
„So ein schöner Hund“, seufzte Miss Greyhound traurig, als läge Ulysses schon präpariert für die Todesspritze auf dem Behandlungstisch des Tierarztes.
„Ich sag ihnen was“, meinte Lederweste. „Die Leute glauben immer, wenn ihr Hund älter wird und ein paar Wehwehchen bekommt, oder anfängt ein wenig zu humpeln, müsste man gleich zum allerletzten Mittel greifen. So ein Quatsch! Sehen sie sich doch mal die Hunde an. Das sind nicht nur einfach Tiere, das sind Wesen. Die genießen das Leben, auch wenn´s hie und da mal wehtut oder zwackt. Mein letzter Schäfer, der Iltschi, der hatte auch HD, konnte zum Schluss gar nicht mehr laufen. Na und, hab‘ ein kleines Wägelchen gebastelt, ihn reingesetzt und ein bisschen rumgefahren. Im Haus hatte er eine Decke vor der Tür, da konnte er sein Geschäft hinmachen. Glücklich war der noch eine ganze Zeit. Erst als er gar nicht mehr aufstehen konnte, haben wir dann Schluss gemacht. Da war er aber schon bald sechzehn Jahre alt.“
Miss Greyhound streichelte Ulysses immer noch, hatte sich aber zwischen mich und den Hund gestellt, als müsste sie ihn vor mir beschützen.
„Sagen sie ihrer Freundin“, meinte sie, „wenn man kein Herz für Hund hat, sollte man sich keine anschaffen. Der Hund ist immer für den Menschen da. Da ist es nur recht und billig, dass der Mensch auch für den Hund da ist, wenn er ihn braucht.“
Damit wurden die Hunde zu ihren respektiven Herrchen bzw. Frauchen gerufen, angehängt und zogen, sprichwörtlich, Leine. Vater hob die Hand und rief laut: „Auf Wiedersehen!“
„Lass das!“, sagte ich grob und drückte seine Hand unsanft nach unten. Und zu Ulysses:
„Komm!“, so knapp und gefühllos, wie man das Wort nur aussprechen kann.
Ich glaube, meine Freundin wird mit ihrem John Kerry Projekt scheitern. Sie will zu sehr, dass er gewinnt. Sie reist ihm mehr als Fan, denn als Journalistin hinterher. Sosehr hasst sie den Bush, dass ihr dieser konturlose Mensch Kerry wie der Heilsbringer persönlich vorkommt. Sie ist einfach zu sentimental. Das vernebelt den Blick für die Realität. Auch ein Grund, warum sie mit dem Hund nicht klar kommt. Sie ist nicht in der Lage die Realität zu akzeptieren, kann sich aber auch keine eigene zurechtbasteln. Mir geht’s mit meinem Vater ja ähnlich. Da haben diese Hundebesitzer uns schon etwas voraus, so wie sie Lebensberechtigungen verteilen. Ich glaube, auf die Art lebt man viel besser. Und dem Hund hilft´s ja auch.
Einen Unterschied gibt’s zwischen Alzheimerkranken und Hunden. Die leicht angetrocknete Hundescheiße riecht stark nach Ammoniak.