Mein Bruder Henrik (zu Lisas Gesicht Nr. 3 im Lyrikwettbewer
Verfasst: 22.06.2010, 14:04
Wir waren uns einig, dass wir davon schweigen würden. Nur sahen wir als Kinder anders aus, du verstecktest dich, lammfromm. Mutter ging darüber hinweg, kaschierte dich mit einem Lachen, weidete sich an meinem blonden Haar. Ich erinnere mich nicht, wann es dunkel wurde.
Wenn das Grau sich ausbreitet und die Sonne im richtigen Winkel scheint, vielleicht zu Mittag durch das Giebelfenster ... vielleicht?
Abends las sie mir Geschichten vor, die von Seefahrern erzählten, ihren Abenteuern auf dem Meer, den Menschen, Entschuldigungen und Inseln. Immer wieder strandete sie bei diesem kindischen Gedanken: "Was nimmst du mit auf deine einsame Insel?" Ihr Blick so erwartungsvoll.
Und ich wählte immer dich: "Henrik!"
Sie fuhr mir über den Kopf, als wärst du nicht da und ich zuckte zurück, weil ich deine Wut kannte. Nur kurz huschte eine Falte über ihre Stirn, dann sah sie mich an, so mild, dass sie fast schielte. Das Meer hat sie nie gesehen.
Schrei nicht so, Henrik.
Wir sind erwachsen und irgendwann muss es gesagt werden. Vielleicht tragen wir deshalb Bärte, damit es nicht jeder versteht.
Warum du mir das Auge geschwärzt hast, hatte ich dich einmal gefragt. Du hast nur die Augenbraue hochgezogen im Spiegel und gelacht. Dieses fiese Vaterlachen, das sie so hasste. Als ob mich ein schwarzes Auge zu seinem Sohn machen würde. Hast du nicht mein Entsetzen gesehen? Ich bin noch immer der Gute.
Immer dünner wurden wir, bleichgesichtig.
"Als würde er noch immer an ihr hängen. Wird Zeit, dass ein richtiger Kerl aus ihm wird.", sagten die Onkel verächtlich.
Sie stillte mich. Für dich hatte sie nichts übrig. Mich stillte sie! Bis zu dem Tag, an dem du sagtest: "Narben sind schön." Und ich ihre kalte Hand küsste.
"Da hatte der Teufel seine Hand im Spiel. Gott hab sie selig.", das murmelten die Tanten.
Danach lief alles aus dem Ruder und wir kamen auf unserer Insel an. Einig, dass wir schweigen würden. Du warst mir längst aus dem Kopf gewachsen.