Juistskizze 3 - Aus dem Unterholz des Speisesaals -

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 13.07.2010, 10:00

10/I/2010 - 12/VII/2010

Juistskizze 3

- Aus dem Unterholz des Speisesaals -


Er sah aus wie eine Mischung aus Boris Becker und einem Einbaum aus nordischer Moorfichte, war 2 Meter 60 hoch und breit wie ein schmiedeeisenbeschlagenes Scheunentor. Alles an ihm war zu groß und zu grobmotorisch, schien nicht zu ihm zu gehören oder wie mit Holzdübeln angehängt. Sie hatten ihn wohl als Knabe bei Neumond im Winter eingeschlagen, zu den anderen Stämmen ins Holzlager gelegt, und da vergessen.

Ein kleiner Faden hängt ihm jetzt aus der Nase.
HEUTE WAR ICH SCHWIMMEN, brüllt er.
Was, bei där Kelde? bewundert ihn eine Frau aus dem Schwäbischen, des isch jo oglaublich.

DAS WAR GAR NICHT KALT! NEINNEIN! HAHA!

Die Suppe kommt. Blumenkohlrahm sauheiß. Ich nehme mit dem Löffel vorsichtig spitzenweise von der Oberfläche, puste, und verbrenn mir die Lippe.
Die Moorfichte taucht mit dem Löffel tief in die Terrine und schluckt die Brühe ohne Zunge. Direkt in den Hals. Und dann den nächsten Löffel. Und den nächsten. Dann hebt er die Tasse und trinkt direkt daraus, schlürft sie leer, mit Blumenkohl, mit Löffel, mit Glasur. Ich puste immer noch am zweiten Löffel. Gleichzeitig piepst es in meinem Ohr.

ICH BIN HEUTE UM DIE GANZE INSEL GELAUFEN!

Sie sin ja au gans rod em Gsichd, schwäbelts wieder aus der Reiche-Omma-Ecke.

ABER ICH HAB MICH EINGEKREMT, JAJA!

Seine Birne leuchtet pavianarschfarben. Auf dem Zinken schälen sich Hautfetzen ab. Vielleicht hatte er sich mit Dorschtran eingekremt. Der Fisch kommt. Blauling, auf einem Klacks Bernaise, an Saisongemüsen, in Butter gedünstet, und dazu dampfende Petersiliekartoffelkaraffen.
Der Holzkraken umfingert Terrinen wie Teller gleichzeitig, baggert alles gefährlich hoch auf seinen Teller und schling als erstes ein ganze Kartoffel hinunter. Er kaut nur kurz und würgt alles wie eine Boa herunter, und es dampft aus seinem Rachen. Jetzt einen halben Fisch. Dann die nächste Kartoffel. Ich fülle gerade meine Teller auf. Bin schon satt. Er rülpst leise und schlingt das Gemüse in wenigen Hieben herunter. Dazwischen immer wieder glühende Kartoffeln. Ich puste. Der Faden reißt ab und tropft auf seinen Teller. Es piepst wieder in meinem Ohr. Wie eine Rückkopplung vom Mikrofon im Proberaum.
Nein. Er hat ein Hörgerät. Jetzt sehe ich das. Das übersteuert völlig, es schwingt hochfrequent im Speiseraum, und alle gucken. Hinter seinem Ohr blinkt eine rote Diode. Das Leuchtfeuer sendet SOS. Es ist zwar offensichtlich auf volle Lautstärke aufgedreht, nützt aber ebenso offensichtlich nichts, so wie der Kerl brüllt.
Schwupp, die Riesen-Eiskugel hinterher, in zwei Happen à minus 5 Grad, brühend heißen Espresso draufgekippt, kleines Bäuerchen dazu, und fertig ist der Odenwald. Ich muss raus hier, Schnaps und rauchen. Er knüppelt hinter mir her.

WAR LECKER, NÄ?




* neu verschwäbelt dank Flora und Pjotr!
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Menschheit, Du hattest von Anfang an nicht das Zeug dazu... (Charles Bukowski)

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 13.07.2010, 10:59

Toll - jetzt hab ich auch keinen Appetit mehr ... :s030:
Aber warum steht der erste Absatz im Präteritum?

Gruß von Zefira
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)

Max

Beitragvon Max » 13.07.2010, 13:24

Hi Tom.,

lese ich immer gern!

Ich würde auch den ersten Absatz im Präsens schreiben.
Bei der Frau bin ich nicht sicher, ob mir der geschriebene Dialekt nicht eher nach Schwäbisch klingt - ei, frog se doch a mol ;-)

Liebe grüße
Max

MarleneGeselle

Beitragvon MarleneGeselle » 14.07.2010, 08:33

Guten Morgen Max,

das ist eher Fränkisch als Schwäbisch. Aber beides kommt ohnehin kaum noch reinrassig vor.

Ansonsten: witzig und überspitzt wie immer.

Schönen Tag noch.
Marlene

Mucki
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Beitragvon Mucki » 14.07.2010, 12:50

fränkisch - schwäbisch, gibts da 'nen Unterschied? *duck* :mrgreen:

Moin Tom,

köstlich plastisch und spritzig witzig geschrieben!
Klasse, dass du auch - ganz konsequent - die Sprüche von dem Riesen in Großbuchstaben geschrieben hast. Da kommt's noch fetter, lauter, größer rüber, ha, ha.

Amüsierte Grüße
Mucki

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 23.07.2010, 22:02

Hallöle, Ihr Lieben.

Zunächst mal zum ersten Absatz: Also ich finde das eigentlich ganz gut, dass die Vorstellung des Typs, die ja auch in seine Vergangenheit geht, in ebensolcher steht, und erst ab der Live-Reportage die Gegenwart beginnt. Ist das so störend?

Zum Fränkisch/Schwäbischen finde ich auch keine klare Abgrenzung. Muss ich vielleicht noch mal recherchieren. Ist aber eh alles dasselbe Kauderwelsch :o) Ei verbübsch nochemol.

Danke für die bekundete Freude an dieser kleinen Anekdote.

Tom.
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MarleneGeselle

Beitragvon MarleneGeselle » 26.07.2010, 13:28

Schwäbisch-Kanakisch, das ist Kauderwelsch, das andere ganz gut zu verstehen.

Max

Beitragvon Max » 27.07.2010, 22:02

Thomas Milser hat geschrieben:Ist das so störend?


Hi Tom,

störend ist zuviel gesagt aber ich belibe dran hängen.

Liebe grüße
Max

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 28.07.2010, 01:39

Is das nu schlecht oder gut?
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Trixie

Beitragvon Trixie » 28.07.2010, 09:06

Huhu Tom,

also, ich würd sagen - weder noch? Es gibt schon nen Unterschied, es gibt ja allein schon einen zwischen Mittelfränkisch und Unterfränkisch, dann noch die an der Grenze, Odenwald ist wieder was ganz anderes (@fertig ist der Odenwald) das passt irgendwie gar nicht da rein *kopfkratz* oder ist das ein feststehender Ausdruck?

Ohne Gewähr:
Auf einem der vielen Fränkisch wäre das eher: Wous, bei derer Käldn? bewundert ihn eine Frau aus dem Fränkischen, des is ja uuunglaubli. / Sie san au ganz rrrod im Gsichd
Auf Schwäbisch eher: Was, bei der Käldä? Des isch jo unglaublich / Sie sin au ganz rod im Gsicht.

Ansonsten fiel es mir etwas schwer, mich da komplett darauf einzulassen, weil ich zunächst dachte, der Junge wäre ein Junge und nicht ein erwachsener Mann, das wird mir erst später klar, also muss ich unter dem Gesichtspunkt den Text nochmal lesen und das fand ich doof.

Ansonsten *hihi* ich denke mir "Gottseidank war ich da nicht dabei" und es regt dazu an, selbst nach zu kramen, wo man denn ähnliche Erlebnisse hatte, denn ich glaube, sowas in der Art hat doch jeder schon mal erlebt, gehörend zu der Kategorie "eigentlich mag ich hotelurlaub, wenn nur die anderen leute nicht da wären".

Also, alles in allem geluungen!

Grüße
Trix

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 28.07.2010, 11:05

Huhu Trix,

ich hab einen Schwäbisch-Übersetzer im Netz gefunden.
http://www.fh-wedel.de/~si/zettelkasten/etc/schwob.html
Demnach ist Fränkisch wirklich falsch, ich meinte eher den Jogi-Löw-Slang. Das ändere ich schonmal.

Der übersetzt die Textstellen so:

Sie sind ja auch ganz rot im Gesicht.
Sie sind joo au ganz rod im Gesichd.

Was, bei dieser Kälte?
Was, bei von dene Kälde, gell?

Das ist ja unglaublich!
Des isch joo unglaublich, hajo, so isch des!

Ist das so üblich bzw. richtig? Kann das jemand bestätigen?

@Trix:

Wieso du da einen jungen Jungen siehst, kann ich leider nicht finden. Ich finde den ersten Absatz recht eindeutig (2 Meter 60 groß, hatten ihn als Knabe ... vergessen). Der Bursche war irgendwie alterslos, so zwischen 35 und 45, würde ich mal sagen.

Liebe Grüße,
Tom.
Menschheit, Du hattest von Anfang an nicht das Zeug dazu... (Charles Bukowski)

Trixie

Beitragvon Trixie » 28.07.2010, 11:36

Hi Tom,
vielleicht wegen der Rotznase und wie er redet. Und komm - 2,60m groß ist ja wohl eine Übertreibung, wie das bei solchen Texten ja üblich ist, also daran kann man jetzt wirklich nich erkennen, dass es sich um einen Erwachsenen handelt ;-). Ich hab halt zuerst mit einem Jungen gerechnet, ist ja auch wuäst.
Liebe Grüße zurück!
Trix.

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 28.07.2010, 17:43

Hallo Tom,

Der übersetzt die Textstellen so:

Sie sind ja auch ganz rot im Gesicht.
Sie sind joo au ganz rod im Gesichd.

Was, bei dieser Kälte?
Was, bei von dene Kälde, gell?

Das ist ja unglaublich!
Des isch joo unglaublich, hajo, so isch des!

Ist das so üblich bzw. richtig? Kann das jemand bestätigen?
*lach* Übersetzungsmaschine halt. Aber es gibt da auch so viele kleine feine Unterschiede, das ist schwierig.

Sie sin/sen ja au gans rod im/em Gsichd.

Was, bei der(e) Kälde? (bei von dene??? was soll das denn sein? Und das "gell" gehört da definitiv nicht hin.)

Des isch ja oglaublich, ha donderewedder, so ebbes. :o) Das wäre doch auch eine nette Alternative. ("Hajo" ist wieder eine andere Ecke.)

Zum Text selbst... fällt mer nix gscheits ei. ;-)

Liebe Grüße
Flora
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

Trixie

Beitragvon Trixie » 28.07.2010, 18:19

hajo sind wir =)


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