Scheinklänge
Verfasst: 18.05.2010, 09:59
Die Spirale drehte sich abwärts. Erst langsam, dann immer schneller. Seine Augen versuchten noch, ihr zu folgen, dann kam das Nichts, wirbelte durch sein Gehirn, fegte durch alle Ecken und riss den letzten klaren Gedanken mit sich fort.
Er erwachte. Jemand schrie. Die Frau neben ihm. Sie schrie in einer Sprache, die er nicht verstand. Im ersten Licht des Tages erkannte er die schäumende Gischt. Der Wind trieb hohe Wellen vor sich her. Das Boot tanzte. Die Frau neben ihm schrie immer noch. Ihre Schreie galten dem Kind auf ihrem Schoß. Sie hielt es fest umklammert. Das Kind wand sich in müßigem Freiheitsbestreben. Er setzte sich aufrecht. Seine Linke fasste nach dem Kopf des Kindes und streichelte sein seltsam weiches Haar. Er begann zu summen, erst verhalten, dann laut, gegen den Klang des Windes. Ein Wiegenlied im Wettstreit mit dem Lied der Wogen. Seine Lippen begannen Worte zu formen, ließen ihn frei, jenen Beschwörungszauber in Mbundu, den seine Großmutter gesungen hatte, als er klein war und Krieg war und das Kampfgeschrei der eigenen Soldaten sich mischte mit den Salven fremder Armeen. Großmutter sang sie nieder, Abend für Abend, Monat für Monat, Jahr um Jahr. Das seltsame Orchesterspiel wurde ihm zur Gewohnheit, verlor seinen Schrecken und irgendwann kam der Frieden, die fremden Truppen zogen ab und die Großmutter starb. Sie begruben sie im Schatten der katholischen Mission.
Die Missionsschwestern weckten in ihm die Liebe zu einer anderen, fremden Musik. Sie klang so verschieden von den Liedern seines Volkes, und sie klang auch nicht wie die schwermütigen Gesänge des portugiesischen Kolonialerbes. Fremder auch als die Rhythmen der Kubaner, die seinem Land im Krieg zu Hilfe geeilt waren. Seine Musik erklang aus Maschinen, die Menschen mit ihren Instrumenten sah man nicht. Er lernte die Instrumente zu unterscheiden: Orgel, Geige, Cello. Fagott.
Das Boot schlingerte im Takt der Wellen. Kraftvoll trieb der Wind sie auf, in einem furiosen Crescendo, Fortissimo, Ritardando, Decrescendo, da Capo. Die Frau neben ihm rückte näher. Dabei hatte er selbst kaum Platz. Dicht gedrängt saßen sie auf den schmalen Bänken des kleinen Fischkutters oder hockten auf den Planken am Boden. Dazwischen einige Bündel, Habseligkeiten für den Start in eine bessere Zukunft. Wie viele mochten sie sein? Er begann zu zählen. Dreißig. Er legte seine Hand neben das Kind in den Schoß der Frau. Das Kind saß jetzt ganz ruhig, die Frau schloss die Augen. Er war wieder für sich.
Auch sein Vater war längst gegangen. In ein gelobtes Land, so sagten seine Vettern. Da, wo alle Menschen weiß sind, und alle Anzüge tragen wie die Lehrer oder andere besondere Herren, Beamte vielleicht, wie bei der Regierung in Luanda. Auch sein Vater hatte dazugehört. Damals. Das Land, das seinem Vater nun Arbeit gab, hieß Deutschland. Deutschland hatte Arbeit für seine Brüder in der Fremde, so sagten sie, für die Strebsamen aus den sozialistischen Bruderstaaten. So stand es in den Briefen, die ihm sein Vater schrieb, aus Magdeburg. Magdeburg, gesprochen mit Lippen wie zu einem Kuss geformt.
Was blieb, waren Seuchen und Hunger. Dabei war die Scholle fruchtbar und der Boden des Landes barg kostbare Schätze. Und doch erhob sich Bruder gegen Bruder. Und wieder wurde der Rhythmus des Krieges sein ständiger Begleiter. Das Fauchen von Macheten, Äxten und Keulen, wenn sie auf Körper niedergingen, Schädel bersten ließen oder - weniger huldvoll - Gliedmaßen zertrennten. Der Geruch faulender Kadaver mischte sich unter die Schreie der Opfer, schrill, wenn ihnen die Zeit blieb, dann leiser, zuletzt ein Wimmern, dann Stille. Er sang das Lied der Großmutter. Vergebens.
Sie kamen um die Mittagszeit. Begannen ihren Totentanz, verteilten Gewehre, Äxte, Messer. Zwangen Kinder, ihre Eltern zu erschießen, sie zu zerlegen und in Kesseln mit kochendem Wasser zu garen. Er war weit draußen bei der Herde, da wo sie wussten, dass keine Gefahr im Boden lauerte, jene unscheinbaren Scheiben, die in ihrer verheerenden Kraft keinen Unterschied darin machten, wer sie berührte. Und doch waren es meist die Kinder.
Als er am Abend in sein Dorf zurückkehrte, war die Musik des Todes längst in tiefem Schweigen verklungen. Der Geruch seiner Angst verband sich mit dem Rauch schwelenden Fleisches. Und doch war es nicht die Widerwärtigkeit des Mordens an sich, die ihn zutiefst erschreckte, sondern die Lust, die Menschen, welche auf diese Weise töteten, dabei empfinden mussten. Noch in der Nacht machte er sich auf den Weg nach Norden.
Das Tosen des Windes holte ihn zurück. Wellenkronen brachen über der Bordwand, die Nässe hatte die am Boden Sitzenden aufgebracht, einige begannen zu schöpfen. Doch je mehr sie schöpften, desto heftiger schüttete das Meer seine Wasser zurück.
Im Norden war es ruhiger. Er hatte sich bis nach Gabun durchgeschlagen. Wieder fand er Zuflucht bei einer christlichen Mission. Er pflegte den Garten, half in der Küche und zum Dank durfte er auch hier die Maschinen nutzen. Viele Stunden saß er so, lauschte dem Klang der weltlichen Orchester, denen es nur beinahe gelang, das Surren des Generators zu übertönen. Darüber wurde er zum Mann.
Dann kam das, was sie „Zustand“ nannten. Es begann ganz harmlos mit einem Zittern, dann kam die Kälte und mit ihr die Rastlosigkeit. Seine Beine mussten laufen. Erst wollte er sich dagegen wehren. Dann ließ er es einfach geschehen. Und so irrte er umher, mischte sich unter die Krüppel, die Armen, die Ausgestoßenen. Wanderte weiter, Elend um Elend begegnete ihm und immer trieb es ihn in Richtung Norden. Er ließ sich leiten bis ihn sein Pfad schließlich zu der Gruppe von Flüchtlingen führte.
Es hatte zu regnen begonnen. An Horizont entdeckte er die Silhouette eines Gebirges. Oder waren es doch bloß Wolken, welche der Sturm zusammengeballt hatte und damit hochstapelte gleich jener verwerflichen Baumeister zu Babel? Ein Ruck ging durch das Boot, dann neigte es sich. In Panik klammerten sich die Menschen an alles, was sie zu fassen bekamen, manche schrieen wortlos, andere redeten durcheinander. Die Frau hatte das Kind auf den Rücken gebunden. Sie saß jetzt ganz ruhig, fest an die Bank geklammert, das Gesicht zum Horizont gewandt. Ihr Blick durchschnitt die Regenwand. Und wieder war sie da, die Spirale, und wieder hielt sein Blick nicht stand. Dann kippte das Boot.
Die sinkende Sonne teilte die Wolkenwand. Der Regen brach ihr Licht zu einem Bogen.
Er erwachte. Jemand schrie. Die Frau neben ihm. Im letzten Licht des Tages erkannte er, dass sie ihr Kind nicht mehr bei sich hatte.
Er erwachte. Jemand schrie. Die Frau neben ihm. Sie schrie in einer Sprache, die er nicht verstand. Im ersten Licht des Tages erkannte er die schäumende Gischt. Der Wind trieb hohe Wellen vor sich her. Das Boot tanzte. Die Frau neben ihm schrie immer noch. Ihre Schreie galten dem Kind auf ihrem Schoß. Sie hielt es fest umklammert. Das Kind wand sich in müßigem Freiheitsbestreben. Er setzte sich aufrecht. Seine Linke fasste nach dem Kopf des Kindes und streichelte sein seltsam weiches Haar. Er begann zu summen, erst verhalten, dann laut, gegen den Klang des Windes. Ein Wiegenlied im Wettstreit mit dem Lied der Wogen. Seine Lippen begannen Worte zu formen, ließen ihn frei, jenen Beschwörungszauber in Mbundu, den seine Großmutter gesungen hatte, als er klein war und Krieg war und das Kampfgeschrei der eigenen Soldaten sich mischte mit den Salven fremder Armeen. Großmutter sang sie nieder, Abend für Abend, Monat für Monat, Jahr um Jahr. Das seltsame Orchesterspiel wurde ihm zur Gewohnheit, verlor seinen Schrecken und irgendwann kam der Frieden, die fremden Truppen zogen ab und die Großmutter starb. Sie begruben sie im Schatten der katholischen Mission.
Die Missionsschwestern weckten in ihm die Liebe zu einer anderen, fremden Musik. Sie klang so verschieden von den Liedern seines Volkes, und sie klang auch nicht wie die schwermütigen Gesänge des portugiesischen Kolonialerbes. Fremder auch als die Rhythmen der Kubaner, die seinem Land im Krieg zu Hilfe geeilt waren. Seine Musik erklang aus Maschinen, die Menschen mit ihren Instrumenten sah man nicht. Er lernte die Instrumente zu unterscheiden: Orgel, Geige, Cello. Fagott.
Das Boot schlingerte im Takt der Wellen. Kraftvoll trieb der Wind sie auf, in einem furiosen Crescendo, Fortissimo, Ritardando, Decrescendo, da Capo. Die Frau neben ihm rückte näher. Dabei hatte er selbst kaum Platz. Dicht gedrängt saßen sie auf den schmalen Bänken des kleinen Fischkutters oder hockten auf den Planken am Boden. Dazwischen einige Bündel, Habseligkeiten für den Start in eine bessere Zukunft. Wie viele mochten sie sein? Er begann zu zählen. Dreißig. Er legte seine Hand neben das Kind in den Schoß der Frau. Das Kind saß jetzt ganz ruhig, die Frau schloss die Augen. Er war wieder für sich.
Auch sein Vater war längst gegangen. In ein gelobtes Land, so sagten seine Vettern. Da, wo alle Menschen weiß sind, und alle Anzüge tragen wie die Lehrer oder andere besondere Herren, Beamte vielleicht, wie bei der Regierung in Luanda. Auch sein Vater hatte dazugehört. Damals. Das Land, das seinem Vater nun Arbeit gab, hieß Deutschland. Deutschland hatte Arbeit für seine Brüder in der Fremde, so sagten sie, für die Strebsamen aus den sozialistischen Bruderstaaten. So stand es in den Briefen, die ihm sein Vater schrieb, aus Magdeburg. Magdeburg, gesprochen mit Lippen wie zu einem Kuss geformt.
Was blieb, waren Seuchen und Hunger. Dabei war die Scholle fruchtbar und der Boden des Landes barg kostbare Schätze. Und doch erhob sich Bruder gegen Bruder. Und wieder wurde der Rhythmus des Krieges sein ständiger Begleiter. Das Fauchen von Macheten, Äxten und Keulen, wenn sie auf Körper niedergingen, Schädel bersten ließen oder - weniger huldvoll - Gliedmaßen zertrennten. Der Geruch faulender Kadaver mischte sich unter die Schreie der Opfer, schrill, wenn ihnen die Zeit blieb, dann leiser, zuletzt ein Wimmern, dann Stille. Er sang das Lied der Großmutter. Vergebens.
Sie kamen um die Mittagszeit. Begannen ihren Totentanz, verteilten Gewehre, Äxte, Messer. Zwangen Kinder, ihre Eltern zu erschießen, sie zu zerlegen und in Kesseln mit kochendem Wasser zu garen. Er war weit draußen bei der Herde, da wo sie wussten, dass keine Gefahr im Boden lauerte, jene unscheinbaren Scheiben, die in ihrer verheerenden Kraft keinen Unterschied darin machten, wer sie berührte. Und doch waren es meist die Kinder.
Als er am Abend in sein Dorf zurückkehrte, war die Musik des Todes längst in tiefem Schweigen verklungen. Der Geruch seiner Angst verband sich mit dem Rauch schwelenden Fleisches. Und doch war es nicht die Widerwärtigkeit des Mordens an sich, die ihn zutiefst erschreckte, sondern die Lust, die Menschen, welche auf diese Weise töteten, dabei empfinden mussten. Noch in der Nacht machte er sich auf den Weg nach Norden.
Das Tosen des Windes holte ihn zurück. Wellenkronen brachen über der Bordwand, die Nässe hatte die am Boden Sitzenden aufgebracht, einige begannen zu schöpfen. Doch je mehr sie schöpften, desto heftiger schüttete das Meer seine Wasser zurück.
Im Norden war es ruhiger. Er hatte sich bis nach Gabun durchgeschlagen. Wieder fand er Zuflucht bei einer christlichen Mission. Er pflegte den Garten, half in der Küche und zum Dank durfte er auch hier die Maschinen nutzen. Viele Stunden saß er so, lauschte dem Klang der weltlichen Orchester, denen es nur beinahe gelang, das Surren des Generators zu übertönen. Darüber wurde er zum Mann.
Dann kam das, was sie „Zustand“ nannten. Es begann ganz harmlos mit einem Zittern, dann kam die Kälte und mit ihr die Rastlosigkeit. Seine Beine mussten laufen. Erst wollte er sich dagegen wehren. Dann ließ er es einfach geschehen. Und so irrte er umher, mischte sich unter die Krüppel, die Armen, die Ausgestoßenen. Wanderte weiter, Elend um Elend begegnete ihm und immer trieb es ihn in Richtung Norden. Er ließ sich leiten bis ihn sein Pfad schließlich zu der Gruppe von Flüchtlingen führte.
Es hatte zu regnen begonnen. An Horizont entdeckte er die Silhouette eines Gebirges. Oder waren es doch bloß Wolken, welche der Sturm zusammengeballt hatte und damit hochstapelte gleich jener verwerflichen Baumeister zu Babel? Ein Ruck ging durch das Boot, dann neigte es sich. In Panik klammerten sich die Menschen an alles, was sie zu fassen bekamen, manche schrieen wortlos, andere redeten durcheinander. Die Frau hatte das Kind auf den Rücken gebunden. Sie saß jetzt ganz ruhig, fest an die Bank geklammert, das Gesicht zum Horizont gewandt. Ihr Blick durchschnitt die Regenwand. Und wieder war sie da, die Spirale, und wieder hielt sein Blick nicht stand. Dann kippte das Boot.
Die sinkende Sonne teilte die Wolkenwand. Der Regen brach ihr Licht zu einem Bogen.
Er erwachte. Jemand schrie. Die Frau neben ihm. Im letzten Licht des Tages erkannte er, dass sie ihr Kind nicht mehr bei sich hatte.