Herkünfte
Verfasst: 05.05.2010, 20:50
Herkünfte
(Erweiterte Zweitfassung)
Woher einer kommt, musst du wissen, sagte meine Großmutter. Sonst weißt du nicht, wer er ist. Eine Herkunft hat jeder. Und das ist auch gut so. Keiner ist ein unbeschriebenes Blatt. Und es sind die Vorfahren, die es beschreiben. Mit ihren Genen. Dies Wort benutzte meine Großmutter nicht. Ich habe es ihr in den Mund gelegt, weil sie es benutzt hätte, wenn sie es gekannt hätte. Ist ja auch egal. Sie war jedenfalls eine tolle Frau. Drei Töchter und zwei Söhne, beide im Krieg geblieben, Kurt vor Tobruk, Fritz bei Narvik. Ihr Mann erst nach zehn Jahren Gefangenschaft aus Russland zurück. Und immer der Meierhof, immerhin an die 240 Hektar, 90 Stück Milchvieh, 20 Schweine. Das alles mit den drei Töchtern, von denen nur eine verheiratet war, meine Mutter. Aber auch ihr Mann war im Krieg und kam nur selten auf Urlaub. Er roch nach Leder und Zigaretten und ließ Holger mit seiner Pistole spielen. Aber dann war er ebenso plötzlich wieder weg, wie er gekommen war. Da war manchmal Not am Mann. Ich war ja noch klein damals, aber Schweineeimer durfte ich schon schleppen. Mein Vater wurde verwundet, kam heim und konnte wieder mit anpacken. Aber nur mit einer Hand. Die andere lag bei Montecassino. Sogar Arbeitspferde hatten wir noch, die Lotte und den Jupp, einen riesigen Wallach. Naja, Treibstoff war teuer und kaum zu haben, da blieb das Dieselross in der Scheune. Die Erde aber wollte gepflügt sein. Dann stieg eben die Großmutter auf den Pflug. Omi durfte ich sie nicht nennen, das fand sie platt. „Ich bin nicht deine Omi!“ Sie war sehr eigen in vieler Hinsicht.
Vier Geschwister hab ich, Holger, zwei Jahre älter, Ute, ein Jahr neun Monate, und Kurt jun., vier Jahre jünger als ich. Dann ist da noch Silke, nur ein halbes Jahr älter als ich. Zu früh gekommen. So hat man es mir erzählt, als ich anfing, Fragen zu stellen. Die armen Frauen damals, und mitten im Krieg. Eine Schwangerschaft jagte die andere, und das unter diesen Umständen! Rundherum Weltkrieg und grässlichstes Unrecht – und sie zeugten fröhlich weiter! Gut, vielleicht hätten sie’s lassen sollen. Man weiß nie, was wird. Ich war auch nicht immer nur ein glücklicher Mensch. Wie gern hätte ich studiert! So musste ich mir alles auf eigene Faust anlesen. Aber das hat auch seine Vorzüge. Ich liebte die amerikanischen Autoren. Meine Mutter und die Tanten lasen sie, und da las ich sie auch. „Der alte Mann und das Meer.“ Was für ein Buch! Immer, wenn ich den Pflug durch den Schwarzgrund zog, wo die Mooreichen liegen, die sich in der Pflugschar verfingen, war mir, als zöge ich ein Gerippe hinter mir her. So einen Hof durch all die Schwierigkeiten führen – kein Pappenstiel, ich sag es. Aber ich will nicht jammern, sonst heißt es noch: Ihr Bauern jammert doch immer! Stimmt natürlich. Das ist wie beim Doppelkopf. Da stöhnt beim Geben auch jeder über sein mieses Blatt, damit nur keiner ahnt, dass er eine Hochzeit auf der Hand hat. Wir wären ja blöd, wenn wir sagten: Uns geht’s gut! Man würd’ uns sofort die Subventionen streichen! Und ohne die läuft doch gar nichts.
Irgendwann konnte Großmutter dann nicht mehr. Ob es Überarbeitung war oder Veranlagung, wer weiß es. Magenkrebs. Sie legte sich hin und stand nicht wieder auf. Strahlentherapie und Chemo – naja, das waren die 50er, da war die Medizin noch nicht so weit wie heute. Und das Schlimmste: Es durfte nicht drüber gesprochen werden. Großvater war grad aus Workuta zurück und setzte wieder ein bisschen Fett an. Ich weiß nicht, ob Großmutter sich gefreut hat über das Klappergestell. Sie sagt, sie hätte ihn nicht erkannt, wenn er nichts gesagt hätte. An der Stimme hat sie ihn erkannt. Die war nicht abgemagert. Das war seine Stimme. Und dann das – sie legt sich hin und steht nicht wieder auf. Und wer zu ihr reinging: Mundwinkel hoch! Kein Wort über die Krankheit! Zuversicht vorspielen! Ich glaube, sie wusste längst bescheid. Sie war ja nicht blöd und hatte schon andere an Krebs sterben sehen. Aber sie dachte, nur sie allein wüsste es. Deshalb hat sie uns auch die Hoffnungsvolle vorgespielt. Das war ein falsches Gegrinse auf beiden Seiten. Würdelos! Aber so machte man das damals. Der Wahrheit ins Auge zu sehen, das war nicht die Art der 50er. Gerochen hat es schlimm in dem Zimmer. Die Arme! Sie ahnte, dass wir uns vor ihr ekelten und bestand so lange auf Lüften, bis sie sich eine Lungenentzündung zuzog. Dass eine so reinliche Frau bei lebendigem Leib verfaulen muss! Ihre Milchküche hatte immer geblitzt und geblinkt. Ich hab sie geliebt, diese Frau. Und bewundert. Und dann wurde sie in die Erde gelegt. Unter dem üblichen Pomp der Schwarzröcke. Dabei war sie gottgläubig gewesen und hatte oft gesagt: „Man wird mir das Kreuz nachwerfen, mir ist es gleich. Geglaubt hab ich nicht daran.“
Der Großvater erzählte, dass die Krähen ihn vor dem Hungertod bewahrt hätten in Sibirien. Er sei auf ihre Nistbäume gestiegen, hätte ihnen die Eier unterm Bauch weggeklaut und ausgetrunken. Wenig später starb auch er. Und dann kam der Tag, an dem meine Eltern mir eröffneten, dass ich der Hoferbe sei. Der Hof gehe an mich, weil ich der älteste Sohn sei, denn Kurt und Fritz seien gefallen, der eine vor Tobruk, der andere bei Narvik.
Ich muss ziemlich blöd geguckt haben, als ich das hörte. Ich habe nur meinen Vater angeschaut, aber der hat ernst und ein wenig betreten genickt. „Ich war auf Urlaub. Mutter war im sechsten Monat mit Silke. Und da ist Großmutter nachts den einsamen Soldaten trösten gekommen.“ Meine Mutter hat unter Tränen gelächelt und hat mich in den Arm genommen. Für mich blieb sie meine Mutter, auch wenn sie eigentlich meine Halbschwester ist. Und gut, dass ich sie hatte; denn mit dem Heiraten, das hat sich nie ergeben.
(Erstfassung)
Woher einer kommt, musst du wissen, sagte meine Großmutter. Sonst weißt du nicht, wer er ist. Eine Herkunft hat jeder. Und das ist auch gut so. Keiner ist ein unbeschriebenes Blatt. Und es sind die Vorfahren, die es beschreiben. Mit ihren Genen. Dies Wort benutzte meine Großmutter nicht. Ich habe es ihr in den Mund gelegt, weil sie es benutzt hätte, wenn sie es gekannt hätte. Ist ja auch egal. Sie war jedenfalls eine tolle Frau. Drei Töchter und zwei Söhne, beide im Krieg geblieben, Kurt vor Tobruk, Fritz bei Narvik. Ihr Mann erst nach fast zehn Jahren Gefangenschaft aus Russland zurück. Und immer der Reichserbhof, immerhin an die 240 Hektar, 90 Stück Milchvieh, 20 Schweine. Das alles mit den drei Töchtern. Da war manchmal Not am Mann. Ich war ja noch klein damals, aber Schweineeimer durfte ich schon schleppen. Sogar Arbeitspferde gab es noch, die Lotte und den Jupp. Naja, Treibstoff war teuer und kaum zu haben, da blieb das Dieselross in der Scheune. Die Erde aber wollte gepflügt sein. Dann stieg eben die Großmutter auf den Pflug. Omi durfte ich sie nicht nennen, das fand sie platt. „Ich bin nicht deine Omi!“ Sie war sehr eigen in vieler Hinsicht.
Vier Geschwister hab ich, Holger, zwei Jahre älter, Ute, ein Jahr neun Monate, und Kurt jun., vier Jahre jünger als ich. Dann ist da noch Silke, nur ein halbes Jahr älter als ich. Zu früh gekommen. So hat man es mir erzählt, als ich anfing, Fragen zu stellen. Die armen Frauen damals, und mitten im Krieg. Eine Schwangerschaft jagte die andere, und das unter diesen Umständen! Rundherum Weltkrieg und grässlichstes Unrecht – und sie zeugten fröhlich weiter! Gut, vielleicht hätten sie’s lassen sollen. Man weiß nie, was wird. Ich war auch nicht immer nur ein glücklicher Mensch. So einen Hof durch all die Schwierigkeiten führen – kein Pappenstiel, ich sag es. Aber ich will nicht jammern, sonst heißt es noch: Ihr Bauern jammert doch immer! Stimmt natürlich. Das ist wie beim Doppelkopf. Da stöhnt beim Geben auch jeder über sein mieses Blatt, damit nur keiner ahnt, dass er 'ne Hochzeit auf der Hand hat. Wir wären ja blöd, wenn wir sagten: Uns geht’s gut! Man würd’ uns sofort die Subventionen streichen!
Irgendwann konnte sie dann nicht mehr. Ob es Überarbeitung war oder Veranlagung, wer weiß es. Magenkrebs. Sie legte sich hin und stand nicht wieder auf. Strahlentherapie und Chemo – naja, das waren die 50er, da war die Medizin noch nicht so weit wie heute. Und das Schlimmste: Es durfte nicht drüber gesprochen werden. Großvater war grad aus Workuta zurück und setzte wieder ein bisschen Fett an. Ich weiß nicht, ob Großmutter sich gefreut hat über das Klappergestell. Sie sagt, sie hätte ihn nicht erkannt, wenn er nichts gesagt hätte. An der Stimme hat sie ihn erkannt. Die war nicht abgemagert. Das war seine Stimme. Und dann das – sie legt sich hin und steht nicht wieder auf. Und wer zu ihr reinging: Mundwinkel hoch! Kein Wort über die Krankheit! Zuversicht vorspielen! Ich glaube, sie wusste längst bescheid. Sie war ja nicht blöd und hatte schon andere an Krebs sterben sehen. Aber sie dachte, nur sie allein wüsste es. Deshalb hat sie uns auch die Hoffnungsvolle vorgespielt. Das war ein falsches Gegrinse auf beiden Seiten. Würdelos! Aber so machte man das damals. Der Wahrheit ins Auge zu sehen, das war nicht die Art der 50er. Gerochen hat es schlimm in dem Zimmer. Die Arme! Sie ahnte, dass wir uns vor ihr ekelten und bestand so lange auf Lüften, bis sie sich eine Lungenentzündung zuzog. Dass eine so reinliche Frau bei lebendigem Leib verfaulen muss! Ihre Milchküche hatte immer geblitzt und geblinkt. Ich hab sie geliebt, diese Frau. Und bewundert. Und dann wurde sie in die Erde gelegt. Ohne großes Gedöns. Ein gottgläubiger Redner hielt eine Rede. Ich fand das gut. Warum einer Toten, die nicht dran geglaubt hat, das Kreuz nachwerfen?
Der Großvater erzählte, dass die Krähen ihn vor dem Hungertod bewahrt hätten in Sibirien. Er sei auf ihre Nistbäume gestiegen, hätte ihnen die Eier unterm Bauch weggeklaut und ausgetrunken. Wenig später starb auch er. Und dann kam der Tag, an dem meine Eltern mir eröffneten, dass ich der Hoferbe sei. Der Hof gehe an mich, weil ich der älteste Sohn sei, denn Kurt und Fritz seien gefallen, der eine vor Tobruk, der andere bei Narvik.
Ich muss ziemlich blöd geguckt haben, als ich das hörte. Ich habe nur meinen Vater angeschaut, aber der hat ernst und ein wenig betreten genickt. Und meine Mutter hat unter Tränen gelächelt und mich in den Arm genommen. Für mich blieb sie meine Mutter, auch wenn sie eigentlich meine Halbschwester ist. Und gut, dass ich sie hatte; denn mit dem Heiraten, das hat sich nie ergeben.
(Erweiterte Zweitfassung)
Woher einer kommt, musst du wissen, sagte meine Großmutter. Sonst weißt du nicht, wer er ist. Eine Herkunft hat jeder. Und das ist auch gut so. Keiner ist ein unbeschriebenes Blatt. Und es sind die Vorfahren, die es beschreiben. Mit ihren Genen. Dies Wort benutzte meine Großmutter nicht. Ich habe es ihr in den Mund gelegt, weil sie es benutzt hätte, wenn sie es gekannt hätte. Ist ja auch egal. Sie war jedenfalls eine tolle Frau. Drei Töchter und zwei Söhne, beide im Krieg geblieben, Kurt vor Tobruk, Fritz bei Narvik. Ihr Mann erst nach zehn Jahren Gefangenschaft aus Russland zurück. Und immer der Meierhof, immerhin an die 240 Hektar, 90 Stück Milchvieh, 20 Schweine. Das alles mit den drei Töchtern, von denen nur eine verheiratet war, meine Mutter. Aber auch ihr Mann war im Krieg und kam nur selten auf Urlaub. Er roch nach Leder und Zigaretten und ließ Holger mit seiner Pistole spielen. Aber dann war er ebenso plötzlich wieder weg, wie er gekommen war. Da war manchmal Not am Mann. Ich war ja noch klein damals, aber Schweineeimer durfte ich schon schleppen. Mein Vater wurde verwundet, kam heim und konnte wieder mit anpacken. Aber nur mit einer Hand. Die andere lag bei Montecassino. Sogar Arbeitspferde hatten wir noch, die Lotte und den Jupp, einen riesigen Wallach. Naja, Treibstoff war teuer und kaum zu haben, da blieb das Dieselross in der Scheune. Die Erde aber wollte gepflügt sein. Dann stieg eben die Großmutter auf den Pflug. Omi durfte ich sie nicht nennen, das fand sie platt. „Ich bin nicht deine Omi!“ Sie war sehr eigen in vieler Hinsicht.
Vier Geschwister hab ich, Holger, zwei Jahre älter, Ute, ein Jahr neun Monate, und Kurt jun., vier Jahre jünger als ich. Dann ist da noch Silke, nur ein halbes Jahr älter als ich. Zu früh gekommen. So hat man es mir erzählt, als ich anfing, Fragen zu stellen. Die armen Frauen damals, und mitten im Krieg. Eine Schwangerschaft jagte die andere, und das unter diesen Umständen! Rundherum Weltkrieg und grässlichstes Unrecht – und sie zeugten fröhlich weiter! Gut, vielleicht hätten sie’s lassen sollen. Man weiß nie, was wird. Ich war auch nicht immer nur ein glücklicher Mensch. Wie gern hätte ich studiert! So musste ich mir alles auf eigene Faust anlesen. Aber das hat auch seine Vorzüge. Ich liebte die amerikanischen Autoren. Meine Mutter und die Tanten lasen sie, und da las ich sie auch. „Der alte Mann und das Meer.“ Was für ein Buch! Immer, wenn ich den Pflug durch den Schwarzgrund zog, wo die Mooreichen liegen, die sich in der Pflugschar verfingen, war mir, als zöge ich ein Gerippe hinter mir her. So einen Hof durch all die Schwierigkeiten führen – kein Pappenstiel, ich sag es. Aber ich will nicht jammern, sonst heißt es noch: Ihr Bauern jammert doch immer! Stimmt natürlich. Das ist wie beim Doppelkopf. Da stöhnt beim Geben auch jeder über sein mieses Blatt, damit nur keiner ahnt, dass er eine Hochzeit auf der Hand hat. Wir wären ja blöd, wenn wir sagten: Uns geht’s gut! Man würd’ uns sofort die Subventionen streichen! Und ohne die läuft doch gar nichts.
Irgendwann konnte Großmutter dann nicht mehr. Ob es Überarbeitung war oder Veranlagung, wer weiß es. Magenkrebs. Sie legte sich hin und stand nicht wieder auf. Strahlentherapie und Chemo – naja, das waren die 50er, da war die Medizin noch nicht so weit wie heute. Und das Schlimmste: Es durfte nicht drüber gesprochen werden. Großvater war grad aus Workuta zurück und setzte wieder ein bisschen Fett an. Ich weiß nicht, ob Großmutter sich gefreut hat über das Klappergestell. Sie sagt, sie hätte ihn nicht erkannt, wenn er nichts gesagt hätte. An der Stimme hat sie ihn erkannt. Die war nicht abgemagert. Das war seine Stimme. Und dann das – sie legt sich hin und steht nicht wieder auf. Und wer zu ihr reinging: Mundwinkel hoch! Kein Wort über die Krankheit! Zuversicht vorspielen! Ich glaube, sie wusste längst bescheid. Sie war ja nicht blöd und hatte schon andere an Krebs sterben sehen. Aber sie dachte, nur sie allein wüsste es. Deshalb hat sie uns auch die Hoffnungsvolle vorgespielt. Das war ein falsches Gegrinse auf beiden Seiten. Würdelos! Aber so machte man das damals. Der Wahrheit ins Auge zu sehen, das war nicht die Art der 50er. Gerochen hat es schlimm in dem Zimmer. Die Arme! Sie ahnte, dass wir uns vor ihr ekelten und bestand so lange auf Lüften, bis sie sich eine Lungenentzündung zuzog. Dass eine so reinliche Frau bei lebendigem Leib verfaulen muss! Ihre Milchküche hatte immer geblitzt und geblinkt. Ich hab sie geliebt, diese Frau. Und bewundert. Und dann wurde sie in die Erde gelegt. Unter dem üblichen Pomp der Schwarzröcke. Dabei war sie gottgläubig gewesen und hatte oft gesagt: „Man wird mir das Kreuz nachwerfen, mir ist es gleich. Geglaubt hab ich nicht daran.“
Der Großvater erzählte, dass die Krähen ihn vor dem Hungertod bewahrt hätten in Sibirien. Er sei auf ihre Nistbäume gestiegen, hätte ihnen die Eier unterm Bauch weggeklaut und ausgetrunken. Wenig später starb auch er. Und dann kam der Tag, an dem meine Eltern mir eröffneten, dass ich der Hoferbe sei. Der Hof gehe an mich, weil ich der älteste Sohn sei, denn Kurt und Fritz seien gefallen, der eine vor Tobruk, der andere bei Narvik.
Ich muss ziemlich blöd geguckt haben, als ich das hörte. Ich habe nur meinen Vater angeschaut, aber der hat ernst und ein wenig betreten genickt. „Ich war auf Urlaub. Mutter war im sechsten Monat mit Silke. Und da ist Großmutter nachts den einsamen Soldaten trösten gekommen.“ Meine Mutter hat unter Tränen gelächelt und hat mich in den Arm genommen. Für mich blieb sie meine Mutter, auch wenn sie eigentlich meine Halbschwester ist. Und gut, dass ich sie hatte; denn mit dem Heiraten, das hat sich nie ergeben.
(Erstfassung)
Woher einer kommt, musst du wissen, sagte meine Großmutter. Sonst weißt du nicht, wer er ist. Eine Herkunft hat jeder. Und das ist auch gut so. Keiner ist ein unbeschriebenes Blatt. Und es sind die Vorfahren, die es beschreiben. Mit ihren Genen. Dies Wort benutzte meine Großmutter nicht. Ich habe es ihr in den Mund gelegt, weil sie es benutzt hätte, wenn sie es gekannt hätte. Ist ja auch egal. Sie war jedenfalls eine tolle Frau. Drei Töchter und zwei Söhne, beide im Krieg geblieben, Kurt vor Tobruk, Fritz bei Narvik. Ihr Mann erst nach fast zehn Jahren Gefangenschaft aus Russland zurück. Und immer der Reichserbhof, immerhin an die 240 Hektar, 90 Stück Milchvieh, 20 Schweine. Das alles mit den drei Töchtern. Da war manchmal Not am Mann. Ich war ja noch klein damals, aber Schweineeimer durfte ich schon schleppen. Sogar Arbeitspferde gab es noch, die Lotte und den Jupp. Naja, Treibstoff war teuer und kaum zu haben, da blieb das Dieselross in der Scheune. Die Erde aber wollte gepflügt sein. Dann stieg eben die Großmutter auf den Pflug. Omi durfte ich sie nicht nennen, das fand sie platt. „Ich bin nicht deine Omi!“ Sie war sehr eigen in vieler Hinsicht.
Vier Geschwister hab ich, Holger, zwei Jahre älter, Ute, ein Jahr neun Monate, und Kurt jun., vier Jahre jünger als ich. Dann ist da noch Silke, nur ein halbes Jahr älter als ich. Zu früh gekommen. So hat man es mir erzählt, als ich anfing, Fragen zu stellen. Die armen Frauen damals, und mitten im Krieg. Eine Schwangerschaft jagte die andere, und das unter diesen Umständen! Rundherum Weltkrieg und grässlichstes Unrecht – und sie zeugten fröhlich weiter! Gut, vielleicht hätten sie’s lassen sollen. Man weiß nie, was wird. Ich war auch nicht immer nur ein glücklicher Mensch. So einen Hof durch all die Schwierigkeiten führen – kein Pappenstiel, ich sag es. Aber ich will nicht jammern, sonst heißt es noch: Ihr Bauern jammert doch immer! Stimmt natürlich. Das ist wie beim Doppelkopf. Da stöhnt beim Geben auch jeder über sein mieses Blatt, damit nur keiner ahnt, dass er 'ne Hochzeit auf der Hand hat. Wir wären ja blöd, wenn wir sagten: Uns geht’s gut! Man würd’ uns sofort die Subventionen streichen!
Irgendwann konnte sie dann nicht mehr. Ob es Überarbeitung war oder Veranlagung, wer weiß es. Magenkrebs. Sie legte sich hin und stand nicht wieder auf. Strahlentherapie und Chemo – naja, das waren die 50er, da war die Medizin noch nicht so weit wie heute. Und das Schlimmste: Es durfte nicht drüber gesprochen werden. Großvater war grad aus Workuta zurück und setzte wieder ein bisschen Fett an. Ich weiß nicht, ob Großmutter sich gefreut hat über das Klappergestell. Sie sagt, sie hätte ihn nicht erkannt, wenn er nichts gesagt hätte. An der Stimme hat sie ihn erkannt. Die war nicht abgemagert. Das war seine Stimme. Und dann das – sie legt sich hin und steht nicht wieder auf. Und wer zu ihr reinging: Mundwinkel hoch! Kein Wort über die Krankheit! Zuversicht vorspielen! Ich glaube, sie wusste längst bescheid. Sie war ja nicht blöd und hatte schon andere an Krebs sterben sehen. Aber sie dachte, nur sie allein wüsste es. Deshalb hat sie uns auch die Hoffnungsvolle vorgespielt. Das war ein falsches Gegrinse auf beiden Seiten. Würdelos! Aber so machte man das damals. Der Wahrheit ins Auge zu sehen, das war nicht die Art der 50er. Gerochen hat es schlimm in dem Zimmer. Die Arme! Sie ahnte, dass wir uns vor ihr ekelten und bestand so lange auf Lüften, bis sie sich eine Lungenentzündung zuzog. Dass eine so reinliche Frau bei lebendigem Leib verfaulen muss! Ihre Milchküche hatte immer geblitzt und geblinkt. Ich hab sie geliebt, diese Frau. Und bewundert. Und dann wurde sie in die Erde gelegt. Ohne großes Gedöns. Ein gottgläubiger Redner hielt eine Rede. Ich fand das gut. Warum einer Toten, die nicht dran geglaubt hat, das Kreuz nachwerfen?
Der Großvater erzählte, dass die Krähen ihn vor dem Hungertod bewahrt hätten in Sibirien. Er sei auf ihre Nistbäume gestiegen, hätte ihnen die Eier unterm Bauch weggeklaut und ausgetrunken. Wenig später starb auch er. Und dann kam der Tag, an dem meine Eltern mir eröffneten, dass ich der Hoferbe sei. Der Hof gehe an mich, weil ich der älteste Sohn sei, denn Kurt und Fritz seien gefallen, der eine vor Tobruk, der andere bei Narvik.
Ich muss ziemlich blöd geguckt haben, als ich das hörte. Ich habe nur meinen Vater angeschaut, aber der hat ernst und ein wenig betreten genickt. Und meine Mutter hat unter Tränen gelächelt und mich in den Arm genommen. Für mich blieb sie meine Mutter, auch wenn sie eigentlich meine Halbschwester ist. Und gut, dass ich sie hatte; denn mit dem Heiraten, das hat sich nie ergeben.