Nur wenn's net wüascht isch
Verfasst: 23.04.2006, 14:06
Nur wenn’s nit wüascht isch
Sie stand am Fenst und schaute hinüber zum Park.
Bello lag zusammengerollt schlafend auf dem Sofa, dessen abgewetzte Stellen mit einer dunkelgrau karierten Decke kaschiert waren und dessen Armlehnen weiße Spitzendeckchen zierten.
Tick – tack – tick – tack langsam bewegte sich der Stundezeiger der alten Standuhr. Das Pendel schlug im Gleichklang hin und her.
Es war kurz vor zehn.
Sonntägliche Ruhe herrschte auf der Straße unter ihrem Fenster, das selbst gehäkelte weiße Garnvorhängevorhänge zierte. Ihre Wohnung lag im dritten Stock eines alten schäbigen Mietshauses. Seit ihrer Heirat vor mehr als fünfzig Jahren lebte sie hier. Ihr Mann war seit über zehn Jahren tot. Es fiel ihr zwar zunehmend schwerer die ausgetretenen Stufen bis zur ihrer Wohnung hinaufzusteigen, aber der nahe Park entschädigte sie für die Mühe. Außerdem verbanden sie mit dem alten Haus liebevolle Erinnerungen.
Mit ihrer knöcherigen Hand schob sie vorsichtig den Vorhang zur Seite. Ihre geliebten Usambaraveilchen trieben neue Blütenknospen. Vorsichtig zupfte sie die verwelkten Blätter ab. Mit der kleinen kupfernen Handgießkanne gab sie ihnen neue Nahrung und sprach dabei leise mit ihnen. Sie war überzeugt davon, dass Pflanzen besser gedeihen, wenn man mit ihnen sprach.
Ob er wohl heute auch kommen würde?
Ihr Blick wanderte suchend zum Park gegenüber.
Es war schon nach zehn.
Wie alt er wohl sein mochte?
Der Größe nach schätzte sie ihn auf acht. Aber die Größe konnte täuschen. Auch ihre drei Söhne waren für ihr Alter immer groß. Bei dem Gedanken an ihre Kinder durchfuhr sie ein Gefühl von Dankbarkeit und auch ein wenig Wehmut. Dankbarkeit dafür, dass sie ihr nie Kummer bereitet hatten – sie waren fröhliche Lausbuben gewesen und für manchen Streich zu haben – aber ernsthafte Zwischenfälle gab es nie. Jetzt waren sie erwachsen, hatten Familie und lebten im Ausland. Ihre Enkel waren ihr ganzer Stolz. Bei dem Gedanken an die Buben wurde sie traurig. Wie gerne hätte sie die Jungs in ihrer Nähe, könnte mit ihnen im Park spazieren gehen, könnte ihnen im Sommer Eis und im Winter Maroni kaufen. Ihre Kinder liebten Eis und Maroni.
Sie ertappte sich immer öfter dabei, dass sie andere Großmütter neiderfüllt beobachtete, wenn sie mit ihrem Hund Bello im Park spazieren ging. Wie gut, dass sie wenigsten Bello hatte. Er war ein Mischling. Als ihr Mann schon in Pension war, brachte er eines Tages Bello mit. Er hatte ihn aus dem Tierheim geholt und gemeint, sie könnten wieder ein wenig Leben in der Wohnung vertragen. Täglich machten die zwei ihre Runde durch den Park.
Wieder glitt ihr Blick hinüber zum Park.
Da war er wieder – er kam geradewegs wieder auf dieselbe Bank zu, die ihrem Fenster gegenüberlag.
Sie erkannte ihn sofort an seiner Kleidung.
Die rote Baseballkappe, die er stets verkehrt herum trug. Die übergroße Skaterhose, die lässig an ihm herunterhing, das schlabberige schwarze Sweatshirt und wie immer die weißen Turnschuhe mit den offenen Schuhbändern, die bei jedem Schritt die Schottersteinchen auf dem Parkweg streiften.
Lässig ließ er sich auf die verwitterte grüne Holzbank fallen, streckte seine langen Beine aus und begann in seinen Hosentaschen zu kramen. Er legte etwas neben sich auf die Bank. Sie konnte nicht erkennen, was es war.
Er kam nur am Sonntagvormittag. Das fiel ihr seit geraumer Zeit auf.
Anfangs schenkte sie ihm kaum Beachtung. Doch mittlerweile konnte sie die Uhr nach ihm stellen. Wenn ihre alte Pendeluhr zehn mal schlug, war sie fast sicher, dass er auftauchen würde.
Sie warf einen kurzen Blick auf Bello, der immer noch schlafend auf seinem Platz lag. Was trieb diesen Jungen stets allein in den Park? Und immer nur sonntags?
Ihre Neugierde war geweckt. Heute würde sie in fragen.
Kurz entschlossen zog sie ihren alten schwarzen Staubmantel, dessen Kragen und Ärmelkanten schon ganz zerschlissen waren, an steckte eine graue Haarsträhne fest und setzte ihren schwarzen Strohhut auf, der jetzt wie eine kleine runde Schachtel auf ihrem Kopf thronte. Bello streckte sich verschlafen als sie ihn an die Leine nahm und folgte ihr nur widerwillig.
Als sie aus dem Haus trat, umfingen sie die warmen Strahlen der Frühsommersonnne. Vorsichtig überquerte sie die Straße, Bello hinter sich herziehend.
Sie ging gezielt auf die Bank zu, auf der der Junge saß.
„Darf ich mich zu dir setzten?“
Sie erhielt keine Antwort. Der Junge hatte die Kopfhörer seines Walkmans im Ohr und sie konnte die Musik hören. Laute Musik mit einem harten Klang. Er hatte die Augen geschlossen und sein rechter Fuß wippte im Takt.
Zaghaft berührte sie seinen rechten Arm. Er zuckte zusammen, fuhr hoch und sah sie verwundert an.
„Darf ich mich zu dir setzen?“
Wieder keine Antwort. Sie zeigte auf ihre Ohren und er begriff. Er nahm die Stöpsel aus seinen Ohren und sie stellte ihre Frage zum dritten Mal.
„Mir egal“, er kaute ungeniert weiter.
Sie setzte sich und zog Bello näher zu sich. Auch der Junge ließ sich wieder auf die Bank fallen. Der Boden neben ihm war übersät mit Zuckerlpapier.
„Kommst du oft hierher?“
„Hm“ mit dem rechten Fuß schob er die Kieselsteine zu einem kleinen Haufen zusammen.
„Kommst du immer alleine?“
„Hm“
„Hast du keine Freunde, was machst .....?“
„Wie heißt er?“ unterbrach er sie und deutete auf den Hund, der sich unter die Bank verkrochen hatte. Dabei sah er sie von der Seite misstrauisch an.
„Bello“
„Darf ich ihn streicheln?“
Sie zog Bello unter der Bank hervor und betrachtete gerührt, wie die Kinderhand mit den klebrigen Fingern vorsichtig durch das zottige Fell des alten Hundes strich.
„Hast du alle Süßigkeiten allein gegessen?“
„Hm“.
Er streichelte Bello weiter und dabei nahm sein Bubengesicht einen entspannten ja fast glücklichen Ausdruck an. Er hatte ein schmales blasses Gesicht und große blaugraue Augen mit auffallend langen dichten Wimpern.
„Hast du so viel Taschengeld?“
„Hm“
„Und du gibst alles für Süßigkeiten aus?“ „Sparst du nichts davon?“
„Geht nicht“ trotzig biss er sich auf seine Unterlippe.
„Darf ich einmal die Leine halten?“
„Du könntest doch sparen und dir auch einen Hund kaufen“
„Schau“; sagte er traurig, „ich kann nicht sparen, ich muss das Geld ausgeben.“
Sie sah ihn verständnislos an. Auch Bello spitzte die Ohren.
Und dann sprach er weiter, erst unsicher und dann immer schneller.
Seine Stimme war zornig und sein Gesicht rötete sich.
Sein Vater gehe am Sonntag immer auf den Fußballplatz. Wenn er weg sei, besuche der Onkel die Mama. Mama sei dann immer ganz fröhlich. Der Onkel gäbe ihm Geld. Kauf dir was Süßes sage er und gäbe ihm einen Klaps dabei. Dann müsse er gehen und dürfe nicht vor halb ein Uhr mittags zurückkommen.
Er holte tief Luft.
„Jetzt weißt du auch, warum ich das Geld nicht sparen kann. Was soll ich Papa sagen, woher ich das Geld habe?“
Er schluckte tapfer.
„Darf ich jetzt mit Bello gehen“
Sie saß da und sah in ungläubig an.
Und plötzlich wusste sie, dass sie von nun an die Sonntagvormittage nicht mehr allein verbringen musste ......
aber nur, wenn’s nit wüascht isch.
Sie stand am Fenst und schaute hinüber zum Park.
Bello lag zusammengerollt schlafend auf dem Sofa, dessen abgewetzte Stellen mit einer dunkelgrau karierten Decke kaschiert waren und dessen Armlehnen weiße Spitzendeckchen zierten.
Tick – tack – tick – tack langsam bewegte sich der Stundezeiger der alten Standuhr. Das Pendel schlug im Gleichklang hin und her.
Es war kurz vor zehn.
Sonntägliche Ruhe herrschte auf der Straße unter ihrem Fenster, das selbst gehäkelte weiße Garnvorhängevorhänge zierte. Ihre Wohnung lag im dritten Stock eines alten schäbigen Mietshauses. Seit ihrer Heirat vor mehr als fünfzig Jahren lebte sie hier. Ihr Mann war seit über zehn Jahren tot. Es fiel ihr zwar zunehmend schwerer die ausgetretenen Stufen bis zur ihrer Wohnung hinaufzusteigen, aber der nahe Park entschädigte sie für die Mühe. Außerdem verbanden sie mit dem alten Haus liebevolle Erinnerungen.
Mit ihrer knöcherigen Hand schob sie vorsichtig den Vorhang zur Seite. Ihre geliebten Usambaraveilchen trieben neue Blütenknospen. Vorsichtig zupfte sie die verwelkten Blätter ab. Mit der kleinen kupfernen Handgießkanne gab sie ihnen neue Nahrung und sprach dabei leise mit ihnen. Sie war überzeugt davon, dass Pflanzen besser gedeihen, wenn man mit ihnen sprach.
Ob er wohl heute auch kommen würde?
Ihr Blick wanderte suchend zum Park gegenüber.
Es war schon nach zehn.
Wie alt er wohl sein mochte?
Der Größe nach schätzte sie ihn auf acht. Aber die Größe konnte täuschen. Auch ihre drei Söhne waren für ihr Alter immer groß. Bei dem Gedanken an ihre Kinder durchfuhr sie ein Gefühl von Dankbarkeit und auch ein wenig Wehmut. Dankbarkeit dafür, dass sie ihr nie Kummer bereitet hatten – sie waren fröhliche Lausbuben gewesen und für manchen Streich zu haben – aber ernsthafte Zwischenfälle gab es nie. Jetzt waren sie erwachsen, hatten Familie und lebten im Ausland. Ihre Enkel waren ihr ganzer Stolz. Bei dem Gedanken an die Buben wurde sie traurig. Wie gerne hätte sie die Jungs in ihrer Nähe, könnte mit ihnen im Park spazieren gehen, könnte ihnen im Sommer Eis und im Winter Maroni kaufen. Ihre Kinder liebten Eis und Maroni.
Sie ertappte sich immer öfter dabei, dass sie andere Großmütter neiderfüllt beobachtete, wenn sie mit ihrem Hund Bello im Park spazieren ging. Wie gut, dass sie wenigsten Bello hatte. Er war ein Mischling. Als ihr Mann schon in Pension war, brachte er eines Tages Bello mit. Er hatte ihn aus dem Tierheim geholt und gemeint, sie könnten wieder ein wenig Leben in der Wohnung vertragen. Täglich machten die zwei ihre Runde durch den Park.
Wieder glitt ihr Blick hinüber zum Park.
Da war er wieder – er kam geradewegs wieder auf dieselbe Bank zu, die ihrem Fenster gegenüberlag.
Sie erkannte ihn sofort an seiner Kleidung.
Die rote Baseballkappe, die er stets verkehrt herum trug. Die übergroße Skaterhose, die lässig an ihm herunterhing, das schlabberige schwarze Sweatshirt und wie immer die weißen Turnschuhe mit den offenen Schuhbändern, die bei jedem Schritt die Schottersteinchen auf dem Parkweg streiften.
Lässig ließ er sich auf die verwitterte grüne Holzbank fallen, streckte seine langen Beine aus und begann in seinen Hosentaschen zu kramen. Er legte etwas neben sich auf die Bank. Sie konnte nicht erkennen, was es war.
Er kam nur am Sonntagvormittag. Das fiel ihr seit geraumer Zeit auf.
Anfangs schenkte sie ihm kaum Beachtung. Doch mittlerweile konnte sie die Uhr nach ihm stellen. Wenn ihre alte Pendeluhr zehn mal schlug, war sie fast sicher, dass er auftauchen würde.
Sie warf einen kurzen Blick auf Bello, der immer noch schlafend auf seinem Platz lag. Was trieb diesen Jungen stets allein in den Park? Und immer nur sonntags?
Ihre Neugierde war geweckt. Heute würde sie in fragen.
Kurz entschlossen zog sie ihren alten schwarzen Staubmantel, dessen Kragen und Ärmelkanten schon ganz zerschlissen waren, an steckte eine graue Haarsträhne fest und setzte ihren schwarzen Strohhut auf, der jetzt wie eine kleine runde Schachtel auf ihrem Kopf thronte. Bello streckte sich verschlafen als sie ihn an die Leine nahm und folgte ihr nur widerwillig.
Als sie aus dem Haus trat, umfingen sie die warmen Strahlen der Frühsommersonnne. Vorsichtig überquerte sie die Straße, Bello hinter sich herziehend.
Sie ging gezielt auf die Bank zu, auf der der Junge saß.
„Darf ich mich zu dir setzten?“
Sie erhielt keine Antwort. Der Junge hatte die Kopfhörer seines Walkmans im Ohr und sie konnte die Musik hören. Laute Musik mit einem harten Klang. Er hatte die Augen geschlossen und sein rechter Fuß wippte im Takt.
Zaghaft berührte sie seinen rechten Arm. Er zuckte zusammen, fuhr hoch und sah sie verwundert an.
„Darf ich mich zu dir setzen?“
Wieder keine Antwort. Sie zeigte auf ihre Ohren und er begriff. Er nahm die Stöpsel aus seinen Ohren und sie stellte ihre Frage zum dritten Mal.
„Mir egal“, er kaute ungeniert weiter.
Sie setzte sich und zog Bello näher zu sich. Auch der Junge ließ sich wieder auf die Bank fallen. Der Boden neben ihm war übersät mit Zuckerlpapier.
„Kommst du oft hierher?“
„Hm“ mit dem rechten Fuß schob er die Kieselsteine zu einem kleinen Haufen zusammen.
„Kommst du immer alleine?“
„Hm“
„Hast du keine Freunde, was machst .....?“
„Wie heißt er?“ unterbrach er sie und deutete auf den Hund, der sich unter die Bank verkrochen hatte. Dabei sah er sie von der Seite misstrauisch an.
„Bello“
„Darf ich ihn streicheln?“
Sie zog Bello unter der Bank hervor und betrachtete gerührt, wie die Kinderhand mit den klebrigen Fingern vorsichtig durch das zottige Fell des alten Hundes strich.
„Hast du alle Süßigkeiten allein gegessen?“
„Hm“.
Er streichelte Bello weiter und dabei nahm sein Bubengesicht einen entspannten ja fast glücklichen Ausdruck an. Er hatte ein schmales blasses Gesicht und große blaugraue Augen mit auffallend langen dichten Wimpern.
„Hast du so viel Taschengeld?“
„Hm“
„Und du gibst alles für Süßigkeiten aus?“ „Sparst du nichts davon?“
„Geht nicht“ trotzig biss er sich auf seine Unterlippe.
„Darf ich einmal die Leine halten?“
„Du könntest doch sparen und dir auch einen Hund kaufen“
„Schau“; sagte er traurig, „ich kann nicht sparen, ich muss das Geld ausgeben.“
Sie sah ihn verständnislos an. Auch Bello spitzte die Ohren.
Und dann sprach er weiter, erst unsicher und dann immer schneller.
Seine Stimme war zornig und sein Gesicht rötete sich.
Sein Vater gehe am Sonntag immer auf den Fußballplatz. Wenn er weg sei, besuche der Onkel die Mama. Mama sei dann immer ganz fröhlich. Der Onkel gäbe ihm Geld. Kauf dir was Süßes sage er und gäbe ihm einen Klaps dabei. Dann müsse er gehen und dürfe nicht vor halb ein Uhr mittags zurückkommen.
Er holte tief Luft.
„Jetzt weißt du auch, warum ich das Geld nicht sparen kann. Was soll ich Papa sagen, woher ich das Geld habe?“
Er schluckte tapfer.
„Darf ich jetzt mit Bello gehen“
Sie saß da und sah in ungläubig an.
Und plötzlich wusste sie, dass sie von nun an die Sonntagvormittage nicht mehr allein verbringen musste ......
aber nur, wenn’s nit wüascht isch.