Wie alt ist mein Baumfreund?
Verfasst: 25.01.2011, 21:50
Wie alt ist mein Baumfreund?
Meine Großtante Eva war bereits über 70, als ich sie das letzte Mal in ihrem Häuschen an der Ostsee besuchte. Ihr Wohnzimmer, behaglich mit Teppichen und Häkeldecken ausgepolstert, öffnete sich zur Gartenseite mit einem deckenhohen Blumenfenster. Auf der niedrigen, meterbreiten Marmorfensterbank waren die Pflanzen auf Schemeln und Säulen arrangiert, damit sie ihre Triebe nicht nur nach oben und nach den Seiten, sondern auch nach unten entfalten konnten. Blickpunkt war eine Schweinsohrbegonie – dass sie so hieß, wusste ich damals noch nicht – mit karminroten, von der Sonne durchleuchteten Blättern und Hunderten von kleinen, zweiklappigen rosa Blüten. Ganz links wuchs der Baumfreund. Er wand sich an einem mit Moos umwickelten Stamm empor und dann an Spanndrähten entlang quer über das Fenster. Weitere Ranken griffen nach vorn in den Raum aus, schlängelten sich zwei, drei Meter über den Teppich mir entgegen.
Meine Tante bemerkte mein Staunen und bot mir Ableger an. „Auja, gerne!“ Ich erhielt zwei gezackte, bewimperte Begonienblätter mit der Anweisung, sie anzuritzen und mit Zahnstochern auf feuchter Erde festzustecken. Außerdem schnitt die Tante einen armlangen, bereits bewurzelten Trieb des Baumfreundes für mich ab. „Einfach einpflanzen!“
Aus den Verletzungen der Begonienblätter sprossen alsbald Miniaturpflänzchen mit Blättchen, die – erst zwei bis drei Milimeter breit – dem Mutterblatt bereits in Aderung und Randgezack vollkommen glichen. Klone! Der Baumfreund zögerte kurz in seinem neuen Quartier, dann fuhr er fort, ein makellos glänzendes Blatt nach dem anderen zu entrollen.
Beide Töpfe begleiteten mich fortan bei meiner studentischen Wohngemeinschaftsodyssee, auf der sich nach und nach weitere semesterferiendürreresistente und fetenqualmtolerante Zimmerpflanzen hinzu gesellten, darunter eine Grünlilie, die trotz ständiger Vernachlässigung nicht aufhörte, an grazilen Ausläufern neue Blattbüschel in den Raum zu reichen, Goethes Kinderbaum, der mit seinen an den Blattsäumen geborenen Klonkindern die Nachbartöpfe überschwemmte, ein Wald aus Papyrus in einem großen, aus einem Institut abgestaubten Wasserbecken und ein äußerst wehrhafter Christusdorn, den niemand beschnitt aus Angst vor stundenlang quellendem klebrigen Milchsaft.
Den Baumfreund besitze ich immer noch. Meine Tante Eva verstarb 90jährig in einem Altersheim. Sie hatte starkes Übergewicht und konnte nur noch mühsam gehen. Die Krampfadern verursachten Beschwerden, das Herz war schwach und natürlich trug sie eine Brille. Nicht so mein Baumfreund. Er entfaltet auch heute noch ein makellos glänzendes Blatt nach dem anderen, obwohl er schon etliche Jahrzehnte auf dem Buckel bzw. auf der Rinde haben muss! Denn immerhin war der Ableger, den ich damals erhielt, im Gegensatz zu den Babybegonien kein Neugeborenes aus einer einzelnen Zelle. Er war Teil der mächtigen, zweifellos Jahrzehnte alten Hauptpflanze gewesen, in ihm hatten dieselben Pflanzensäfte gekurvt, ihn hatten dieselben Impulse durchzittert, wie jene. Natürlich hatte es die Blätter und Triebe, die jetzt meine Pflanze ausmachen, damals noch nicht gegeben. Aber die Haare, die jetzt meine Frisur ausmachen, meine Fingernägel, meine Haut, hatte ich vor sieben Jahren auch noch nicht. Unsere gesamten Körperzellen erneuern sich in siebenjährigem Turnus vollständig, sagt die Wissenschaft. Was uns zusammenhält, ist nur die Erinnerung.
Ob sich mein Baumfreund noch an Tante Evas Häkeldecken erinnert? Ich glaube nicht, denn was würde es ihm nützen? Er könnte ohnehin nicht zurück. Vielleicht liegt hier das Geheimnis der Jugend: im Vergessen!
Einmal forderte ich Reise-Informationen aus dem Ausland an. Weil gerade nichts anderes zur Hand war, nahm ich eine Postkarte, die für eine Fachzeitschrift namens „Grün ist Leben“ warb. Die Antwort kam erst einige Wochen später. Sie war zwar korrekt adressiert, aber anstelle meines Namens stand dort
Herrn
Grunist Leben
Im ersten Moment dachte ich, dieser Umschlag wäre für meinen Baumfreund bestimmt.
Alte Fassung (Auszug):
Er war Teil der mächtigen, zweifellos Jahrzehnte alten Hauptpflanze gewesen, in ihm hatten dieselben Pflanzensäfte gekurvt, ihn hatten dieselben neuronalen Impulse durchzittert, wie jene.
Der Leser wird einwenden, dass es die Blätter und Triebe, die jetzt meine Pflanze ausmachen, damals noch nicht gegeben habe, dass diese also viel jünger seien. Nun, die Haare, die jetzt meine Frisur ausmachen, meine Fingernägel, meine Haut, hatte ich vor sieben Jahren auch noch nicht. Unsere gesamten Körperzellen erneuern sich in siebenjährigem Turnus vollständig, sagt die Wissenschaft. Was uns zusammenhält, ist nur die Erinnerung.
Meine Großtante Eva war bereits über 70, als ich sie das letzte Mal in ihrem Häuschen an der Ostsee besuchte. Ihr Wohnzimmer, behaglich mit Teppichen und Häkeldecken ausgepolstert, öffnete sich zur Gartenseite mit einem deckenhohen Blumenfenster. Auf der niedrigen, meterbreiten Marmorfensterbank waren die Pflanzen auf Schemeln und Säulen arrangiert, damit sie ihre Triebe nicht nur nach oben und nach den Seiten, sondern auch nach unten entfalten konnten. Blickpunkt war eine Schweinsohrbegonie – dass sie so hieß, wusste ich damals noch nicht – mit karminroten, von der Sonne durchleuchteten Blättern und Hunderten von kleinen, zweiklappigen rosa Blüten. Ganz links wuchs der Baumfreund. Er wand sich an einem mit Moos umwickelten Stamm empor und dann an Spanndrähten entlang quer über das Fenster. Weitere Ranken griffen nach vorn in den Raum aus, schlängelten sich zwei, drei Meter über den Teppich mir entgegen.
Meine Tante bemerkte mein Staunen und bot mir Ableger an. „Auja, gerne!“ Ich erhielt zwei gezackte, bewimperte Begonienblätter mit der Anweisung, sie anzuritzen und mit Zahnstochern auf feuchter Erde festzustecken. Außerdem schnitt die Tante einen armlangen, bereits bewurzelten Trieb des Baumfreundes für mich ab. „Einfach einpflanzen!“
Aus den Verletzungen der Begonienblätter sprossen alsbald Miniaturpflänzchen mit Blättchen, die – erst zwei bis drei Milimeter breit – dem Mutterblatt bereits in Aderung und Randgezack vollkommen glichen. Klone! Der Baumfreund zögerte kurz in seinem neuen Quartier, dann fuhr er fort, ein makellos glänzendes Blatt nach dem anderen zu entrollen.
Beide Töpfe begleiteten mich fortan bei meiner studentischen Wohngemeinschaftsodyssee, auf der sich nach und nach weitere semesterferiendürreresistente und fetenqualmtolerante Zimmerpflanzen hinzu gesellten, darunter eine Grünlilie, die trotz ständiger Vernachlässigung nicht aufhörte, an grazilen Ausläufern neue Blattbüschel in den Raum zu reichen, Goethes Kinderbaum, der mit seinen an den Blattsäumen geborenen Klonkindern die Nachbartöpfe überschwemmte, ein Wald aus Papyrus in einem großen, aus einem Institut abgestaubten Wasserbecken und ein äußerst wehrhafter Christusdorn, den niemand beschnitt aus Angst vor stundenlang quellendem klebrigen Milchsaft.
Den Baumfreund besitze ich immer noch. Meine Tante Eva verstarb 90jährig in einem Altersheim. Sie hatte starkes Übergewicht und konnte nur noch mühsam gehen. Die Krampfadern verursachten Beschwerden, das Herz war schwach und natürlich trug sie eine Brille. Nicht so mein Baumfreund. Er entfaltet auch heute noch ein makellos glänzendes Blatt nach dem anderen, obwohl er schon etliche Jahrzehnte auf dem Buckel bzw. auf der Rinde haben muss! Denn immerhin war der Ableger, den ich damals erhielt, im Gegensatz zu den Babybegonien kein Neugeborenes aus einer einzelnen Zelle. Er war Teil der mächtigen, zweifellos Jahrzehnte alten Hauptpflanze gewesen, in ihm hatten dieselben Pflanzensäfte gekurvt, ihn hatten dieselben Impulse durchzittert, wie jene. Natürlich hatte es die Blätter und Triebe, die jetzt meine Pflanze ausmachen, damals noch nicht gegeben. Aber die Haare, die jetzt meine Frisur ausmachen, meine Fingernägel, meine Haut, hatte ich vor sieben Jahren auch noch nicht. Unsere gesamten Körperzellen erneuern sich in siebenjährigem Turnus vollständig, sagt die Wissenschaft. Was uns zusammenhält, ist nur die Erinnerung.
Ob sich mein Baumfreund noch an Tante Evas Häkeldecken erinnert? Ich glaube nicht, denn was würde es ihm nützen? Er könnte ohnehin nicht zurück. Vielleicht liegt hier das Geheimnis der Jugend: im Vergessen!
Einmal forderte ich Reise-Informationen aus dem Ausland an. Weil gerade nichts anderes zur Hand war, nahm ich eine Postkarte, die für eine Fachzeitschrift namens „Grün ist Leben“ warb. Die Antwort kam erst einige Wochen später. Sie war zwar korrekt adressiert, aber anstelle meines Namens stand dort
Herrn
Grunist Leben
Im ersten Moment dachte ich, dieser Umschlag wäre für meinen Baumfreund bestimmt.
Alte Fassung (Auszug):
Er war Teil der mächtigen, zweifellos Jahrzehnte alten Hauptpflanze gewesen, in ihm hatten dieselben Pflanzensäfte gekurvt, ihn hatten dieselben neuronalen Impulse durchzittert, wie jene.
Der Leser wird einwenden, dass es die Blätter und Triebe, die jetzt meine Pflanze ausmachen, damals noch nicht gegeben habe, dass diese also viel jünger seien. Nun, die Haare, die jetzt meine Frisur ausmachen, meine Fingernägel, meine Haut, hatte ich vor sieben Jahren auch noch nicht. Unsere gesamten Körperzellen erneuern sich in siebenjährigem Turnus vollständig, sagt die Wissenschaft. Was uns zusammenhält, ist nur die Erinnerung.