Mein Bruder Henrik (zu Lisas Gesicht Nr. 3 im Lyrikwettbewer
Wir waren uns einig, dass wir davon schweigen würden. Nur sahen wir als Kinder anders aus, du verstecktest dich, lammfromm. Mutter ging darüber hinweg, kaschierte dich mit einem Lachen, weidete sich an meinem blonden Haar. Ich erinnere mich nicht, wann es dunkel wurde.
Wenn das Grau sich ausbreitet und die Sonne im richtigen Winkel scheint, vielleicht zu Mittag durch das Giebelfenster ... vielleicht?
Abends las sie mir Geschichten vor, die von Seefahrern erzählten, ihren Abenteuern auf dem Meer, den Menschen, Entschuldigungen und Inseln. Immer wieder strandete sie bei diesem kindischen Gedanken: "Was nimmst du mit auf deine einsame Insel?" Ihr Blick so erwartungsvoll.
Und ich wählte immer dich: "Henrik!"
Sie fuhr mir über den Kopf, als wärst du nicht da und ich zuckte zurück, weil ich deine Wut kannte. Nur kurz huschte eine Falte über ihre Stirn, dann sah sie mich an, so mild, dass sie fast schielte. Das Meer hat sie nie gesehen.
Schrei nicht so, Henrik.
Wir sind erwachsen und irgendwann muss es gesagt werden. Vielleicht tragen wir deshalb Bärte, damit es nicht jeder versteht.
Warum du mir das Auge geschwärzt hast, hatte ich dich einmal gefragt. Du hast nur die Augenbraue hochgezogen im Spiegel und gelacht. Dieses fiese Vaterlachen, das sie so hasste. Als ob mich ein schwarzes Auge zu seinem Sohn machen würde. Hast du nicht mein Entsetzen gesehen? Ich bin noch immer der Gute.
Immer dünner wurden wir, bleichgesichtig.
"Als würde er noch immer an ihr hängen. Wird Zeit, dass ein richtiger Kerl aus ihm wird.", sagten die Onkel verächtlich.
Sie stillte mich. Für dich hatte sie nichts übrig. Mich stillte sie! Bis zu dem Tag, an dem du sagtest: "Narben sind schön." Und ich ihre kalte Hand küsste.
"Da hatte der Teufel seine Hand im Spiel. Gott hab sie selig.", das murmelten die Tanten.
Danach lief alles aus dem Ruder und wir kamen auf unserer Insel an. Einig, dass wir schweigen würden. Du warst mir längst aus dem Kopf gewachsen.
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)
Liebe Flora,
der Text hat diesen bestimmten Reiz, den alle deine Texte haben: diese einerseits offene Sprache, die nicht am Gegenständlichem haftet und dadurch Räume öffnet, aber dann doch auch an Konkretes gebunden wird, wodurch das Konkrete wiederum oft süßer oder salziger schmeckt.
ich finde die Idee auch fein, ein wenig klassisch (die Zweiteilung der Seele um zu zeigen) und sie entspricht auch der "Art" des Bildes, auf die sich der Text bezieht (einen Prosabeitrag hab ich übrigens besonders gern gelesen, weil ich dann "länger" was von dem Zusammenspiel habe
).
Und es sind auch wieder viele tolle Bilder und Sätze darin, ganz besonders genial gesetzt finde ich:
dann sah sie mich an, so mild, dass sie fast schielte
Nur der vorletzte Satz mit dem aus dem Ruder laufen und dem folgendem Inselbezug, der kommt mir zu wortspiellastig vor - jedenfalls tönt dieses "aus dem Ruder"-"Insel" so dominant beim Lesen, also ich meine, es wird so deutlich, dass es Worte sind.
Ein schöner, kleiner, interessant gesponnener Text!
liebe Grüße,
Lisa
der Text hat diesen bestimmten Reiz, den alle deine Texte haben: diese einerseits offene Sprache, die nicht am Gegenständlichem haftet und dadurch Räume öffnet, aber dann doch auch an Konkretes gebunden wird, wodurch das Konkrete wiederum oft süßer oder salziger schmeckt.
ich finde die Idee auch fein, ein wenig klassisch (die Zweiteilung der Seele um zu zeigen) und sie entspricht auch der "Art" des Bildes, auf die sich der Text bezieht (einen Prosabeitrag hab ich übrigens besonders gern gelesen, weil ich dann "länger" was von dem Zusammenspiel habe

Und es sind auch wieder viele tolle Bilder und Sätze darin, ganz besonders genial gesetzt finde ich:
dann sah sie mich an, so mild, dass sie fast schielte
Nur der vorletzte Satz mit dem aus dem Ruder laufen und dem folgendem Inselbezug, der kommt mir zu wortspiellastig vor - jedenfalls tönt dieses "aus dem Ruder"-"Insel" so dominant beim Lesen, also ich meine, es wird so deutlich, dass es Worte sind.
Ein schöner, kleiner, interessant gesponnener Text!
liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.
Hallo Lisa,
dank dir! Du hast sicher Recht, sowohl mit der etwas klasischen Zweiteilung, aber vor allem mit dem vorletzten Satz. Mit dem bin ich auch nur sehr kurz aus der Freude am Wortspiel heraus glücklich gewesen. .-) Irgendwie wollte ich die Geschichte dort einfangen. Ich überlege noch, wie ich das anders gestalten könnte.
Mir geht es aber hier so, dass es mir fast zu konkret an deinem Bild haftet, also dass ich mir gewünscht hätte, etwas mehr darüber schweben zu können. Ich glaube, das ist immer schwierig, da den richtigen Grad zu erwischen.
Was ich spannend fand, dass dieses Gesicht für mich wirklich ein Prosagesicht ist. Es will zu Sätzen hin, seine Geschichte erzählen.
Liebe Grüße
Flora
dank dir! Du hast sicher Recht, sowohl mit der etwas klasischen Zweiteilung, aber vor allem mit dem vorletzten Satz. Mit dem bin ich auch nur sehr kurz aus der Freude am Wortspiel heraus glücklich gewesen. .-) Irgendwie wollte ich die Geschichte dort einfangen. Ich überlege noch, wie ich das anders gestalten könnte.
Mir geht es aber hier so, dass es mir fast zu konkret an deinem Bild haftet, also dass ich mir gewünscht hätte, etwas mehr darüber schweben zu können. Ich glaube, das ist immer schwierig, da den richtigen Grad zu erwischen.
Was ich spannend fand, dass dieses Gesicht für mich wirklich ein Prosagesicht ist. Es will zu Sätzen hin, seine Geschichte erzählen.
Liebe Grüße
Flora
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)
Wer ist online?
Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 8 Gäste