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SPIEGEL

Verfasst: 25.01.2011, 16:05
von wüstenfuchs
SPIEGEL



Ich sitze im Zugabteil. Der Zug ist menschenleer. Lange steht er am Münchner Hauptbahnhof. Die eisige Kälte dringt von draußen herein. Ich fliehe in die Spiegelwelten. .
Unruhig wandere ich zwischen den Fragmenten. Verwischte Spuren mischen sich mit formlosen Schatten und ich suche wieder ein Gesicht, mein Gesicht. Doch ist da kein passendes Bild und plötzlich weiß ich, ich bin mir in den rasenden Brüchen abhanden gekommen.

Die Bilder zerspringen, der Bahnhof vervielfältigt sich. Der Spiegel mit seinen toten Augen wirft mir Rot entgegen und Grau und dann wieder durchdringend helle Himmelsstücke, die mich fast blenden.

Doch ich finde mich nicht im zertrümmerten Bild. Stattdessen schrecken mich endlose Sitzreihen in stumpfem Blau mit schwarzen Punkten. Silberne Stangen. Alle Sitze sind leer. Bruchstücke, immer nur Bruchstücke. Kurze Fluchten in den Himmel, matschige Wiesen und verkrüppelte Bäume. Sie fliegen vorüber, zerlegt in Teile und blicken mir fremd entgegen.
Eine alte Frau springt ins Bild, einäugig mit halbiertem Mund und zerteilten Wangen. Sie blickt mir entgegen. Eine groteske Maske. Sie leugnet die letzte unsichere Erinnerung an einen vertrauten Menschen.

Fast möchte ich auftauchen aus den Scherben, doch eine unbeirrbar leise Stimme, ganz Sehnsucht, besteht noch immer auf der Suche nach Zeichen, die allen Fragmenten gemeinsam sind und sich sammeln könnten zu einem Schlüssel der Wirklichkeit.

Wieder verliere ich mich in endlos gespiegelten Zugabteilen, grauen, runden Wagendächern und dem plötzlich gleißend hellen Himmel. Ich bin unterwegs in einem unwegsamen Land.
Ich wünschte, die Spiegel führten mich zurück an den Anfang und sammelten alles, was verstreut in mir schläft. Doch das gespiegelte Schweigen scheint unendlich.

Noch immer rasen die Bilder vor dem Fenster vorbei. Traumlandschaften, immer ähnlich und doch willkürlich zerteilt, Bilder, die sich ineinander wälzen und plötzlich trennen. Ich suche den Ort zu erkunden, an dem mein Bleiben wäre. Doch er findet sich nie.
Ich finde den Weg zurück nicht mehr, heraus aus dem ewig Gespaltenen. Je länger ich durch die Spiegelwelten irre, desto hoffnungsloser werde ich. Mir fehlt die Welt.

Ich beginne das rasende Spiel, die immer neuen Variationen des immergleichen Zuges abzulehnen, fast einen Widerwillen zu entwickeln. Ich treibe zwischen den Fragmenten, die sich einfach nicht zusammenfügen wollen. Immer noch versuche ich, sie zu ordnen, doch sie passen niemals, immer fehlt ein Stück zum mir passenden Muster. Alles ist gespalten.

Irgendwann lehne ich mich auf gegen die Splitter, verweigere mich den Bildern, beraube sie ihrer magischen Kraft.

Endlich hält der Zug. Ich trete aus den Spiegeln und springe auf den Bahnsteig.
Grau, aber ruhig liegt der Weg vor mir.

Verfasst: 02.02.2011, 00:50
von Eule
Hallo Wüstenfuchs, deine Spiegelgeschichte gefällt mir. Du vermischt darin geschickt reale, fantastische und dramatische Elemente. Vielleicht fehlen darin noch ein paar leisere, verspieltere, oder nachdenklichere. Insgesamt aber ein aus meiner Sicht gelungener Text. Viele Grüße !

Verfasst: 02.02.2011, 17:01
von wüstenfuchs
Danke Arne fürs Lesen und die Rückmeldung!

Viele Grüße
Fux