Freunde der Großstadt

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
derSibirier

Beitragvon derSibirier » 17.03.2010, 19:26

Immer mehr in letzter Zeit hoffe ich auf das Läuten an der Haustür, aber die Klingel schweigt. Es ist mir seltsam im Raum der Wohnung. Ich sitze am Tisch und rauche, denke über dies und jenes nach und betrachte den Schneefall draußen vor dem Fenster. Das ist wohl ein Fehler, aber es fällt mir nichts Besseres ein und so langweile ich mich dahin, ohne etwas zu verändern. Ich bin kein geselliger Mensch, bemerke jedoch, dass ich mir die Zeit mit Gedanken über andere Menschen vertreibe. Ich bin also grundsätzlich nicht anders, als jeder andere Mensch. Nur die Mischung der Elemente ist verschieden, ein jeder verfügt über sein persönliches Verhältnis.
Im Treppenhaus, im allgemeinen Hauptquartier des Lärms, höre ich laute Schritte und dann eine vertraute Stimme.
„Hey, du Exote, mach schon die Tür auf!“
Es ist Sarah, die ungeduldig gegen meine Abgeschiedenheit drängt. Ich klinke die Tür auf und sie wirft sich an meinen Hals.
„Was willst du Sarah, das Übliche?“, sage ich und lasse mich auf das Bett fallen, als wäre es meine Rettungsinsel.
Ohne Zeit zu verlieren, schlüpft sie aus ihren Sachen und legt sich neben mich. „Das Übliche“, säuselt sie, „ein bisschen Sex und ein Stück von deiner Brust zum Anlehnen.“
Ich betrachte ihren Kirschmund und sage mir: „Wie eigenartig ist dieser Mensch! Wie bezeichnend und deutlich ist ihre Gleichgültigkeit gegenüber meinen Gefühlen. Sie ist zufrieden und das ist die Art ihrer Zufriedenheit, alles natürlich zu finden, was geschieht. Für eine kleine Zeit nicht denken, bieder und genormt zu sein. Ihre Zufriedenheit des Augenblicks macht sich nichts aus meinem Elend. Aber sie kann mich nicht täuschen; es ist eben doch nur ein Pfeifen, welches sie produziert.
Wir kommen zur gleichen Zeit und es wird uns gleichzeitig schlecht. Wie immer. Wir rauchen noch eine Weile. „Adieu“, sagt sie, „es war schön“, lügt sie uns beide an und geht zurück zu ihrer Familie.
Ich schließe ab hinter ihr, setze mich wieder an den Tisch und warte. Eines Tages werde ich diese Stadt verlassen.
Zuletzt geändert von derSibirier am 19.03.2010, 14:38, insgesamt 2-mal geändert.

Renée Lomris

Beitragvon Renée Lomris » 17.03.2010, 20:27

Lieber Sibirier,

deine Art zu schreiben gefällt mir einfach, deshalb gehe ich über die kleinen Frauenstiche immer maulend und meinen Ärger runterschluckend hinweg. Dein erzählendes Ich hat nun mehrfach die Gelegenheit gehabt, sich von Frauen unterschiedlicher Art zum Trostsex veranlasst zu sehen. Und das ist ein Phänomen der Literatur im Allgemeinen, der Literatur, die ich liebe.
Warum kommt bei mir dann doch irgendwann das Gefühl auf: wir schreibende Frauen (und zu denen gehört auch Sarah Kirsch(mund)) vertiefen uns in die kleinsten Spalten unserer Widersprüchlichkeit, und der Zwiespältigkeit des Klischees und des Anti-Klischees. - Und bei einem so dezidiert schreibenden Mann wie dir kommt uns das Bild weiblicher ANhänglichkeit, Gleichgültigkeit, Kopflosigkeit entgegen.
Und was meinst du mit:
es ist eben doch nur ein Pfeifen, welches sie produziert.


Und ich mochte den Text sehr, wenn er mir auch obige Fragen stellt. Ich spüre den Text in seiner Gesamtheit, und fühle die absolute - verhältnisbedingte - Einsamkeit des Protagonisten.

sehr liebe Grüße

Renée

Herby

Beitragvon Herby » 17.03.2010, 23:00

Hallo Sibirier,

wir sind uns bisher noch nicht begegnet, daher noch ein herzliches Willkommen von mir an dieser Stelle :engel:

Dein Text und seine Umsetzung des Themas Einsamkeit gefällt mir, auch wenn er, wie ich gestehen muss, mich unter falschen Voraussetzungen anlockte. Mich machte die Überschrift neugierig, doch spielt die/eine Großstadt ja im Text keine Rolle. Was erzählt wird, könnte ebenso gut in einer Kleinstadt oder einem Dorf spielen. Lediglich im letzten Satz ist vage von einer Stadt die Rede. Insofern grübele ich noch über den Zusammenhang zwischen dem Titel und dem Text selbst.
Unabhängig davon finde ich den Schlusssatz im Kontext gut, gibt er doch einen Ausweg an, der keiner ist und macht so nach meinem Verständnis die Hoffnungslosigkeit für den Protagonisten deutlich.

Der zweite Satz...

Es ist einsam im Raum der Wohnung.


...scheint mir entbehrlich, da zu erklärend, die Einsamkeit wird durch die folgende Schilderung m.E. sehr wohl deutlich.

Lieben Gruß
Herby

Mucki
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Beitragvon Mucki » 18.03.2010, 00:00

Hallo Sibirier,

dieser flashartige Einblick in die Welt eines einsamen Menschen, wie er denkt, was er tut, was er geschehen lässt, gefällt mir. Und was mich erstaunt: obwohl du Worte wie "einsam", "Höhle", "Gefühle", "Elend" verwendest, entsteht bei mir nicht der Eindruck von Larmoyanz. Du federst diesen Eindruck gekonnt ab durch Passagen wie:
derSibirier hat geschrieben:Im Treppenhaus, im allgemeinen Hauptquartier des Lärms

derSibirier hat geschrieben:Sie ist zufrieden und das ist die Art ihrer Zufriedenheit, alles natürlich zu finden, was geschieht. Für eine kleine Zeit nicht denken, bieder und genormt zu sein.

und natürlich durch die Dialoge. Auch wenn es nur wenige sind, so geben sie diesem Text eine, wie soll ich es nennen, triste Lebendigkeit. Und doch steckt sehr viel Trostlosigkeit drin. Ein Text, der in mir nachhallt.

Saludos
Gabriella

Tanja

Beitragvon Tanja » 18.03.2010, 01:30

Lieber Sibirier,

der Text gefällt mir ausgesprochen gut! Ich mag deine Erzählsprache. Dieser Text spiegelt so vieles wieder. Die Dialoge sind trefflich, die Zeilen drumherum ebenso. Es gibt nur einen einzigen Satz, der mir nicht gefällt, weil ich das Wort Höhle in dem Text überhaupt nicht mag, das würde ICH durch ein Synonym ersetzen, welches besser klingt.

derSibirier hat geschrieben:Es ist Sarah, die ungeduldig gegen die Pforte meiner Höhle klopft.


Liebe Grüße, Tanja

Andreas

Beitragvon Andreas » 18.03.2010, 09:41

Hallo,

für mich geht der Titel in Ordnung, ja, ich finde ihn geradezu passend. Je größer die Anzahl der Einwohner pro m², desto höher die Wahrscheinlichkeit auf Anonymität, Vereinsamung und Depression. Ein bisschen was davon lese ich in den Zeilen, die für mich z.B. nicht auf ein Dorf passen.

Gerne gelesen
Andreas

Sam

Beitragvon Sam » 18.03.2010, 16:16

Hallo,

einen wirklich erstklassigen Satz enthält diese Geschichte:

Ich bin kein geselliger Mensch, bemerke jedoch, dass ich mir die Zeit mit Gedanken über andere Menschen vertreibe.


Der hat eine Tiefe, dem der Rest des Textes nicht gleich kommen kann. Keine Larmoyanz zwar, wie Mucki richtig bemerkte, aber doch die von Klischees gefütterte Eitelkeit des einsamen Mannes. Das ist wirklich schon bis zum Exzess beschrieben worden. Die wirkliche (und eben auch zeitgemäße) Einsamkeit verspürt man in der Menge, oder dem sozialen Geflecht in das man sich hineinbegeben hat oder hineingeboren wurde.

Bedröppelt in der eigenen Bude zu sitzten und nur darauf zu warten, für kurze Zeit Kuschel- und Befriedungstool zu sein, erscheint mir in diesem Text doch eher wie eine Männerfantasie, als ein wirkliches Existenzproblem.


Gruß

Sam

derSibirier

Beitragvon derSibirier » 18.03.2010, 17:12

Hallo liebe Renée

Ich packe nicht alle Menschen in die gleiche Schachtel. Sarah Kirschmund glaubt noch ein wenig an ihre Träume, kann sich fallen lassen, aber nur für den Augenblick. Ist es nicht oftmals so, dass auch Frauen in etwas stolpern, was sie eigentlich gar nicht wollten? Das kann eine Familie sein, ein Leben in der Alltäglichkeit, obwohl sie eigentlich immer die Freiheit suchten und die Wildheit, ohne irgend jemandem Rechenschaft schuldig zu sein. Es ist ein Leben im Zwiespalt. Sie gaukeln sich selbst etwas vor, denken, sie könnten es ja immer noch sein, nicht nur in ihren Träumen. Der Kerl da, das ist für sie das Sinnbild der Freiheit. Aber Typen, wie dieser Held, durschauen solche Lügen, weil sie sich doch immer wieder selbst am meisten belügen. Das meinte ich mit Pfeifen. Pfeifen ist ist ein Aufschrei, ein, ich bin doch noch ein bisschen anders, als wie all die anderen. Eine beschissene Träumerei, ohne Wert und Zukunft.

sehr liebe Grüße

danke, ich habe Trost in diesen Worten gelesen und ich lese sehr genau.

@Herby, danke für die Willkommensgrüße.
Du hast ein kundiges Auge. Ich habe diesen Text vor zwei Monaten geschrieben. Der richtige Titel lautet ein bisschen anders. Mit "Freunde der Großstadt" bin ich auch nicht einverstanden, habe den Titel nur gewählt, um den Text hier einzustellen.
Es ist einsam im Raum der Wohnung.

In einer Wohnung muss es nicht einsam sein, nur weil man alleine ist. Einsamkeit wird gefühlt, manchmal.

hey Gabriella, danke für deinen Kommentar und die lobenden Worte zu dieser Trostlosigkeit.

das mit der Höhle gefällt mir selbst nicht besonders, liebe Tanja, ich werde mir da etwas einfallen lassen. Es stört mich bereits die längste Zeit.

hallo Andreas, natürlich kann man diesen Titel gelten lassen, aber er ist nicht besonders gut. Danke für dein "gerne gelesen".

und hallo Sam Danke für das Hervorheben dieses einen Satzes.
Der Typ wartet auf etwas ganz anderes. Er ahnt es bereits, aber noch weiß er es nicht genau. Der Kirschmund ist seine Alltaglichkeit, sein Höhepunkt des Tages, mehr ist es nicht. Längst hat er erkannt, dass es nichts wert ist.

Vielen Dank euch allen
derSibirier

Renée Lomris

Beitragvon Renée Lomris » 18.03.2010, 22:15

Lieber Sibirier - das gäbe noch eine lange Diskussion, die eines Tages vielleicht auch stattfinden könnte. Danke dafür eine Antwort auf eine sehr unklar formulierte Frage gefunden zu haben.

Ja, und danke fürs "genaue Lesen" !!


sehr liebe Grüße
Renée

Herby

Beitragvon Herby » 18.03.2010, 22:44

Hallo Sibirier,

jetzt möchte ich interessehalber noch mal nachhaken. Du schreibst:

Der richtige Titel lautet ein bisschen anders. Mit "Freunde der Großstadt" bin ich auch nicht einverstanden, habe den Titel nur gewählt, um den Text hier einzustellen.


Hier würden mich zwei Punkte interessieren. Was den, wie du schreibst, richtigen Titel angeht, machst du mich neugierig. Verrätst du den denn? ;-) Und wenn du mit "Freunde der Großstadt" selbst auch nicht einverstanden bist, warum hast du denn in dem Fall nicht gleich den richtigen Titel als Überschrift für deinen Salontext genommen?

Einsamkeit wird gefühlt, manchmal.


Stimmt, seh ich auch so. Aber eben weil diese gefühlte Einsamkeit im ersten Absatz deines Textes deutlich wird, braucht es den zweiten Satz doch nicht, der in meinen Augen zumindest den Textanfang schwächt. Ich finde es stärker, ein Gefühl aus dem Text heraus zu erkennen (was ja gelingt bei dir) anstatt es erklärt zu bekommen.

Herzlichst
Herby

derSibirier

Beitragvon derSibirier » 19.03.2010, 14:44

Hallo Herby

"Ich finde es stärker, ein Gefühl aus dem Text heraus zu erkennen (was ja gelingt bei dir) anstatt es erklärt zu bekommen."
wenn mich ein Argument überzeugt, dann ändere ich, deines hat mich.

Wenn es an meine Persönlichkeit oder Anonymität geht, dann blockiere ich, ich bitte dich um Verständnis, wegen dem Titel.

Und liebe Tanja, die Pforte und die Höhle, der Schwachsinn ist nun anderem gewichen.

schöne Grüße
derSibirier.

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noel
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Beitragvon noel » 20.03.2010, 14:33

ich habe keinen der kommentare gelesen...
der text ist für mich schlicht
_weg stimmig, eingängig & gut.
NOEL = Eine Dosis knapp unterhalb der Toxizität, ohne erkennbare Nebenwirkung (NOEL - no observable effect level).

Wir sind alle Meister/innen der Selektion und der konstruktiven Hoffnung, die man allgemein die WAHRHEIT nennt ©noel

derSibirier

Beitragvon derSibirier » 21.03.2010, 04:57

danke noel.
derSibirier


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