Die ISS
Verfasst: 07.02.2011, 20:25
Die ISS
Der Abend versprach in aller Gemütlichkeit abzulaufen. Beim Jubilar war der Parkinson zwar infolge einer Lungenentzündung stärker hervorgebrochen, zog sich aber gerade wieder zurück, ein glückliches Lächeln lag auf seinem Gesicht, während sein Körper unter der Wolldecke leise rüttelte. Kaum vorstellbar, dass dieses rührende weißhaarige Wrack einmal erste Plätze erritten hatte! Das war das Schöne an so einem Verein: Er hielt seinen Mitgliedern auch die Treue, wenn sie sich nicht mehr im Lichte des Erfolgs sonnten. Bertold Granitzky war einer von ihnen, der im Jahr zuvor verstorbene Hans Wendler ein anderer.
Horand hängte seinen Mantel an der Garderobe auf und schaute sich um, wo noch ein Plätzchen für ihn frei war: Dort am Tisch von Ehepaar Schwandl! Nun ja, es wollte so recht niemand bei ihnen sitzen, weil sie zwar als Sponsoren wichtig und bedeutend waren, aber gerade deshalb musste man ein bisschen aufpassen, was man sagte, die Worte sorgsam wählen, was nach dem dritten Bier nicht unbedingt leichter wurde. Vor einem halben Jahr hatte jemand Herrn Schwandl tödlich beleidigt, indem er seine Delikatessen-Manufaktur als Wurstfabrik bezeichnete, und nicht zufrieden mit diesem Fauxpas, einige Bier und Samtkragen später die Vermutung äußerte, es werde dort wohl auch so „manches Rösslein“ verarbeitet. Dieser „jemand“ hatte sich unmöglich gemacht, wurde allseits geschnitten und zog schließlich mitsamt seinem Wallach in einen anderen, weniger gut situierten Verein um, wo die Tiere z.B. keinen Paddock hinter der Box hatten.
Horand hatte trotz langjähriger Mitgliedschaft noch nicht viel Kontakt zu den Schwandls gehabt. Er zog es vor, für sich zu leben, und seit er sich in eine junge Bereiterin verliebt und darunter als der alte Knabe, der er war, nicht wenig gelitten hatte – eine Annäherung oder auch nur ihren Versuch verbot er sich mit der eisernen Strenge des um seine Würde Besorgten – war er eher noch menschenscheuer geworden und lebte ganz seinen physikalischen und astronomischen Interessen. Wenn es sternenklar war, konnte man ihn nachts mit seinem Teleskop draußen auf der Weide erblicken, wo er am wenigstens Störlicht hatte. Obgleich er die Planeten, die Sternhaufen und Spiralnebel nun schon in- und auswendig kannte und Hubble ja ohnehin konkurrenzlos präzise Bilder zur Erde funkte, liebte er dennoch die eigene Inaugenscheinnahme, gerade als ob nur sie ihn von der wirklichen Existenz dieser unglaublichen, ebenso fernen wie riesigen Phänomene überzeugen könnten. Hinzukam noch etwas anderes, aber darüber legte er sich weniger Rechenschaft ab: Wenn ihn irgendetwas bedrückte, bekümmerte – wie z.B. zeitweise die ebenso dumme wie überflüssige Verliebtheit in Bernarda – dann fand er beim Anblick der Jupitermonde, die ihr Zentralgestirn umschwebten, und des eleganten Saturnrings zu seiner inneren Ruhe zurück. Das waren Dinge, die so erhaben über allem menschlichen Kleinkram standen, dass dieser vor ihnen noch lächerlicher und obsoleter wurde, als er ja ohnehin schon war.
„Wie schön, dass Sie sich zu uns setzen, Herr Vogt!“, rief Frau Schwandl leutselig aus, als Horand sich höflich erkundigte, ob der Platz noch frei sei. „Sie sehen doch, es sind noch zwei Stühle zu haben. Wenigstens mal einer, der keine Angst vor uns hat!“ Horand war sich nicht sicher, ob sie damit Recht hatte; er hätte auch einen anderen Platz bevorzugt, aber er war halt spät gekommen, weil er noch gemistet hatte und sich anschließend erst umziehen musste. Er schwieg deshalb, nahm Platz und vertiefte sich in die Speisekarte. „Sagen Sie doch,“ ging Frau Schwandl direkt aufs Ziel los, „was haben Sie eigentlich gemacht, als Sie noch berufstätig waren? Man hört ja so dies und das – aber ich möchte es gern von Ihnen selber wissen!“ „Nun lass doch den armen Herrn Vogt zuerst einmal sein Essen und Trinken aussuchen!“, beschwichtigte Herr Schwandl seine Frau. „Es wäre gut, wenn er noch bestellte, bevor die Reden kommen, dann hat er nämlich anschließend sofort was für den Magen!“ Horand lächelte Herrn Schwandl dankbar zu, erlitt dann aber einen Schock, den er freilich verheimlichen musste. Er hatte bisher nicht darauf geachtet, wer heute Abend bediente, die uniformen schwarzen Leibchen und weißen Schürzen machten die Kellnerinnen alle gleich, aber die, die jetzt an seinen Tisch trat, war niemand anderes als Bernarda, das aschblonde Haar hochgesteckt und mit dem kecken Strahlen, das Horand einmal verunsichert hatte. Tat es das noch? Er versuchte, sich die aufsteigende Röte unauffällig, als jucke sie ihn, aus dem Gesicht zu streichen, während er bestellte – Forelle und Weizenbier, das war seine übliche Kombination, aber das konnte Bernarda nicht wissen, da sie offenbar zum ersten Mal hier bediente.
„Das junge Mädchen heizt!“, raunte Frau Schwandl ihrem Mann laut genug zu, dass auch Horand es verstehen konnte. Er tat, als habe er nichts gehört und war dankbar, als an ein Glas geklopft wurde. Das zwang ihn, sich umzuwenden, da er mit dem Rücken zur Bühne des Saales saß, die zwar nicht benutzt wurde, aber vor ihrer Rampe saß der bebende Jubilar im Rollstuhl, und der Vereinsvorsitzende hob zu seiner Pflichtrede an. Er zählte Granitzkys Siege auf, erinnerte an seine Pferde und nannte ihn einen „famosen Vereinskameraden“, der für jeden immer „ein offenes Ohr“ gehabt und bei allem Ruhm nie „abgehoben“ habe. Es gab demonstrativen Applaus, alle erhoben sich, Granitzky war so gerührt, dass ihm die Tränen kamen. Alle setzten sich wieder hin, Bernarda kam in vollem Schwung mit Fisch und Bier, dabei schwappte etwas Fischwasser über – sie entschuldigte sich und putzte es von Horands Hosenbein, während er sich erneut ein Erröten aus dem Gesicht zu streichen suchte. Da auch Schwandls ihr Essen bekommen hatten, herrschte zunächst Stille am Tisch. Dann aber konnte Horand die Beantwortung der an ihn gerichteten Frage nicht länger aufschieben.
„Ich bin Astrophysiker und war an einem Institut tätig,“ sagte er zu Frau Schwandl hinüber, die ein Stück Eisbein in der Luft schweben ließ, um kurz lächeln zu können, bevor sie es unter flinkem Herausstrecken der Zunge einschob. In diesem Moment wurde auch der Stuhl neben Horand besetzt. Es war Zygfryd, der Pferdepfleger aus Torun, der dort Platz nahm, ein Gespräch mit einem Kollegen, der am Nachbartisch untergekommen war, lautstark weiterführend. „Das ist ja wunderbar,“ sagte Frau Schwandl und schaute befriedigt auf den seines Fleisches entkleideten Knochen, „Astrophysiker! Was sind Sie dann bloß für ein gelehrtes Haus! Sicherlich können Sie eine Streitfrage klären, die ich gestern mit Erich hatte ...“ „O bitte,“ sagte Horand in eher abwehrendem Ton, „ich bin ein Spezialist, und Sie wissen doch, dass ein Spezialist von immer Weniger immer mehr weiß ...“ Herr Schwandl ergänzte gutgelaunt: „Bis er schließlich von Nichts alles weiß! Haha!“ Aber Frau Schwandl ließ sich nicht beirren. „Gestern abend war es so wundervoll klar, und da stand, Sie haben es bestimmt auch gesehen, die Internationale Raumstation direkt neben dem Mond! Ein wunderbarer Anblick, nicht wahr?“ Horand zuckte innerlich zusammen. Was gestern Abend in der Tat hell leuchtend neben dem Mond gestanden hatte, war der Jupiter gewesen. Am liebsten hätte er gelacht und gesagt: Frau Schwandl, Sie wollen mich auf den Arm nehmen! Die ISS kann man manchmal sehen, aber sie bewegt sich sehr schnell und verschwindet binnen weniger Minuten abends im Erdschatten, morgens am Horizont! Frau Schwandl war aber noch im Entzückensrausch und fuhr fort: „Was für ein herrlicher Anblick, nicht wahr? Für mich war klar, dass die Station so hell strahlte, weil das Licht des Mondes darauf fiel. Sind Sie nicht auch der Meinung? Erich hingegen meinte, es sei das Sonnenlicht, das sie zum Strahlen bringe. Was sagen Sie dazu?“
Horand wand sich innerlich. Wie konnte er aus dieser Klemme herauskommen, ohne sich zu blamieren, ohne aber auch Frau Schwandl auf eine Weise ihres Irrtums zu überführen, dass seine Aisha schon bald ohne Paddock auskommen musste? Eine Formulierung wie „Wer hat Ihnen denn den Schwachsinn erzählt, gnädige Frau?“ schied leider, leider aus. Horand beschäftigte sich angelegentlich mit seiner Forelle und rang sich schließlich zu der Formulierung durch: „Wenn ein Satellit am Himmel sichtbar wird, dann fast immer infolge des von ihm reflektierten Sonnenlichts. Er ist ja auch der Erde viel näher als der Mond und könnte dessen Licht nur von der Erde weg reflektieren, es sei denn ...“ Frau Schwandl unterbrach ihn: „Aber ist denn die ISS ein Satellit? Ist sie nicht etwas Besonderes?“ „Etwas Besonderes ist sie ohne Frage, da sie ja sehr viel größer als die meisten Satelliten und außerdem bewohnt ist.“ „Siehst du, Erich,“ sagte Frau Schwandl, „hab ich es dir nicht gesagt? Die Internationale Raumstation ist etwas ganz Besonderes!“ Herr Schwandl nickte ergeben und fand sich in sein Schicksal, der Unterlegene zu sein. Horand drehte den Fisch auf die andere Seite, und während er das weiße Fleisch auslöste, sagte er gedankenverloren. „Hinzukommt, dass die ISS meist nur für sehr kurze Zeit sichtbar ist, da sie binnen eineinhalb Stunden die Erde einmal komplett umrundet.“ „Dann war sie diesmal aber sehr lange sichtbar, ja, sie hat sich fast gar nicht bewegt!“, sagte Frau Schwandl noch sehr selbstzufrieden. Aber dann dämmerte ihr etwas. Sie zog die Brauen empor und sagte: „Oder wollen Sie damit sagen, dass es gar nicht die ISS war, die ich gesehen habe? Wollen Sie das damit sagen?“ Horand nickte müde. Aus der Sache kam er nicht mehr heraus, und so beschloss er sie in Würde abzuschließen. „Der helle Stern beim Mond gestern Abend war der Jupiter,“ sagte er leise. „Es tut mir leid, aber die ISS war es auf keinen Fall. Ich kann Ihnen aber gerne mal Bescheid geben, wenn die ISS zu sehen ist, dann können wir sie zusammen vorüberziehen sehen!“ Aber Frau Schwandl war schon aufgestanden. „Komm Erich,“ sagte sie, „diese Art von Besserwisserei ist einfach unerträglich!“ Sie rauschte, ihren Mann im Kielwasser, hinaus.
Der Vorsitzende kam an Horands Tisch und fragte: „Was war los?“ Er lächelte und hoffte auf eine harmlose Antwort. „Ich fürchte, ich habe sie verstimmt,“ sagte Horand. „Es tut mir leid.“ Es war still geworden im Saal. Horand stand auf, grüßte verhalten ringsum und ging hinaus. Als er den Stall betrat, reckten gleich mehrere Pferde die Köpfe hervor. Er nahm Möhren aus dem Korb und gab jedem eine. Aisha beschnoberte ihn, er klopfte ihr Hals und Ganaschen: „Es wird alles gut!“, murmelte er. „Es wird alles gut, meine Süße!“
Der Abend versprach in aller Gemütlichkeit abzulaufen. Beim Jubilar war der Parkinson zwar infolge einer Lungenentzündung stärker hervorgebrochen, zog sich aber gerade wieder zurück, ein glückliches Lächeln lag auf seinem Gesicht, während sein Körper unter der Wolldecke leise rüttelte. Kaum vorstellbar, dass dieses rührende weißhaarige Wrack einmal erste Plätze erritten hatte! Das war das Schöne an so einem Verein: Er hielt seinen Mitgliedern auch die Treue, wenn sie sich nicht mehr im Lichte des Erfolgs sonnten. Bertold Granitzky war einer von ihnen, der im Jahr zuvor verstorbene Hans Wendler ein anderer.
Horand hängte seinen Mantel an der Garderobe auf und schaute sich um, wo noch ein Plätzchen für ihn frei war: Dort am Tisch von Ehepaar Schwandl! Nun ja, es wollte so recht niemand bei ihnen sitzen, weil sie zwar als Sponsoren wichtig und bedeutend waren, aber gerade deshalb musste man ein bisschen aufpassen, was man sagte, die Worte sorgsam wählen, was nach dem dritten Bier nicht unbedingt leichter wurde. Vor einem halben Jahr hatte jemand Herrn Schwandl tödlich beleidigt, indem er seine Delikatessen-Manufaktur als Wurstfabrik bezeichnete, und nicht zufrieden mit diesem Fauxpas, einige Bier und Samtkragen später die Vermutung äußerte, es werde dort wohl auch so „manches Rösslein“ verarbeitet. Dieser „jemand“ hatte sich unmöglich gemacht, wurde allseits geschnitten und zog schließlich mitsamt seinem Wallach in einen anderen, weniger gut situierten Verein um, wo die Tiere z.B. keinen Paddock hinter der Box hatten.
Horand hatte trotz langjähriger Mitgliedschaft noch nicht viel Kontakt zu den Schwandls gehabt. Er zog es vor, für sich zu leben, und seit er sich in eine junge Bereiterin verliebt und darunter als der alte Knabe, der er war, nicht wenig gelitten hatte – eine Annäherung oder auch nur ihren Versuch verbot er sich mit der eisernen Strenge des um seine Würde Besorgten – war er eher noch menschenscheuer geworden und lebte ganz seinen physikalischen und astronomischen Interessen. Wenn es sternenklar war, konnte man ihn nachts mit seinem Teleskop draußen auf der Weide erblicken, wo er am wenigstens Störlicht hatte. Obgleich er die Planeten, die Sternhaufen und Spiralnebel nun schon in- und auswendig kannte und Hubble ja ohnehin konkurrenzlos präzise Bilder zur Erde funkte, liebte er dennoch die eigene Inaugenscheinnahme, gerade als ob nur sie ihn von der wirklichen Existenz dieser unglaublichen, ebenso fernen wie riesigen Phänomene überzeugen könnten. Hinzukam noch etwas anderes, aber darüber legte er sich weniger Rechenschaft ab: Wenn ihn irgendetwas bedrückte, bekümmerte – wie z.B. zeitweise die ebenso dumme wie überflüssige Verliebtheit in Bernarda – dann fand er beim Anblick der Jupitermonde, die ihr Zentralgestirn umschwebten, und des eleganten Saturnrings zu seiner inneren Ruhe zurück. Das waren Dinge, die so erhaben über allem menschlichen Kleinkram standen, dass dieser vor ihnen noch lächerlicher und obsoleter wurde, als er ja ohnehin schon war.
„Wie schön, dass Sie sich zu uns setzen, Herr Vogt!“, rief Frau Schwandl leutselig aus, als Horand sich höflich erkundigte, ob der Platz noch frei sei. „Sie sehen doch, es sind noch zwei Stühle zu haben. Wenigstens mal einer, der keine Angst vor uns hat!“ Horand war sich nicht sicher, ob sie damit Recht hatte; er hätte auch einen anderen Platz bevorzugt, aber er war halt spät gekommen, weil er noch gemistet hatte und sich anschließend erst umziehen musste. Er schwieg deshalb, nahm Platz und vertiefte sich in die Speisekarte. „Sagen Sie doch,“ ging Frau Schwandl direkt aufs Ziel los, „was haben Sie eigentlich gemacht, als Sie noch berufstätig waren? Man hört ja so dies und das – aber ich möchte es gern von Ihnen selber wissen!“ „Nun lass doch den armen Herrn Vogt zuerst einmal sein Essen und Trinken aussuchen!“, beschwichtigte Herr Schwandl seine Frau. „Es wäre gut, wenn er noch bestellte, bevor die Reden kommen, dann hat er nämlich anschließend sofort was für den Magen!“ Horand lächelte Herrn Schwandl dankbar zu, erlitt dann aber einen Schock, den er freilich verheimlichen musste. Er hatte bisher nicht darauf geachtet, wer heute Abend bediente, die uniformen schwarzen Leibchen und weißen Schürzen machten die Kellnerinnen alle gleich, aber die, die jetzt an seinen Tisch trat, war niemand anderes als Bernarda, das aschblonde Haar hochgesteckt und mit dem kecken Strahlen, das Horand einmal verunsichert hatte. Tat es das noch? Er versuchte, sich die aufsteigende Röte unauffällig, als jucke sie ihn, aus dem Gesicht zu streichen, während er bestellte – Forelle und Weizenbier, das war seine übliche Kombination, aber das konnte Bernarda nicht wissen, da sie offenbar zum ersten Mal hier bediente.
„Das junge Mädchen heizt!“, raunte Frau Schwandl ihrem Mann laut genug zu, dass auch Horand es verstehen konnte. Er tat, als habe er nichts gehört und war dankbar, als an ein Glas geklopft wurde. Das zwang ihn, sich umzuwenden, da er mit dem Rücken zur Bühne des Saales saß, die zwar nicht benutzt wurde, aber vor ihrer Rampe saß der bebende Jubilar im Rollstuhl, und der Vereinsvorsitzende hob zu seiner Pflichtrede an. Er zählte Granitzkys Siege auf, erinnerte an seine Pferde und nannte ihn einen „famosen Vereinskameraden“, der für jeden immer „ein offenes Ohr“ gehabt und bei allem Ruhm nie „abgehoben“ habe. Es gab demonstrativen Applaus, alle erhoben sich, Granitzky war so gerührt, dass ihm die Tränen kamen. Alle setzten sich wieder hin, Bernarda kam in vollem Schwung mit Fisch und Bier, dabei schwappte etwas Fischwasser über – sie entschuldigte sich und putzte es von Horands Hosenbein, während er sich erneut ein Erröten aus dem Gesicht zu streichen suchte. Da auch Schwandls ihr Essen bekommen hatten, herrschte zunächst Stille am Tisch. Dann aber konnte Horand die Beantwortung der an ihn gerichteten Frage nicht länger aufschieben.
„Ich bin Astrophysiker und war an einem Institut tätig,“ sagte er zu Frau Schwandl hinüber, die ein Stück Eisbein in der Luft schweben ließ, um kurz lächeln zu können, bevor sie es unter flinkem Herausstrecken der Zunge einschob. In diesem Moment wurde auch der Stuhl neben Horand besetzt. Es war Zygfryd, der Pferdepfleger aus Torun, der dort Platz nahm, ein Gespräch mit einem Kollegen, der am Nachbartisch untergekommen war, lautstark weiterführend. „Das ist ja wunderbar,“ sagte Frau Schwandl und schaute befriedigt auf den seines Fleisches entkleideten Knochen, „Astrophysiker! Was sind Sie dann bloß für ein gelehrtes Haus! Sicherlich können Sie eine Streitfrage klären, die ich gestern mit Erich hatte ...“ „O bitte,“ sagte Horand in eher abwehrendem Ton, „ich bin ein Spezialist, und Sie wissen doch, dass ein Spezialist von immer Weniger immer mehr weiß ...“ Herr Schwandl ergänzte gutgelaunt: „Bis er schließlich von Nichts alles weiß! Haha!“ Aber Frau Schwandl ließ sich nicht beirren. „Gestern abend war es so wundervoll klar, und da stand, Sie haben es bestimmt auch gesehen, die Internationale Raumstation direkt neben dem Mond! Ein wunderbarer Anblick, nicht wahr?“ Horand zuckte innerlich zusammen. Was gestern Abend in der Tat hell leuchtend neben dem Mond gestanden hatte, war der Jupiter gewesen. Am liebsten hätte er gelacht und gesagt: Frau Schwandl, Sie wollen mich auf den Arm nehmen! Die ISS kann man manchmal sehen, aber sie bewegt sich sehr schnell und verschwindet binnen weniger Minuten abends im Erdschatten, morgens am Horizont! Frau Schwandl war aber noch im Entzückensrausch und fuhr fort: „Was für ein herrlicher Anblick, nicht wahr? Für mich war klar, dass die Station so hell strahlte, weil das Licht des Mondes darauf fiel. Sind Sie nicht auch der Meinung? Erich hingegen meinte, es sei das Sonnenlicht, das sie zum Strahlen bringe. Was sagen Sie dazu?“
Horand wand sich innerlich. Wie konnte er aus dieser Klemme herauskommen, ohne sich zu blamieren, ohne aber auch Frau Schwandl auf eine Weise ihres Irrtums zu überführen, dass seine Aisha schon bald ohne Paddock auskommen musste? Eine Formulierung wie „Wer hat Ihnen denn den Schwachsinn erzählt, gnädige Frau?“ schied leider, leider aus. Horand beschäftigte sich angelegentlich mit seiner Forelle und rang sich schließlich zu der Formulierung durch: „Wenn ein Satellit am Himmel sichtbar wird, dann fast immer infolge des von ihm reflektierten Sonnenlichts. Er ist ja auch der Erde viel näher als der Mond und könnte dessen Licht nur von der Erde weg reflektieren, es sei denn ...“ Frau Schwandl unterbrach ihn: „Aber ist denn die ISS ein Satellit? Ist sie nicht etwas Besonderes?“ „Etwas Besonderes ist sie ohne Frage, da sie ja sehr viel größer als die meisten Satelliten und außerdem bewohnt ist.“ „Siehst du, Erich,“ sagte Frau Schwandl, „hab ich es dir nicht gesagt? Die Internationale Raumstation ist etwas ganz Besonderes!“ Herr Schwandl nickte ergeben und fand sich in sein Schicksal, der Unterlegene zu sein. Horand drehte den Fisch auf die andere Seite, und während er das weiße Fleisch auslöste, sagte er gedankenverloren. „Hinzukommt, dass die ISS meist nur für sehr kurze Zeit sichtbar ist, da sie binnen eineinhalb Stunden die Erde einmal komplett umrundet.“ „Dann war sie diesmal aber sehr lange sichtbar, ja, sie hat sich fast gar nicht bewegt!“, sagte Frau Schwandl noch sehr selbstzufrieden. Aber dann dämmerte ihr etwas. Sie zog die Brauen empor und sagte: „Oder wollen Sie damit sagen, dass es gar nicht die ISS war, die ich gesehen habe? Wollen Sie das damit sagen?“ Horand nickte müde. Aus der Sache kam er nicht mehr heraus, und so beschloss er sie in Würde abzuschließen. „Der helle Stern beim Mond gestern Abend war der Jupiter,“ sagte er leise. „Es tut mir leid, aber die ISS war es auf keinen Fall. Ich kann Ihnen aber gerne mal Bescheid geben, wenn die ISS zu sehen ist, dann können wir sie zusammen vorüberziehen sehen!“ Aber Frau Schwandl war schon aufgestanden. „Komm Erich,“ sagte sie, „diese Art von Besserwisserei ist einfach unerträglich!“ Sie rauschte, ihren Mann im Kielwasser, hinaus.
Der Vorsitzende kam an Horands Tisch und fragte: „Was war los?“ Er lächelte und hoffte auf eine harmlose Antwort. „Ich fürchte, ich habe sie verstimmt,“ sagte Horand. „Es tut mir leid.“ Es war still geworden im Saal. Horand stand auf, grüßte verhalten ringsum und ging hinaus. Als er den Stall betrat, reckten gleich mehrere Pferde die Köpfe hervor. Er nahm Möhren aus dem Korb und gab jedem eine. Aisha beschnoberte ihn, er klopfte ihr Hals und Ganaschen: „Es wird alles gut!“, murmelte er. „Es wird alles gut, meine Süße!“