Der Bär
Verfasst: 13.07.2010, 11:55
Der Bär
Es klingelt. Sie lässt sich Zeit, geht langsam zur Tür. Er kommt zu früh und bleibt zu lange, kommt zu oft. Sie öffnet. Durch die Tür drängt sich ein brauner Bär. Klaus verschwindet hinter ihm. Lore tritt unwillkürlich einen Schritt zurück. Klaus schiebt sich an ihr vorbei, geht ins Wohnzimmer und setzt den Bären auf das Sofa. Lore folgt ihm ungläubig. Klaus spricht liebevoll mit dem Bären:
„Das ist Lore. Wir werden sie öfter besuchen. Sie ist eine ganz Liebe, du brauchst keine Angst vor ihr zu haben.“
Erst jetzt begrüßt Klaus Lore. Ein bisschen unsicher ist er schon. Lore ringt mit sich. ‚Soll ich sagen, was ich denke?’
Klaus nimmt den Bären hoch und geht auf Lore zu. Eine braune Tatze berührt ihre Wange. Lore schrickt aus ihren Gedanken auf.
„Mein Gott, ging das nicht etwas kleiner?“ fragt sie ärgerlich und schiebt die Plüschtatze beiseite.
Lore hat Klaus vorgeschlagen, sich ein Kuscheltier zu besorgen, als er nach seinem Herzstillstand Angst hat zu sterben und Angst hat zu leben. Darum hat er auch Schlüssel für ihre Wohnung, aber er wohnt nicht bei ihr. Das haben sie nur eine kurze Zeit versucht, zwischen Krankenhausaufenthalt und Reha-Klinik. Klaus ist, getrieben von der Angst vor dem Alleinsein in seinem Haus, zu ihr geflüchtet. Das konnte nicht gut gehen. Es gab Streit, in dessen Verlauf er Lore als pingelig und kleinlich beschimpfte. Obwohl Klaus nicht bei ihr wohnt, fühlt Lore sich so bedrängt, dass sie meint keine Luft zum Atmen mehr zu haben. Er ruft sie ohne Rücksicht nachts an, wenn er nicht schlafen kann. Klaus kann nicht allein sein, hängt ihr wie ein Kind am Rockzipfel.
Körperlich ist Klaus wieder hergestellt, nur gehört die Angst jetzt zu ihm. Manchmal findet Lore ihn in ihrer Wohnung, wenn sie mittags von der Arbeit kommt. Sie muss früh aufstehen. Sie ist dann erschöpft und müde und will allein sein. Sie will schlafen, um am Nachmittag mit neuen Kräften ihre eigenen Interessen zu verfolgen, zu malen, Projekte vorzubereiten, zu lesen.
Lore hält das Klammern von Klaus nicht aus. Sie hat gehört, dass Kuscheltiere in extremen Fällen von Angst vor dem Alleinsein hilfreich sein können.
„Dieser Bär ist viel zu groß! Solche Bären werden auf Jahrmärkten von Vätern für ihre Kinder geschossen.“
„Willst du damit sagen, ich sei noch ein Kind? Du scheinst zu vergessen...“
Wütend blickt Klaus Lore an. Manchmal befürchtet Lore, dass Klaus lesen kann, was sie denkt. Klaus steht mit herunter hängenden Armen neben dem Sofa, die braunen Augen fixieren Lore. Sie sieht den Jungen, der von der Mutter nicht das erwartete Lob bekommt. Sie behält ihre Gedanken lieber für sich. Sie fürchtet viel zu oft Klaus zu verletzen. Wenn sie ehrlich ist, fürchtet sie die dann folgenden Auseinandersetzungen, die schnell zu Vorwürfen führen, zu Anklagen werden, mit Türen schlagender Flucht und endlosen Telefonaten enden. Klaus vollendet seinen Satz nicht. Er dreht sich abrupt um, greift den Bären und verlässt das Zimmer. Die Tür zum Arbeitszimmer knallt zu.
Am liebsten würde Lore hinterher laufen und ihn bitten zu gehen. Ein ruhiges Wochenende wird sie allerdings auch dann nicht haben.
Ihre Beziehung hat vor vier Jahren begonnen. Zu Anfang hat Lore diese Liebe als ein Geschenk gesehen, aber schon nach zwei Monaten war sie sich nicht mehr so sicher. Immer reagiert Klaus übertrieben empfindlich, fühlt sich nicht richtig wahrgenommen, nicht anerkannt, nicht geliebt. Klaus hat Geld, Lore hat keines. Das ist eine Ungleichheit, der sie kein Gewicht beigemessen hatte. Er macht ihr Geschenke, Dinge, die nicht notwendig sind, sie aber erfreuen. Sie kann ihm diese Art Geschenke nicht machen. Lore liebt Klaus, ist sich aber nicht mehr sicher, ob Klaus sie wirklich liebt oder nur braucht, gebraucht. Sie ist für ihn da, fühlt sich in ihn ein – aber in seinen Augen nie genug. Was sie gibt, gilt nichts, es kostet kein Geld. Sie haben ungleiche Währungen. Das Glück des Anfangs hat sich sehr schnell verflüchtigt.
Lore versucht Zeit zu gewinnen. Sie geht in die Küche und bereitet das Abendessen zu. Erst nach einer ganzen Weile öffnet sie die Tür zum Arbeitszimmer. Klaus sitzt im Gegenlicht am Fenster. Er hält den Bären umklammert, der sein Gesicht fast verdeckt.
„Wir können essen!“
„Mir ist der Hunger vergangen!“
Lore kennt das Spiel und reißt sich zusammen. Sie geht auf Klaus zu und küsst ihn. ‚Gut, das wird ein Wochenende zu dritt’ denkt Lore.
Sie hat Freunde, die mit „Bärlis“ leben, fünf unterschiedlichen Teddybären in handlicher Größe. Aber das sind Schauspieler. Lore hat deren Spiel mit den „Bärlis“ immer genossen. Dies ist ein ausgewachsener Braunbär und die sind gefährlich. Lore überwindet sich und ergreift die Bärentatze. Sie versucht mit dem Bären ins Spiel zu kommen.
„Na, kannst du auch brummen?“
„Knuddel kann nicht brummen. Er ist auch kein Tanzbär, falls du ihn das als nächstes fragen wolltest.“
Klaus sieht sie schief von der Seite an. Er klingt beleidigt. Aber dann kommt er doch mit ins Wohnzimmer. Lore kann nicht umhin, sie sieht den kleinen Christopher Robin vor sich hergehen.
Klaus setzt den Bären umständlich auf den Stuhl. Seine Glasaugen starren Lore während des ganzen Essens an. Sie hat Kerzen auf den Tisch gestellt. Sie werfen den Schatten des Bären riesengroß an die weiße Schrankwand. Sie essen schweigend.
Plötzlich stößt Lore ihren Stuhl zurück und stürzt aus dem Zimmer. In der Küche reißt sie das Fenster auf und holt tief Luft. Als sie sich ein wenig beruhigt hat, nimmt sie das Honigglas vom Bord und geht innerlich lächelnd zurück an den Abendbrottisch.
„Bären lieben Honig“, sagt sie und setzt das Glas vor den Bären.
Klaus behauptet, sie habe keinen Humor – jetzt hat er keinen und explodiert.
„Lass diesen Blödsinn!“ schreit er und stößt das Honigglas gefährlich nahe an die Tischkante.
Lore kämpft mit ambivalenten Gefühlen. Klaus ist ihrem Rat gefolgt – und sie ist eifersüchtig auf diesen Bären. Jonathan, der kleine rothaarige Junge, kannte die Ameise Willibald. Merle sprach mit Sofia und sagte: “Du kannst Sofia nicht sehen, aber sie geht zwischen uns.“ Aber ein Mann, der mit einem ausgewachsenen Plüschbären spricht?
Lore hat den Verdacht, dass sich für Klaus die Realität verschoben hat. Dieser Bär, mit dem er zärtlich spricht, den er berührt und den er von einem Zimmer ins andere schleppt, ist aus Fellimitat. ‚Und dann hat er ihm auch noch meinen Kosenamen gegeben! Hat Klaus vergessen, dass ich sein Knuddel bin, wenigstens in den selten gewordenen zärtlichen Augenblicken der Liebe?’
Dass sie sich nur noch so selten lieben, macht Klaus Lore auch zum Vorwurf. Aber Lore hat ihn so erbärmlich, so klein erlebt, muss so oft die stillende Mutter sein – wie kann sie Klaus noch als Liebhaber sehen? Er besteht darauf, wenn es ihm gut geht, und ist doch ein über alle Maßen bedürftiges Kind.
Sie beenden das Mahl schweigend, verbissen auf die Teller schauend. Der Bär stiert unbeteiligt durch sie hindurch. Lore räumt den Tisch ab. Sie zieht ihren Mantel an und ruft durch die offen stehende Wohnzimmertür:
„Ich brauche jetzt Luft! Kommst Du mit auf eine Runde durch die Schrebergärten?“
Eigentlich wäre sie lieber alleine gegangen, aber sie hat ihn gefragt und – sie traut ihren Ohren nicht – er will mitkommen. Aber da er den Bären in eine Plastiktüte steckt und mit nimmt, vergeht ihre Freude schnell wieder. Einsilbig gehen sie nebeneinander her, zwischen ihnen lugt der Bär aus der zu kleinen Plastiktüte.
Als sie Schlafen gehen, setzt Klaus den Bären auf den Schaukelstuhl gegenüber dem Bett. Lore knipst das Licht aus.
„Gute Nacht, schlaf gut“, sagt sie und dreht Klaus den Rücken zu.
Lore hört das Ticken des Weckers, irgendwo im Haus wird die Wasserspülung betätigt... Lore kann nicht in den Schlaf finden. Klaus wühlt auf seiner Seite des Bettes herum.
„Erzählst du uns keine Gutenachtgeschichte?“ kommt es schließlich aus seinen Kissen.
Lore dreht sich auf den Rücken. Sofort beugt sich Klaus über sie, aber Lore schiebt ihn sanft weg. Ihre Augen haben sich an die Dunkelheit gewöhnt. Sie sieht hinter ihm den Bären.
„ Hier kommt nun Eduard Bär die Treppe herunter, rumpeldipumpel, auf dem Hinterkopf, hinter Christopher Robin...“
„Knuddel...“
„Nenne mich nicht noch einmal mit diesem Namen! Ich bin kein Plüschtier!“
„Nein...“
„Ich bin aus Fleisch und Blut. Ich bin die Realität. Zu mir kommst du, wenn dich die Angst überwältigt, mich hast du nachts mit dem Taxi losgeschickt, dein im Haus vergessenes Blutdruckmessgerät zu holen...“
„Aber wir lieben uns doch!“
„Wir haben uns geliebt. Ob wir uns noch lieben, weiß ich nicht. Manchmal habe ich das Gefühl du benutzt mich. Vor das Bild des Mannes, den ich liebe, hat sich ein vergilbtes Kinderfoto geschoben. Der kleine Junge, der ganz alleine in den wirren Monaten nach Kriegsende von der tschechischen Grenze durch die Besatzungszonen nach Hamburg wanderte. Ich habe Fantasie, was du verdrängst, kann ich mir vorstellen. Dieser Junge lebt immer noch in dir. Wie sollte ich kein Mitgefühl mit ihm haben. Nur bleibt dabei der Liebhaber auf der Strecke. Eine Mutter liebt ihren Sohn nicht sexuell.“
„Du bist gemein!“
Klaus springt aus dem Bett und ergreift das Glas Wasser, das auf dem Nachtisch steht. Er wirft es nach Lore, die sich nach den letzten Worten aufgesetzt hat.
Klaus, der Sanfte, der sich für so friedfertig hält, ist ausgerastet! ‚Ich habe ihn dazu gebracht, aus der Haut zu fahren’, denkt Lore und muss sich sofort einstellender Schuldgefühle erwehren.
Das Glas ist am Buchregal zersprungen. Lore sammelt die Scherben auf. Im Vorbeigehen gibt sie dem Schaukelstuhl einen Schubs, dass der Bär raus fällt.
„Ihr geht! Es reicht!“
Elke Tegtmeyer
Es klingelt. Sie lässt sich Zeit, geht langsam zur Tür. Er kommt zu früh und bleibt zu lange, kommt zu oft. Sie öffnet. Durch die Tür drängt sich ein brauner Bär. Klaus verschwindet hinter ihm. Lore tritt unwillkürlich einen Schritt zurück. Klaus schiebt sich an ihr vorbei, geht ins Wohnzimmer und setzt den Bären auf das Sofa. Lore folgt ihm ungläubig. Klaus spricht liebevoll mit dem Bären:
„Das ist Lore. Wir werden sie öfter besuchen. Sie ist eine ganz Liebe, du brauchst keine Angst vor ihr zu haben.“
Erst jetzt begrüßt Klaus Lore. Ein bisschen unsicher ist er schon. Lore ringt mit sich. ‚Soll ich sagen, was ich denke?’
Klaus nimmt den Bären hoch und geht auf Lore zu. Eine braune Tatze berührt ihre Wange. Lore schrickt aus ihren Gedanken auf.
„Mein Gott, ging das nicht etwas kleiner?“ fragt sie ärgerlich und schiebt die Plüschtatze beiseite.
Lore hat Klaus vorgeschlagen, sich ein Kuscheltier zu besorgen, als er nach seinem Herzstillstand Angst hat zu sterben und Angst hat zu leben. Darum hat er auch Schlüssel für ihre Wohnung, aber er wohnt nicht bei ihr. Das haben sie nur eine kurze Zeit versucht, zwischen Krankenhausaufenthalt und Reha-Klinik. Klaus ist, getrieben von der Angst vor dem Alleinsein in seinem Haus, zu ihr geflüchtet. Das konnte nicht gut gehen. Es gab Streit, in dessen Verlauf er Lore als pingelig und kleinlich beschimpfte. Obwohl Klaus nicht bei ihr wohnt, fühlt Lore sich so bedrängt, dass sie meint keine Luft zum Atmen mehr zu haben. Er ruft sie ohne Rücksicht nachts an, wenn er nicht schlafen kann. Klaus kann nicht allein sein, hängt ihr wie ein Kind am Rockzipfel.
Körperlich ist Klaus wieder hergestellt, nur gehört die Angst jetzt zu ihm. Manchmal findet Lore ihn in ihrer Wohnung, wenn sie mittags von der Arbeit kommt. Sie muss früh aufstehen. Sie ist dann erschöpft und müde und will allein sein. Sie will schlafen, um am Nachmittag mit neuen Kräften ihre eigenen Interessen zu verfolgen, zu malen, Projekte vorzubereiten, zu lesen.
Lore hält das Klammern von Klaus nicht aus. Sie hat gehört, dass Kuscheltiere in extremen Fällen von Angst vor dem Alleinsein hilfreich sein können.
„Dieser Bär ist viel zu groß! Solche Bären werden auf Jahrmärkten von Vätern für ihre Kinder geschossen.“
„Willst du damit sagen, ich sei noch ein Kind? Du scheinst zu vergessen...“
Wütend blickt Klaus Lore an. Manchmal befürchtet Lore, dass Klaus lesen kann, was sie denkt. Klaus steht mit herunter hängenden Armen neben dem Sofa, die braunen Augen fixieren Lore. Sie sieht den Jungen, der von der Mutter nicht das erwartete Lob bekommt. Sie behält ihre Gedanken lieber für sich. Sie fürchtet viel zu oft Klaus zu verletzen. Wenn sie ehrlich ist, fürchtet sie die dann folgenden Auseinandersetzungen, die schnell zu Vorwürfen führen, zu Anklagen werden, mit Türen schlagender Flucht und endlosen Telefonaten enden. Klaus vollendet seinen Satz nicht. Er dreht sich abrupt um, greift den Bären und verlässt das Zimmer. Die Tür zum Arbeitszimmer knallt zu.
Am liebsten würde Lore hinterher laufen und ihn bitten zu gehen. Ein ruhiges Wochenende wird sie allerdings auch dann nicht haben.
Ihre Beziehung hat vor vier Jahren begonnen. Zu Anfang hat Lore diese Liebe als ein Geschenk gesehen, aber schon nach zwei Monaten war sie sich nicht mehr so sicher. Immer reagiert Klaus übertrieben empfindlich, fühlt sich nicht richtig wahrgenommen, nicht anerkannt, nicht geliebt. Klaus hat Geld, Lore hat keines. Das ist eine Ungleichheit, der sie kein Gewicht beigemessen hatte. Er macht ihr Geschenke, Dinge, die nicht notwendig sind, sie aber erfreuen. Sie kann ihm diese Art Geschenke nicht machen. Lore liebt Klaus, ist sich aber nicht mehr sicher, ob Klaus sie wirklich liebt oder nur braucht, gebraucht. Sie ist für ihn da, fühlt sich in ihn ein – aber in seinen Augen nie genug. Was sie gibt, gilt nichts, es kostet kein Geld. Sie haben ungleiche Währungen. Das Glück des Anfangs hat sich sehr schnell verflüchtigt.
Lore versucht Zeit zu gewinnen. Sie geht in die Küche und bereitet das Abendessen zu. Erst nach einer ganzen Weile öffnet sie die Tür zum Arbeitszimmer. Klaus sitzt im Gegenlicht am Fenster. Er hält den Bären umklammert, der sein Gesicht fast verdeckt.
„Wir können essen!“
„Mir ist der Hunger vergangen!“
Lore kennt das Spiel und reißt sich zusammen. Sie geht auf Klaus zu und küsst ihn. ‚Gut, das wird ein Wochenende zu dritt’ denkt Lore.
Sie hat Freunde, die mit „Bärlis“ leben, fünf unterschiedlichen Teddybären in handlicher Größe. Aber das sind Schauspieler. Lore hat deren Spiel mit den „Bärlis“ immer genossen. Dies ist ein ausgewachsener Braunbär und die sind gefährlich. Lore überwindet sich und ergreift die Bärentatze. Sie versucht mit dem Bären ins Spiel zu kommen.
„Na, kannst du auch brummen?“
„Knuddel kann nicht brummen. Er ist auch kein Tanzbär, falls du ihn das als nächstes fragen wolltest.“
Klaus sieht sie schief von der Seite an. Er klingt beleidigt. Aber dann kommt er doch mit ins Wohnzimmer. Lore kann nicht umhin, sie sieht den kleinen Christopher Robin vor sich hergehen.
Klaus setzt den Bären umständlich auf den Stuhl. Seine Glasaugen starren Lore während des ganzen Essens an. Sie hat Kerzen auf den Tisch gestellt. Sie werfen den Schatten des Bären riesengroß an die weiße Schrankwand. Sie essen schweigend.
Plötzlich stößt Lore ihren Stuhl zurück und stürzt aus dem Zimmer. In der Küche reißt sie das Fenster auf und holt tief Luft. Als sie sich ein wenig beruhigt hat, nimmt sie das Honigglas vom Bord und geht innerlich lächelnd zurück an den Abendbrottisch.
„Bären lieben Honig“, sagt sie und setzt das Glas vor den Bären.
Klaus behauptet, sie habe keinen Humor – jetzt hat er keinen und explodiert.
„Lass diesen Blödsinn!“ schreit er und stößt das Honigglas gefährlich nahe an die Tischkante.
Lore kämpft mit ambivalenten Gefühlen. Klaus ist ihrem Rat gefolgt – und sie ist eifersüchtig auf diesen Bären. Jonathan, der kleine rothaarige Junge, kannte die Ameise Willibald. Merle sprach mit Sofia und sagte: “Du kannst Sofia nicht sehen, aber sie geht zwischen uns.“ Aber ein Mann, der mit einem ausgewachsenen Plüschbären spricht?
Lore hat den Verdacht, dass sich für Klaus die Realität verschoben hat. Dieser Bär, mit dem er zärtlich spricht, den er berührt und den er von einem Zimmer ins andere schleppt, ist aus Fellimitat. ‚Und dann hat er ihm auch noch meinen Kosenamen gegeben! Hat Klaus vergessen, dass ich sein Knuddel bin, wenigstens in den selten gewordenen zärtlichen Augenblicken der Liebe?’
Dass sie sich nur noch so selten lieben, macht Klaus Lore auch zum Vorwurf. Aber Lore hat ihn so erbärmlich, so klein erlebt, muss so oft die stillende Mutter sein – wie kann sie Klaus noch als Liebhaber sehen? Er besteht darauf, wenn es ihm gut geht, und ist doch ein über alle Maßen bedürftiges Kind.
Sie beenden das Mahl schweigend, verbissen auf die Teller schauend. Der Bär stiert unbeteiligt durch sie hindurch. Lore räumt den Tisch ab. Sie zieht ihren Mantel an und ruft durch die offen stehende Wohnzimmertür:
„Ich brauche jetzt Luft! Kommst Du mit auf eine Runde durch die Schrebergärten?“
Eigentlich wäre sie lieber alleine gegangen, aber sie hat ihn gefragt und – sie traut ihren Ohren nicht – er will mitkommen. Aber da er den Bären in eine Plastiktüte steckt und mit nimmt, vergeht ihre Freude schnell wieder. Einsilbig gehen sie nebeneinander her, zwischen ihnen lugt der Bär aus der zu kleinen Plastiktüte.
Als sie Schlafen gehen, setzt Klaus den Bären auf den Schaukelstuhl gegenüber dem Bett. Lore knipst das Licht aus.
„Gute Nacht, schlaf gut“, sagt sie und dreht Klaus den Rücken zu.
Lore hört das Ticken des Weckers, irgendwo im Haus wird die Wasserspülung betätigt... Lore kann nicht in den Schlaf finden. Klaus wühlt auf seiner Seite des Bettes herum.
„Erzählst du uns keine Gutenachtgeschichte?“ kommt es schließlich aus seinen Kissen.
Lore dreht sich auf den Rücken. Sofort beugt sich Klaus über sie, aber Lore schiebt ihn sanft weg. Ihre Augen haben sich an die Dunkelheit gewöhnt. Sie sieht hinter ihm den Bären.
„ Hier kommt nun Eduard Bär die Treppe herunter, rumpeldipumpel, auf dem Hinterkopf, hinter Christopher Robin...“
Wolltest du diese Geschichte hören? Du bist kein kleiner Junge. Als ich Dir ein Kuscheltier empfahl, habe ich nicht an einen ausgewachsenen Bären gedacht. Dass du ihn auch noch Knuddel genannt hast, ist für mich ein Affront.“Alan Alexander Milne: Pu der Bär
„Knuddel...“
„Nenne mich nicht noch einmal mit diesem Namen! Ich bin kein Plüschtier!“
„Nein...“
„Ich bin aus Fleisch und Blut. Ich bin die Realität. Zu mir kommst du, wenn dich die Angst überwältigt, mich hast du nachts mit dem Taxi losgeschickt, dein im Haus vergessenes Blutdruckmessgerät zu holen...“
„Aber wir lieben uns doch!“
„Wir haben uns geliebt. Ob wir uns noch lieben, weiß ich nicht. Manchmal habe ich das Gefühl du benutzt mich. Vor das Bild des Mannes, den ich liebe, hat sich ein vergilbtes Kinderfoto geschoben. Der kleine Junge, der ganz alleine in den wirren Monaten nach Kriegsende von der tschechischen Grenze durch die Besatzungszonen nach Hamburg wanderte. Ich habe Fantasie, was du verdrängst, kann ich mir vorstellen. Dieser Junge lebt immer noch in dir. Wie sollte ich kein Mitgefühl mit ihm haben. Nur bleibt dabei der Liebhaber auf der Strecke. Eine Mutter liebt ihren Sohn nicht sexuell.“
„Du bist gemein!“
Klaus springt aus dem Bett und ergreift das Glas Wasser, das auf dem Nachtisch steht. Er wirft es nach Lore, die sich nach den letzten Worten aufgesetzt hat.
Klaus, der Sanfte, der sich für so friedfertig hält, ist ausgerastet! ‚Ich habe ihn dazu gebracht, aus der Haut zu fahren’, denkt Lore und muss sich sofort einstellender Schuldgefühle erwehren.
Das Glas ist am Buchregal zersprungen. Lore sammelt die Scherben auf. Im Vorbeigehen gibt sie dem Schaukelstuhl einen Schubs, dass der Bär raus fällt.
„Ihr geht! Es reicht!“
Elke Tegtmeyer