Mein Berufsziel

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Quoth
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Beitragvon Quoth » 30.04.2010, 22:53

Mein Berufsziel

Ein Berufsziel hat bei weitem nicht jeder, und ich habe auch keins. Werde ich aber danach gefragt, so antworte ich wie aus der Pistole geschossen: Friseur! Sofort überfallen mich alle mit Fragen wie: Warum denn ausgerechnet Friseur? Machst du dafür Abitur? Kann man das studieren? Ich finde, ein studierter Friseur ist kein Widerspruch in sich. Ich war schon bei vielen Friseuren, aber zufrieden gestellt haben mich nicht die, die gut schnitten, sondern die, die sich gut mit mir unterhielten. Mit einem habe ich die Kriegsschuldfrage, mit einem anderen die Theodizee, mit einer dritten die Wechseljahre des Mannes diskutiert. Massierende Finger auf meiner Kopfhaut, das zarte Knirschen der Haar schneidenden Schere, das Ausbürsten des Nackens – das sind Reize, die die Gedankenbewegung anregen und und den Hunger nach Geistigem befeuern! Leider wächst mein Haar viel zu langsam, so dass ich vier Wochen friseurlose Zeit verbringen muss, ehe ich mit triftigem Grund wieder eine Haarwerkstatt betreten kann. Vorm Spiegel stehen Portugal und Eiswasser. Das Schermesser wird auf dem Lederriemen leise schnalzend gewetzt; denn hier verkehren auch Männer, die sich den Bart abnehmen lassen, und kommt es zu einer Verletzung, so wird das Blut mit einem Stift gestillt, an dem die Blutspur so manches Kunden noch haftet! Der Haarabfall wird mit dem Besen in eine Lücke der Fußleiste geschoben und stürzt auf den großen Berg im Keller. Und für ein hübsches Trinkgeld legt man gern einen Diener hin und hält der Kundschaft die Tür auf! Werde ich auch Damen frisieren? Ich erzittere bei dem bloßen Gedanken. Ach, ist es herrlich, Friseur werden zu wollen! Da hat man etwas, worauf man sich aus ganzem Herzen freuen kann. Ob man es dann wirklich wird, ist eine völlig andere Frage.
Zuletzt geändert von Quoth am 01.05.2010, 18:05, insgesamt 2-mal geändert.
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leonie
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Beitragvon leonie » 01.05.2010, 00:22

Lieber Quoth,

das gefällt mir gut, eigentlich ist das sogar untertrieben, es gefällt mir sogar sehr. Ich hoffe, ich darf das einfach mal ohne Begründung hier sagen!

leonie

Sam

Beitragvon Sam » 01.05.2010, 07:41

Hallo Quoth,

wie schon dein Text "Wohnorte", gefällt mir auch dieser sehr gut. Mir erscheinen beide Texte sehr ähnlich, sie könnten von der selben Person erzählt sein. Und die finde ich sehr interessant. Eine Mischung aus Naivität, leichter Verschrobenheit und einer Weltwahrnehmung, die die Realität zwar registriert, aber nur bedingt akzeptiert. Sie wird von ihm auf leicht skurile Art modifiziert und er bewegt sich darin, was sich dem Leser als sympathische Eigenwilligkeit darstellt. Und wenn es auch noch gut geschrieben ist, wie diese beiden Texte, dann ist das eine sehr anregende Lektüre.

Gruß

Sam

Klara
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Beitragvon Klara » 01.05.2010, 08:15

Das mag ich.
Einzige Trübung des Lesevergnügens: Die Typo, zumindest in der gewählten Schriftgröße...
(Man sollte als Mann vielleicht mal die Kunst des Barbiers wiederbeleben bwz. öfter hingehen zu einem, gesprächshalber..., oder besser die Barbière? Den Bader aber vielleicht eher nicht, den hat der Heilpraktiker usurpiert, noch mehr die Heilpraktikerin... und noch mal zur Kinokunst: Die Friseuse http://www.youtube.com/watch?v=RccnyoYge-0 hat sehr amüsiert - aber ich fürchte, für diese Art des Berliner Schnauzen-Ost-Amüsements wärst du zu anspruchsvolldafür bist du wahrscheinlich zu anspruchsvoll :))

Edit: Den letzten Satz finde ich überflüssig. Verschließt, wo vorher offenes Herumfantasieren war. Relativiert. Setzt den Sprechenden zurück in die gesetzte sichere Position desjenigen, der ja nun kein Friseur ist, weil er sonst nicht so sprechen würde -

Übrigens sind Friseure laut einer Umfrage die glücklichsten Berufsausübenden. Erzählte mir neulcih meine Friseurin ;)

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 01.05.2010, 10:10

Hallo Quoth, wir hatten noch nicht das Vergnügen ;-)

D.h. ich hatte schon großes Vergnügen mit deinem "Wohnorte", was sich hier fortpflanzt. Sehr frisch erzählst du merkwürdige Gedanken eines Ich-E., mag ich sehr!

Nicht mag ich den letzten Satz, da scheint mir zu sehr der belehrende Autor durch, den braucht es da überhaupt nicht. Ich würds streichen.

Liebe Grüße
ELsa
Schreiben ist atmen

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leonie
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Beitragvon leonie » 01.05.2010, 10:49

Hallo, ich nochmal,

wenn Ihr den letzten Satz meint, der jetzt da steht (ich bin nicht sicher, weil eine Änderung vorgenommen wird), den finde ich gut, er bringt für mein Empfinden noch einen neuen Gedanken, den ich übertragbar auf viele Dinge finde. Mir gefällt er, ich fände es schade, wenn er gestrichen wird.

leonie

Mucki
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Beitragvon Mucki » 01.05.2010, 14:31

Hallo Quoth,

auch mich spricht dein Text sehr an. Er hat etwas Frisches, Naives, Lebendiges und auch so eine Leichtigkeit, die sich auf mich, als Leser, überträgt. Ich mag auch diese unaufdringliche Sprache. Sie klingt so natürlich und dadurch so echt.

Mit "Ach, ist es herrlich, Friseur werden zu wollen!" würde ich es enden lassen. Es hinterlässt dann so ein weiches, warmes, positives Gefühl, das durch die nachfolgenden zwei Sätze etwas relativiert wird und das finde ich eigentlich schade.

Saludos
Gabriella

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 01.05.2010, 15:04

Ich denke, der letzte Satz bringt noch einmal den Widerspruch zum Ausdruck, mit dem der Text beginnt: Der Erzähler hat ja nicht das Ziel, Friseur zu werden. Er genießt nur den Zustand, einer werden zu wollen. Insofern ist der letzte Satz schon sinnvoll, ich würde ihn nicht streichen, aber vielleicht anders formulieren, denn so wie er jetzt da steht, lässt er den Leser - jedenfalls mich - eher an äußere Widerstände denken als daran, dass der Erzähler ja gar nicht Friseur werden will, sondern nur Friseur werden will.

Mir geht es übrigens ganz anders mit Friseuren, ich will nicht unterhalten werden, und ich habe eine Weile suchen müssen, bis ich eine Friseurin fand, die mich einfach in Ruhe lässt.

Vorm Spiegel stehen Portugal und Eiswasser.


Was ist denn Portugal? Irgendein Haarwässerchen? (Das Portugal, das ich kenne, hat vor dem Spiegel nicht Platz.)

Schönen Gruß von Zefira
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)

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leonie
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Beitragvon leonie » 01.05.2010, 15:18

Mir ging gerade noch durch den Kopf, ob der Titel "Friseur werden" nicht treffender wäre...

Nifl
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Beitragvon Nifl » 01.05.2010, 17:16

Hallo Quoth,
auch mir gefällt dieses Stück Kurzprosa vortrefflich in seiner gedanklichen Skurrilität.
Massierende Finger auf meiner Kopfhaut, das zarte Knirschen der Haar schneidenden Schere, das Ausbürsten des Nackens – das sind Reize, die die Gedankenbewegung anregen und und den Hunger nach Geistigem befeuern!

Aber diese Reize empfängt ein Friseur ja nicht, sondern sendet sie. Mir ist nicht klar, wie aus dieser Perspektive das Berufsziel untermauert wird? Überhaupt scheint mir der Text die Titelfixierung nicht zu brauchen und ihn eher zu schwächen.
Und warum findet ein Jugendlicher vor dem Abitur die Wechseljahre eines Mannes thematisch anregend?
Auf den letzten Satz würde ich auch verzichten.
Gerne gelesen.
LG
Nifl
"Das bin ich. Ich bin Polygonum Polymorphum" (Wolfgang Oehme)

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fenestra
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Beitragvon fenestra » 01.05.2010, 17:41

Einzige Trübung des Lesevergnügens: Die Typo, zumindest in der gewählten Schriftgröße...


Das muss ich nun mal unterstreichen, es fiel mir auch schon bei den anderen Texten von dir auf! Bitte, lieber Quoth, wähle bei deinen Texten die übliche normalgroße Schrift, aus Rücksicht auf die müden Augen PC-gequälter Leser!

Ansonsten habe auch ich den Text sehr gern gelesen und die Bilder darin mit einem leichten Anflug von Nostalgie genossen. Eine Friseurin sagte mir, dass das Rasieren (zumindest in ihrem Salon) seit AIDS nicht mehr stattfindet. Die Fußleiste ist sicher eine Erfindung von dir? Solltest du patentieren lassen!

Ach, ist es herrlich, Friseur werden zu wollen!

Ja, das wäre auch für mich der beste Schluss. Darin steckt ja bereits, dass man es ums Wollen und nicht ums Werden geht. Und diese Schlussfolgerung sollte man dem Leser selbst zutrauen, findet

fenestra, mit bestem Gruß

Quoth
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Beitragvon Quoth » 01.05.2010, 18:07

Hallo, habe die Type schon mal geändert. Besser?
Bei der ersten Änderung habe ich nur "Knistern" durch "zartes Knirschen" ersetzt.
Danke für positives Echo, ich gehe auf alles noch im Einzelnen ein, muss jetzt aber weg.
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Lisa
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Beitragvon Lisa » 01.05.2010, 21:56

Lieber Quoth,

gefällt mir auch richtig gut, ist witzig, aber nicht zu gewollt, kommt einfach daher, lädt ein, seine Gedanken zu all dem & mehr schweifen zu lassen.

Ich überlege, ob das ganze nicht noch besser in "Kritisches, Satirisches & Humoriges" passen würde?

(Mist, jetzt habe ich Lust zum Friseur zu gehen .-P )

liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Quoth
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Beitragvon Quoth » 02.05.2010, 07:04

Hallo, Klara, Elsa, Gabriella und die anderen, die den letzten Satz gestrichen haben möchten: Am Anfang benötige ich einen Einstieg in das Gedankenspiel, zum Schluss einen Ausstieg. Der Text wird dadurch als das, was er ist, ein Gedankenspiel, auch definiert und beiseite gesetzt wie ein Ding. Deshalb befolge ich Leonies wohlwollenden Rat.
Hallo, Sam, Deine Beschreibung des Icherzählers ist sehr feinfühlig, vielen Dank. Zu ergänzen wäre vielleicht, dass er nicht ganz zeitgenössisch ist (wie sich aus dem Rasieren und dem Blutstillstift ergibt), fenestra hat es erkannt. Nifl hat darauf hingewiesen, dass hier das Berufsziel Friseur aus der Perspektive des Kunden ins Auge gefasst wird, zumindest teilweise, am Schluss, die Sache mit dem Diener und den Damen, weniger. Wer noch kein Friseur ist, ist darauf angewiesen, die Vorzüge dieses Berufes aus der Sicht des Kunden zu beschreiben. Dass die "blaue Salondame" sogar Lust bekommt, sich frisieren zu lassen, ehrt mich sehr. Ich glaube aber, der Text ist bei "Kurzprosa" sehr gut aufgehoben, denn Humor und Satire sind nicht sein Hauptzweck. Zefira: Portugal muss ein Haar- oder Gesichtswasser gewesen sei, Google kennt es zu meinem Kummer nicht. Portugal und die Lücke in der Fußleiste sind Erinnerungen an die Friseure meiner Kindheit.
Was die Drucktype betrifft: Mir fiel gar nicht auf, dass die gewählte (Garamond bold) kleiner war. Deshalb: Kommando zurück. Aber schön finde ich serifenlose Schriftzeichen nicht ... Eine spezielle Entschuldigung an fenestras Augen!
Mit herzlichem Dank an alle - Quoth
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