Das Klavier
Verfasst: 27.09.2010, 20:10
Als ich klein war, sagte meine Großmutter einmal zu mir. „Du bist wie das Land, in dem unsere Wurzeln sind.“ Und sie beschrieb mir dieses Land mit warmen Worten und mit einem Pathos, wie es wohl nur Menschen können, die ihre Heimat verloren haben. Für mich ist seither meine Heimat ein Ort, an dem ich noch nie gewesen bin.
Das Klavier
Hin und wieder hörte Paul von Ferne das Donnern der Geschütze, so als sitze der Krieg mit hungrig knurrendem Magen neben ihm. Alle menschlichen Geräusche verlor der Wind auf dem Weg. Schloss Paul die Augen, war er wieder an der Front. Deshalb bemühte er sich, während der Fahrt die Augen geöffnet zu lassen und die unschuldig weiße Winterlandschaft zu betrachten, die im strahlenden Sonnenlicht vor ihm lag. Glitzerndes Stillleben, unter hohem Schnee begrabenes Land. Bäume, deren Äste sich beugten unter kalter Last. Es war ein wunderschöner Wintertag im Januar 1945, Nähe Zinten, Ostpreussen.
Der Wagen hielt vor einem dunklen Backsteingebäude, an dessen First das Zunftzeichen der Schmiede angebracht war. An einem großen Metallring, neben dem weit geöffneten, zweiflügligen Tor, war ein unruhig schnaubendes Pferd angebunden. Ein Junge stand am Kopf des Tieres, streichelte ihm den Hals und sprach beruhigend auf es ein, während aus dem Inneren des Gebäudes das Schlagen eines schweren Hammers auf Metall zu vernehmen war. Es roch nach Feuer und verbranntem Horn. Paul trat näher und verschaffte sich mit einem lauten „Heil Hitler!“ Aufmerksamkeit. Das Pferd wieherte und machte einen hektischen Sprung zur Seite. Ein alter Mann trat fluchend aus der Schmiede „Dammelskopp, mach‘ doch de‘ Gaul net wild!“
Paul hob erneut den Arm zum Gruß. „Heil Hitler! Der Kommandant des 401ten schickt mich. Ihr sollt eine Achse für uns richten.“ „Soso. Soll ich das.“ Der Alte runzelte die Stirn. „Ich muss jetzt erst mal den Hamlet fertig machen.“ Er deutete auf das Pferd. „Und dann kann ich mich um Euer Kriegsgerät kümmern.“ Er dreht sich um, klopfte dem Pferd auf die Hinterhand, hob energisch den Huf an und legte ihn auf seinem Oberschenkel ab. Kurz prüfte er nochmal den exakten Sitz des Eisens, dann versenkte er die Hufnägel mit geübten Schlägen, kniff die überstehenden Nagelspitzen mit einer Zange ab und glättete den Hufrand. Prüfend strich er mit dem Daumen über die Kante, dann stellte er zufrieden den Huf des Tieres wieder auf den Boden.
Nachdem der Schmied den Jungen angewiesen hatte, das Werkzeug wegzuräumen, wendete er sich wieder an Paul. „So, und nun Sie. Lassen Sie uns das Teil mal in die Werkstatt bringen, ich schaue mir an, was ich machen kann.“ Gemeinsam mit dem alten Mann trug Paul die Achse in die Schmiede. Der Alte begutachtete das verbogene Stück und brummelte: „Na, da habt Ihr ja ganze Arbeite geleistet. Das Ding ist völlig krumm und die Ritzelaufnahme hat auch einen Schlag weg. Das wird ein Weilchen dauern. Ihr könnt derweil ins Haus gehen und Euch aufwärmen.“ Er deutete mit dem Kopf in Richtung eines weißgetünchten, zweistöckigen Wohnhauses.“Meine Schwiegertochter Margarete ist drinnen.“
Paul machte sich auf den Weg über den Hof zum Wohnhaus. Von irgendwoher waren Kinderstimmen zu hören „ … fünfundzwanzig … ich komme!“.
Er klopfte an die Tür und eine kleine Frau öffnete. „Ihr Schwiegervater schickt mich, ich soll hier warten, bis er mit einer Reparatur fertig ist. Ich heiße Paul, Paul Messer.“
Die kleine Frau nickte. „Ich bin Margarete Domnik. Kommen Sie herein.“ Sie deutete auf den Fußabtreter. „Würden Sie bitte Ihre Stiefel säubern, so gut es eben geht? Und dann kommen Sie einfach geradeaus in die Küche.“ Paul tat, wie ihm geheißen und stellte nach kurzer Überlegung auch sein Marschgepäck im Flur ab. Aus der Küche drang ein angenehmer Duft zu ihm. Als er diese betrat, hatte Margarete bereits eine dampfende Tasse auf den Küchentisch gestellt und war damit beschäftigt, Essen zu wärmen. Nun, Lebensmittelknappheit scheint es hier nicht zu geben, dachte er und begann hastig, den vor ihn gestellte Teller zu leeren. „Ja“ sagte Margarete, „dachte ich mir doch, dass Sie hungrig sind, das seid ihr doch alle. Wirklichen Kaffee kann ich Ihnen zwar nicht mehr anbieten, nur Muckefuck, aber die Bauern, die zahlen häufig in Naturalien. An Essen mangelt es uns nicht.“ Paul nickte mit vollem Mund und schob den leeren Teller von sich. „Vielen Dank, das war ganz vorzüglich.“ nuschelte er.
„Vorzüglich…“ Margarete lächelte.“ Ach je, dieses Wort habe ich ja lange nicht mehr gehört. Ihr Soldaten kommt zwar inzwischen recht häufig für Reparaturen, aber sowas hat noch keiner zu einfachem Spirgel gesagt. Wo kommen Sie her?“ Paul nahm einen Schluck. „Ich stamme aus dem Schwäbischen, aus der Nähe von Stuttgart.“ Er schaute sich um. Ein sauberer, heller Raum. Hätte er nicht aus den Augenwinkeln seine Uniformjacke gesehen und seine Stiefel, fast hätte er glauben können, er säße zu Hause bei seiner Mutter in der Küche.
Margarete wischte sich die Hände an der Schürze ab und setzte sich ihm gegenüber an den Tisch. „Sagen Sie … es kommen immer mehr Flüchtlinge von Osten … man hört ja nun schon den Krach, sind es Kanonen, Granaten? Und Flieger, Flieger sehen wir auch immer häufiger… Der Russe kommt doch nicht näher, oder? Müssen wir uns Sorgen machen? Der Gauleiter hat Flugblätter verteilen lassen, dass es uns verboten ist, zu fliehen. Wer es trotzdem versucht, wird erschossen, steht da. In der Verwaltung in Heiligenbeil heißt es auch, wir sollen zu Hause bleiben und Ruhe bewahren. Ostpreußen sei sicher, sagen sie. Aber … Ich habe Angst!“ Paul schloss kurz die Augen und sagte dann schnell: „Sie müssen sich keine Sorgen machen, wirklich nicht. Ja, der Russe kommt ein wenig näher. Aber das ist … Taktik. Taktik. Die Verstärkung ist auf dem Weg zu uns und dann werden wir sie zurückschlagen, einkesseln und zurückschlagen. Es ist schon richtig, wenn Sie bleiben, fliehen wäre ganz falsch. Wir machen das schon, ist nur noch eine Frage von ein paar Tagen. Sie sind hier ganz sicher.“
Durch die geöffnete Verbindungstür konnte er das Wohnzimmer sehen. Schonbezüge auf dem Sofa, eine Vitrine für das gute Geschirr, ein Lehnstuhl vor dem Fenster. Und daneben … ein Klavier. Für einen Moment starrte er das Instrument an, dann erhob er sich und fragte: „Frau Domnik, bitte, darf ich?“ Margarete schaute ihn überrascht an. „Sie möchten Klavier spielen? Ja, natürlich… Es hat schon lange niemand mehr darauf gespielt, das Instrument gehört meinem Mann, sonst spielt von uns niemand. Er liebt es sehr, nennt es gerne „seine Oase“. Vor dem Krieg spielte er jeden Abend nach dem Essen. Er war schon lange nicht mehr auf Heimaturlaub hier und doch lasse ich es regemäßig stimmen … Bitte, spielen Sie, wenn Sie möchten.“
Paul öffnete den Deckel behutsam, setzte sich auf den Hocker und ließ die Hände einen Moment auf den Tasten ruhen. Seine Stiefel waren viel zu steif und zu klobig für die Pedale, ihm wurde bewusst, wie schmutzig er war. Er betrachtet seine Hände, so als sähe er die Schwielen und Verletzungen darauf das erste Mal. Ungelenk schlug er ein E an, legte den Kopf leicht schräg, spürte dem Klang hinterher. Griff eine Oktave höher: E – Gis – Cis. Dann ein Akkord. Zögerlich zunächst, dann fließend perlten die ersten Töne von Chopins nocturne in Cis moll durch den Raum. Pauls Körper entspannte sich, wiegte sich leicht in der Musik. Margarete betrachtet den Mann in Felduniform, hager und verdreckt war er, wirkte völlig deplatziert an dem glänzenden Instrument und doch so richtig, wie er mit halb geschlossenen Augen und entrücktem Gesichtsausdruck spielte. Plötzlich hörte sie ein Kind schreien, Schritte im Flur. Die Tür wurde aufgerissen und ihre Jüngste stürmte ins Zimmer „Papa, Papa! Papa ist wieder da!“
Lotte bremste abrupt, als sie den fremden Soldaten am Klavier entdeckte. „Papa?“ murmelte sie ein letztes Mal, dann verschwand das Strahlen aus Ihrem Gesicht. Paul war beim ersten Ausruf des Kindes vom Schemel aufgesprungen und blickte das Kind entsetzt an. Der Kleinen waren Tränen in die Augen gestiegen, sie schaute ihre Mutter an. „Aber das ist ja gar nicht der Papa.“ Ihre Schultern sanken nach vorn, dann dreht sie um und lief wortlos aus dem Zimmer.
Wenig später war die gerichtete Achse auf den LKW geladen. Paul schulterte sein Marschgepäck und schüttelte Margarete zum Abschied die Hand. Versteckt hinter einem Holzstapel konnte er das kleine Mädchen sehen, das ihn aus der Entfernung beobachtete. Sie erinnerte ihn mit dem mittig gescheitelten, braunen Haar, das in zwei ordentlichen Zöpfen geflochten über ihre Schultern fiel, der hellen Haut und der trotzig vorgeschobenen Unterlippe an seine eigene Tochter. Sie musste ungefähr im selben Alter sein.
„Frau Domnik … würden Sie mir einen Gefallen tun? Ich … ich habe ein paar Schuhe, als Geschenk für meine Tochter. Würden Sie die wohl für mich zur Post geben?“ Margarete nickte. Paul zog ein in Packpapier gewickeltes Bündel aus seinem Rucksack, kritzelte eine Adresse darauf und reichte es ihr. „ Danke.“ Er schob beide Hände tief in die Taschen seiner Uniform und ging die Treppe hinunter. Nach einigen Metern zögerte er und sah sich um. Margarete stand noch immer in der geöffneten Tür.
Er ging zurück zum Haus, ergriff ihre Hände und sagte: „Und … Margarete. Vergessen Sie, was ich Ihnen vorhin erzählt habe. Bitte, gehen Sie. Egal wie, aber gehen Sie. Gehen Sie bald.“
Und Margarete ging. Ihre Flucht begann zwei Tage später. Bevor sie das Haus verließ, machte sie einen letzten Gang durch alle Zimmer. Zog hier eine Decke gerade, richtete dort ein Kissen. Im Wohnzimmer strich sie einmal vorsichtig mit den Fingerspitzen über die Tasten des Klaviers, dann schloss sie behutsam den Deckel.
Im Februar 1945 wurde Margaretes Haus Quartier einer russischen Einheit. Auf dem Klavier wurden russische Weisen gespielt, zu seinem Klang gesungen und getanzt. Im darauffolgenden Winter wurde es von Nachbarn zerschlagen und verfeuert.
Ich selbst bekam im Grundschulalter Klavierunterricht. Einige Male saß mein Großvater im Zimmer, während ich übte. Dass er selbst einmal ein Klavier besessen hatte, erfuhr ich erst einige Zeit nach seinem Tod. Spielen gehört habe ich ihn nie.
Erste Fassung
Korrekturem 28.09.10, einige Kommas 'reingeworfen und Tippfehler eliminiert. Danke!
Korrekturen am 09.10.10 "Kill your darlings"
Das Klavier
Hin und wieder hörte Paul von Ferne das Donnern der Geschütze, so als sitze der Krieg mit hungrig knurrendem Magen neben ihm. Alle menschlichen Geräusche verlor der Wind auf dem Weg. Schloss Paul die Augen, war er wieder an der Front. Deshalb bemühte er sich, während der Fahrt die Augen geöffnet zu lassen und die unschuldig weiße Winterlandschaft zu betrachten, die im strahlenden Sonnenlicht vor ihm lag. Glitzerndes Stillleben, unter hohem Schnee begrabenes Land. Bäume, deren Äste sich beugten unter kalter Last. Es war ein wunderschöner Wintertag im Januar 1945, Nähe Zinten, Ostpreussen.
Der Wagen hielt vor einem dunklen Backsteingebäude, an dessen First das Zunftzeichen der Schmiede angebracht war. An einem großen Metallring, neben dem weit geöffneten, zweiflügligen Tor, war ein unruhig schnaubendes Pferd angebunden. Ein Junge stand am Kopf des Tieres, streichelte ihm den Hals und sprach beruhigend auf es ein, während aus dem Inneren des Gebäudes das Schlagen eines schweren Hammers auf Metall zu vernehmen war. Es roch nach Feuer und verbranntem Horn. Paul trat näher und verschaffte sich mit einem lauten „Heil Hitler!“ Aufmerksamkeit. Das Pferd wieherte und machte einen hektischen Sprung zur Seite. Ein alter Mann trat fluchend aus der Schmiede „Dammelskopp, mach‘ doch de‘ Gaul net wild!“
Paul hob erneut den Arm zum Gruß. „Heil Hitler! Der Kommandant des 401ten schickt mich. Ihr sollt eine Achse für uns richten.“ „Soso. Soll ich das.“ Der Alte runzelte die Stirn. „Ich muss jetzt erst mal den Hamlet fertig machen.“ Er deutete auf das Pferd. „Und dann kann ich mich um Euer Kriegsgerät kümmern.“ Er dreht sich um, klopfte dem Pferd auf die Hinterhand, hob energisch den Huf an und legte ihn auf seinem Oberschenkel ab. Kurz prüfte er nochmal den exakten Sitz des Eisens, dann versenkte er die Hufnägel mit geübten Schlägen, kniff die überstehenden Nagelspitzen mit einer Zange ab und glättete den Hufrand. Prüfend strich er mit dem Daumen über die Kante, dann stellte er zufrieden den Huf des Tieres wieder auf den Boden.
Nachdem der Schmied den Jungen angewiesen hatte, das Werkzeug wegzuräumen, wendete er sich wieder an Paul. „So, und nun Sie. Lassen Sie uns das Teil mal in die Werkstatt bringen, ich schaue mir an, was ich machen kann.“ Gemeinsam mit dem alten Mann trug Paul die Achse in die Schmiede. Der Alte begutachtete das verbogene Stück und brummelte: „Na, da habt Ihr ja ganze Arbeite geleistet. Das Ding ist völlig krumm und die Ritzelaufnahme hat auch einen Schlag weg. Das wird ein Weilchen dauern. Ihr könnt derweil ins Haus gehen und Euch aufwärmen.“ Er deutete mit dem Kopf in Richtung eines weißgetünchten, zweistöckigen Wohnhauses.“Meine Schwiegertochter Margarete ist drinnen.“
Paul machte sich auf den Weg über den Hof zum Wohnhaus. Von irgendwoher waren Kinderstimmen zu hören „ … fünfundzwanzig … ich komme!“.
Er klopfte an die Tür und eine kleine Frau öffnete. „Ihr Schwiegervater schickt mich, ich soll hier warten, bis er mit einer Reparatur fertig ist. Ich heiße Paul, Paul Messer.“
Die kleine Frau nickte. „Ich bin Margarete Domnik. Kommen Sie herein.“ Sie deutete auf den Fußabtreter. „Würden Sie bitte Ihre Stiefel säubern, so gut es eben geht? Und dann kommen Sie einfach geradeaus in die Küche.“ Paul tat, wie ihm geheißen und stellte nach kurzer Überlegung auch sein Marschgepäck im Flur ab. Aus der Küche drang ein angenehmer Duft zu ihm. Als er diese betrat, hatte Margarete bereits eine dampfende Tasse auf den Küchentisch gestellt und war damit beschäftigt, Essen zu wärmen. Nun, Lebensmittelknappheit scheint es hier nicht zu geben, dachte er und begann hastig, den vor ihn gestellte Teller zu leeren. „Ja“ sagte Margarete, „dachte ich mir doch, dass Sie hungrig sind, das seid ihr doch alle. Wirklichen Kaffee kann ich Ihnen zwar nicht mehr anbieten, nur Muckefuck, aber die Bauern, die zahlen häufig in Naturalien. An Essen mangelt es uns nicht.“ Paul nickte mit vollem Mund und schob den leeren Teller von sich. „Vielen Dank, das war ganz vorzüglich.“ nuschelte er.
„Vorzüglich…“ Margarete lächelte.“ Ach je, dieses Wort habe ich ja lange nicht mehr gehört. Ihr Soldaten kommt zwar inzwischen recht häufig für Reparaturen, aber sowas hat noch keiner zu einfachem Spirgel gesagt. Wo kommen Sie her?“ Paul nahm einen Schluck. „Ich stamme aus dem Schwäbischen, aus der Nähe von Stuttgart.“ Er schaute sich um. Ein sauberer, heller Raum. Hätte er nicht aus den Augenwinkeln seine Uniformjacke gesehen und seine Stiefel, fast hätte er glauben können, er säße zu Hause bei seiner Mutter in der Küche.
Margarete wischte sich die Hände an der Schürze ab und setzte sich ihm gegenüber an den Tisch. „Sagen Sie … es kommen immer mehr Flüchtlinge von Osten … man hört ja nun schon den Krach, sind es Kanonen, Granaten? Und Flieger, Flieger sehen wir auch immer häufiger… Der Russe kommt doch nicht näher, oder? Müssen wir uns Sorgen machen? Der Gauleiter hat Flugblätter verteilen lassen, dass es uns verboten ist, zu fliehen. Wer es trotzdem versucht, wird erschossen, steht da. In der Verwaltung in Heiligenbeil heißt es auch, wir sollen zu Hause bleiben und Ruhe bewahren. Ostpreußen sei sicher, sagen sie. Aber … Ich habe Angst!“ Paul schloss kurz die Augen und sagte dann schnell: „Sie müssen sich keine Sorgen machen, wirklich nicht. Ja, der Russe kommt ein wenig näher. Aber das ist … Taktik. Taktik. Die Verstärkung ist auf dem Weg zu uns und dann werden wir sie zurückschlagen, einkesseln und zurückschlagen. Es ist schon richtig, wenn Sie bleiben, fliehen wäre ganz falsch. Wir machen das schon, ist nur noch eine Frage von ein paar Tagen. Sie sind hier ganz sicher.“
Durch die geöffnete Verbindungstür konnte er das Wohnzimmer sehen. Schonbezüge auf dem Sofa, eine Vitrine für das gute Geschirr, ein Lehnstuhl vor dem Fenster. Und daneben … ein Klavier. Für einen Moment starrte er das Instrument an, dann erhob er sich und fragte: „Frau Domnik, bitte, darf ich?“ Margarete schaute ihn überrascht an. „Sie möchten Klavier spielen? Ja, natürlich… Es hat schon lange niemand mehr darauf gespielt, das Instrument gehört meinem Mann, sonst spielt von uns niemand. Er liebt es sehr, nennt es gerne „seine Oase“. Vor dem Krieg spielte er jeden Abend nach dem Essen. Er war schon lange nicht mehr auf Heimaturlaub hier und doch lasse ich es regemäßig stimmen … Bitte, spielen Sie, wenn Sie möchten.“
Paul öffnete den Deckel behutsam, setzte sich auf den Hocker und ließ die Hände einen Moment auf den Tasten ruhen. Seine Stiefel waren viel zu steif und zu klobig für die Pedale, ihm wurde bewusst, wie schmutzig er war. Er betrachtet seine Hände, so als sähe er die Schwielen und Verletzungen darauf das erste Mal. Ungelenk schlug er ein E an, legte den Kopf leicht schräg, spürte dem Klang hinterher. Griff eine Oktave höher: E – Gis – Cis. Dann ein Akkord. Zögerlich zunächst, dann fließend perlten die ersten Töne von Chopins nocturne in Cis moll durch den Raum. Pauls Körper entspannte sich, wiegte sich leicht in der Musik. Margarete betrachtet den Mann in Felduniform, hager und verdreckt war er, wirkte völlig deplatziert an dem glänzenden Instrument und doch so richtig, wie er mit halb geschlossenen Augen und entrücktem Gesichtsausdruck spielte. Plötzlich hörte sie ein Kind schreien, Schritte im Flur. Die Tür wurde aufgerissen und ihre Jüngste stürmte ins Zimmer „Papa, Papa! Papa ist wieder da!“
Lotte bremste abrupt, als sie den fremden Soldaten am Klavier entdeckte. „Papa?“ murmelte sie ein letztes Mal, dann verschwand das Strahlen aus Ihrem Gesicht. Paul war beim ersten Ausruf des Kindes vom Schemel aufgesprungen und blickte das Kind entsetzt an. Der Kleinen waren Tränen in die Augen gestiegen, sie schaute ihre Mutter an. „Aber das ist ja gar nicht der Papa.“ Ihre Schultern sanken nach vorn, dann dreht sie um und lief wortlos aus dem Zimmer.
Wenig später war die gerichtete Achse auf den LKW geladen. Paul schulterte sein Marschgepäck und schüttelte Margarete zum Abschied die Hand. Versteckt hinter einem Holzstapel konnte er das kleine Mädchen sehen, das ihn aus der Entfernung beobachtete. Sie erinnerte ihn mit dem mittig gescheitelten, braunen Haar, das in zwei ordentlichen Zöpfen geflochten über ihre Schultern fiel, der hellen Haut und der trotzig vorgeschobenen Unterlippe an seine eigene Tochter. Sie musste ungefähr im selben Alter sein.
„Frau Domnik … würden Sie mir einen Gefallen tun? Ich … ich habe ein paar Schuhe, als Geschenk für meine Tochter. Würden Sie die wohl für mich zur Post geben?“ Margarete nickte. Paul zog ein in Packpapier gewickeltes Bündel aus seinem Rucksack, kritzelte eine Adresse darauf und reichte es ihr. „ Danke.“ Er schob beide Hände tief in die Taschen seiner Uniform und ging die Treppe hinunter. Nach einigen Metern zögerte er und sah sich um. Margarete stand noch immer in der geöffneten Tür.
Er ging zurück zum Haus, ergriff ihre Hände und sagte: „Und … Margarete. Vergessen Sie, was ich Ihnen vorhin erzählt habe. Bitte, gehen Sie. Egal wie, aber gehen Sie. Gehen Sie bald.“
Und Margarete ging. Ihre Flucht begann zwei Tage später. Bevor sie das Haus verließ, machte sie einen letzten Gang durch alle Zimmer. Zog hier eine Decke gerade, richtete dort ein Kissen. Im Wohnzimmer strich sie einmal vorsichtig mit den Fingerspitzen über die Tasten des Klaviers, dann schloss sie behutsam den Deckel.
Im Februar 1945 wurde Margaretes Haus Quartier einer russischen Einheit. Auf dem Klavier wurden russische Weisen gespielt, zu seinem Klang gesungen und getanzt. Im darauffolgenden Winter wurde es von Nachbarn zerschlagen und verfeuert.
Ich selbst bekam im Grundschulalter Klavierunterricht. Einige Male saß mein Großvater im Zimmer, während ich übte. Dass er selbst einmal ein Klavier besessen hatte, erfuhr ich erst einige Zeit nach seinem Tod. Spielen gehört habe ich ihn nie.
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