Die Treppenfrau

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allerleirauh
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Beitragvon allerleirauh » 04.02.2011, 15:11

Ich steige ins Tal hinab.

Eine alte Frau kommt mir entgegen.
Sie geht gebückt, erklimmt einige der staubigen Stufen auf allen vieren.

Die Greisin ist in einen leuchtend grünen Schleier und ein kobaltblaues Gewand gehüllt.
Wenn sie sich bewegt, sieht man silbernen Schmuck unter ihrer Kleidung blinken.

Ich halte ein. Trete zur Seite. Will abwarten. Höflich sein. Sie vorbeilassen.

Als die Alte schließlich auf meiner Höhe angelangt ist, richtet sie sich zu meiner Überraschung auf. Sie tritt an mich heran. Ganz nah. Ich kann ihren Atem spüren.

Dann nimmt sie sanft die Innenseite meiner Hand und legt für einen Lebensmoment ihre kühle, papierene Handfläche dagegen. Sie schaut mich an. Ganz ernst.
In ihren Augen sehe ich Freude. Und Trauer. Sie hat geliebt. Gehofft. Geträumt. Gehasst. Verloren. Gewonnen. Wie ich.

Zart berührt sie mein Kind in der gleichen Weise. So hat sie auch ihre Töchter berührt. Vor vielen Jahren.

Schließlich wendet sie sich ab und setzt ihren beschwerlichen Weg fort.

Nach wenigen Schritten jedoch dreht sie sich noch einmal um, so, als habe sie etwas vergessen.

Den Mann. Und die Söhne.

Sie grüßt sie zum Abschied mit erhobener Hand und entschwindet aus meinem Blickfeld.
In meiner Erinnerung bleibt sie. Die Treppenfrau.


(Al-Aqur, Februar 2009)
Zuletzt geändert von allerleirauh am 04.02.2011, 16:56, insgesamt 1-mal geändert.

Nicole

Beitragvon Nicole » 04.02.2011, 15:30

Oh wow, allerleihrau, das ist phantastisch!
Ich kann gerade gar nicht mehr dazu sagen, als nur WOW!

Das ist bewegend und warm...

Nicole

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noel
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Beitragvon noel » 04.02.2011, 16:15

diese wortlose so zu verworten
in gestik & mimik ist kLasse

berührt
NOEL = Eine Dosis knapp unterhalb der Toxizität, ohne erkennbare Nebenwirkung (NOEL - no observable effect level).

Wir sind alle Meister/innen der Selektion und der konstruktiven Hoffnung, die man allgemein die WAHRHEIT nennt ©noel

Mucki
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Beitragvon Mucki » 04.02.2011, 16:37

Hallo Annett,

mir gefällt diese Momentaufnahme sehr. Du beschreibst diese besondere Begegnung sehr bildhaft und fein in den Details. Hier
allerleirauh hat geschrieben:So hat sie auch ihre Töchter berührt. Vor vielen Jahren.

frage ich mich, ob der Perspektivenwechsel von dir so gewollt ist. Das würde dann bedeuten, dass du hier bewusst Freiräume lässt, dass da mehr geschah, woher sollte die Erzählerin das sonst wissen.
Und hier
allerleirauh hat geschrieben:Schließlich wendet sich ab und setzt ihren beschwerlichen Weg fort.

fehlt ein "sie" nach "wendet".

Sehr gern gelesen!

Saludos
Gabriella

Mucki
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Beitragvon Mucki » 04.02.2011, 17:47

Hallo Annett,

mich lässt dieser Perspektivenwechsel nicht los und auch dieser Satz
allerleirauh hat geschrieben:In ihren Augen sehe ich Freude. Und Trauer. Sie hat geliebt. Gehofft. Geträumt. Gehasst. Verloren. Gewonnen. Wie ich.

und vermute, dass es sich hier um eine Begegnung des LIs mit ihrer Mutter handelt. So etwas wie eine letzte Begegnung, vielleicht im Traum, jedenfalls "verschleiert". Oder aber das LI projiziert ihre Mutter in diese alte Frau.
Auf jeden Fall ein Text, der sehr nachhallt, mich nicht loslässt.

Saludos
Gabriella

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allerleirauh
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Beitragvon allerleirauh » 05.02.2011, 20:15

hallo nicole, noel und gabriella,

danke für eure rückmeldungen.

mir fiel der text im zusammenhang mit den ereignissen in ägypten wieder ein.

@gabriella: das SIE habe ich eingefügt. danke für den hinweis.
einen perspektivwechsel im eigentlichen sinne kann ich für mich nicht erkennen. ich würde die über die eigentliche beschreibung der begegnung hinausgehenden gedanken eher emotionale nähe nennen wollen.

lg
a

Mucki
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Beitragvon Mucki » 05.02.2011, 21:53

Hallo Annett,
allerleirauh hat geschrieben:ich würde die über die eigentliche beschreibung der begegnung hinausgehenden gedanken eher emotionale nähe nennen wollen.

ok, das finde ich nachvollziehbar und stimmig.

Saludos
Gabriella

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leonie
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Beitragvon leonie » 06.02.2011, 16:31

Liebe a.,

auf mich wirkt der Text noch nicht ausgereift.

(Auf mich wirken Deine Texte im Moment so, als seiest Du auf einem Weg in neues Land, als sei da ein Sprachverlust, vielleicht auch ein "Des-Alten-Müde-Sein" und ein Suchen nach Neuem, aber eben: Noch auf unsicherem Boden, nicht angekommen, noch nicht ausgereift).

Das hat z.T. mit Wiederholungen (Die Alte, Die Greisin...) zu tun, aber mehr noch damit, dass ich meine, Du nimmst ihm selbst stellenweise die Kraft, indem Du benennst statt zu zeigen.

Ich mache das zum Beispiel an diesen Stellen fest:

Ich halte ein. Trete zur Seite. Will abwarten. Höflich sein. Sie vorbeilassen.

Als die Alte schließlich auf meiner Höhe angelangt ist, richtet sie sich zu meiner Überraschung auf. Sie tritt an mich heran. Ganz nah. Ich kann ihren Atem spüren.

Dann nimmt sie sanft die Innenseite meiner Hand und legt für einen Lebensmoment ihre kühle, papierene Handfläche dagegen. Sie schaut mich an. Ganz ernst.
In ihren Augen sehe ich Freude. Und Trauer. Sie hat geliebt. Gehofft. Geträumt. Gehasst. Verloren. Gewonnen. Wie ich.


Auch am Schluss: Durch dein Erzählen ist doch klar, dass Du sie in Erinnerung behalten hast.


Liebe Grüße

leonie

Mucki
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Beitragvon Mucki » 06.02.2011, 17:49

Hi leonie,

durch diese kurzen Sätze und die "fast-Wiederholungen" entsteht für mich gerade die Intensität des Textes. Es ist wie ein Heranzoomen.

Saludos
Gabriella


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