Plan B&Meisterstück - DZusG VII

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Mnemosyne
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Beitragvon Mnemosyne » 10.01.2010, 23:06

Hier steht Teil VI:
viewtopic.php?f=1&t=10342&p=137169#p137169



Plan B

Vagonar hielt mit Bedacht mehr als den üblichen Abstand zu seinem Gegenüber. So überzeugt er war, daß der Zweck in diesem Fall die Mittel heiligte, konnte er nicht vergessen, wen er da vor sich hatte. Wie er dastand, etwas untersetzt, den Kopf von einer Schirmmütze bedeckt, wäre kaum jemand auf die Idee gekommen, Etzak Sarci für den führenden Kopf eines Jahrtausende alten finsteren Kultes zu halten. Und soweit er konnte, würde er, der ehemals ranghöchste und nunmehr letzte Gâl-Gatai, es dabei belassen. Dennoch hatte Vagonar Mühe, sein Abscheu im Zaum zu halten. Die Vollstrecker waren eine Bande von Schlächtern und Mördern. Sich mit ihnen gemein machen zu müssen, war trotz aller Zwänge und Gründe eine Schande.
Die übrigen Umstände taten ein übriges, um seine Stimmung zu verdüstern. Nach allem, was er in den letzten Tagen in Erfahrung gebracht hatte, war die Lage noch weitaus schlimmer, als er ursprünglich angenommen hatte, strebte man geradewegs auf einen Abgrund zu. Nein, er hatte in der Tat wenig Anlaß, vergnügt zu sein. Doch jetzt grinste er.
„Sie haben ihn allen Ernstes vom Bahnhof abgeholt?“
„Wenn ich es Ihnen doch sage. In der alten Rostlaube vom Hinterhof – ich mußte nur ‚Taxi‘ auf die Tür pinseln. Er schien überhaupt keinen Verdacht zu schöpfen. Nach allem, was Sie mir über ihn erzählt haben, war ich fast ein wenig enttäuscht. Entweder war er müde, oder er hat stark nachgelassen. Nicht einmal auf das falsche Namensschild wurde er aufmerksam.“
„Wie bitte? Was haben Sie denn geschrieben?“
„Oh, seinen Titel und seinen Vornamen habe ich ihm gelassen. Nur beim Nachnamen war ich so frei, eine kleine Anpassung vorzunehmen: ‚Kamit‘ – also ‚Motte‘. Sie müssen wissen, wir haben hier ein besonderes Verhältnis zu diesen Tierchen – nach Ihrer Beschreibung schien es mir passend.“
„Kamit?“ Vagonar stutzte kurz, wischte den aufkommenden Gedanken dann aber beiseite.
„Ja.“ sagte Sarci, mit erwartungsvoller Miene für den gelungenen Scherz Bestätigung erheischend. Als er keine bekam, fuhr er mit deutlich kühlerer Stimme fort.
„Er kam vor kurzem einmal hier her, um ein wenig herum zu schnüffeln. Ich bin mir sicher, daß er mich erkannt hat, auch wenn er es zu verbergen versuchte. Mir ist es recht – er wird nicht viel damit anzufangen wissen. Die Polizei stolpert derzeit herum wie ein blinder Bär.“
„Was treiben sie denn so?“
„Nichts Sinnvolles, soweit ich sehe. Sie haben einige der Nubarier beobachtet, bis sie gewissermaßen vor ihren Augen verschwunden sind. Offenbar kamen sie ihm verdächtig vor – nicht zu Unrecht. Dabei ist er ihnen gar nicht so unähnlich, diesen Verehrern des Ibrastnatoroks mit ihren Predigern des Nichts...“
„Und sonst?"
„Sonst nichts. Sie suchen nicht, sie stochern nur herum, überall, nur nicht dort, wo sie fündig werden könnten – im Nebel.“
„Ja, Manelchen ist klug, aber mit diesem Fall kommt er wohl kaum zurecht. Jede seiner Thesen verläuft zwangsläufig im Sand, jeder Hinweis verliert sich – er tut mir fast ein wenig leid.“
„Ich frage mich ernsthaft, wie Sie noch Sympathien für ihn aufbringen können. Ihr 'Manelchen' ist derzeit unser ärgster Feind...“
„Er war mein Bruder. Einst lernten wir beim gleichen Meister.“
„Das war, ehe er zur Motte wurde. Nun lebt er so fern von jenem Zauber, der die Welt erhält, als von jedem anderen. Er hat keinen Funken von Magie mehr in sich.“
„Oh doch, den hat er. Viel zu viel hat er davon. Seine Macht ist nahezu grenzenlos. Man darf sich nicht davon täuschen lassen, daß er der Zauberei abgeschworen und sich vordergründig anderem zugewandt hat. Er folgt dem Zauber, dem er bestimmt ist, treu wie ein Uhrwerk. Daß niemand mehr als er selbst daran glaubt, er habe mit aller Zauberei gebrochen, vermehrt nur seine Kräfte ins schier unheimliche. Sogar mein alter Meister hat sich insgeheim vor ihm gefürchtet. Ohne es zu bemerken wurde Manelchen so zu einem der mächtigsten Schwarzkünstler aller Zeiten.“
„Warum haben Sie sich dann nie gegen ihn gestellt?“
„Weil das zu nichts Gutem führen kann. Wir brauchen ihn so nötig, wie er uns. Unsere“ er sprach dieses Wort nicht ohne eine erhebliche Spur von Widerwillen aus, „Aufgabe ist es, zu erhalten und zu schaffen. Wir verfehlen unser Ziel, wenn wir uns in Kämpfe verwickeln lassen. Als ich sah, was aus Manelchen wurde, war ich manches Mal nahe daran, ihm zu folgen und ihn Mores zu lehren. Doch mein alter Meister hat mich stets davor gewarnt. Ich werde seine Worte nie vergessen: 'Die Mächte, die der dunklen Kunst entspringen können, sind gewaltig und nicht wenige ihrer Meister wollen sie nach festem Vorsatz nur zu guten Werken brauchen. Es hilft freilich nichts - mit dem Entschluß, aus solchen Quellen seine Kraft zu schöpfen, ist die Welt gewählt, darin, die Richtung fest, in die sie wirken kann. Unvereinbar ist der leichte Frohmut des Schaffenden mit dem Drängen der Finsternis. Um nichts in der Welt aber darf man sich zu jener höchsten Narretei versteigen, sie mit ihren Mitteln zu bekämpfen. Am tiefsten fielen schon von jeher jene, die sie auf sich selbst zurückzuwenden suchten, im Glauben, sie sei auf diese Weise aus der Welt zu schaffen. Unentrinnbare Strudel und Schlünde von Schwärze klaffen auf, wo die schwarze Kunst sich selbst begegnet! Ein widerwärtiges Schauspiel hebt da an, eine unheilschwangere Mixtur von Schlächterei und - Wucherung! Voll grimmer Inbrunst fährt sie sich mit Zähnen und Klauen in den Wanst, aus jedem Stück, das sie sich aus dem Leibe reißt wächst neues Übel, mit jedem Schlag, der wider sie geführt wird, schwillt sie an, noch weithin sind die furchtbarsten Verwüstungen Begleiter solcher wollüstigen Selbstzerfleischungen.'“
Die letzten Sätze hatte er mit solcher Heftigkeit vorgebracht, daß er keuchend innehalten mußte. Doch er führte seine Rede nicht fort. Mit Manelchen würde er sich später befassen. Einstweilen gab es anderes in Erfahrung zu bringen.
„Was ist mit Ihren Leuten?“ fragte er, nun ohne eine Spur von Schmunzeln in der Stimme. Auch die Aufhellung im Gesicht des Gâl-Gatai war plötzlich verschwunden.
„Sie sind weg. Ich habe sie bis zum Anfang der Berge begleitet und bin dann zurück geblieben, wie Sie sagten. Alles weitere konnte ich mir anhand von Zeitungsberichten nur zusammenreimen: Sie wurden von einer Lawine gestört, ehe sie fertig waren. Seither habe ich keinen von ihnen wieder gesehen. Sie sind verschwunden.“
„Und die anderen Verschwundenen?“
„Dasselbe. Über die Einzelheiten weiß ich fast nichts.“
„Sind es die... Vorgesehenen?“
„Die vorgesehenen Opfer, meinen Sie? Anfangs waren Sie das, jedenfalls hauptsächlich. Wir hatten es etwa auf diese Flachköpfe von Nubariern abgesehen – ihr Anführer, Abdu Hab stand auf unserer Liste weit oben, hätten Sie uns nicht ausdrücklich untersagt, Hand an ihn zu legen – und tatsächlich haben viele von ihnen ihr Heil bereits im Nichts gefunden. Aber das mag bei der Zahl der Verschollenen ein bloßer Zufall sein. Ihnen wird nicht entfallen sein, daß alle meine Anhänger zu den ersten Vermißten zählen. Wir haben damit nichts zu tun – ich alleine brächte es auch kaum fertig. Es geschieht, was geschehen muß, wenn das Opfer nicht erfolgt. Die Zeichen der Prophezeiungen erfüllen sich. Ibristnatorok hat begonnen.“
Vagonar nickte. Im begrifflichen Gefüge ihres archaischen Weltbildes kamen die Gâl-Gatai der Wahrheit erstaunlich nahe. Es gab einen Grund, warum er sich an sie gewandt hatte. Auf eine schwer zu bestimmende Weise waren sie sich einig – hinsichtlich der Diagnose, vor allem aber hinsichtlich der Therapie.
„Nun wissen Sie, warum ich darauf bestanden habe, daß Sie den Jungen nicht selbst opfern.“
„Wußten Sie, daß so etwas passieren würde?“
„Ich habe etwas in der Art befürchtet. Wie dem auch sei - wir müssen den Jungen finden und es zu Ende bringen. So schnell wie möglich.“
„Natürlich müssen wir das.“ „Leider habe ich keine Ahnung, wo er sich aufhält. Seit sie ihn gefunden haben, hält die Polizei ihn irgendwo versteckt. Weit kann er zwar nicht sein – weiter weg ist hier nichts – doch Fatai hat seine Winkel und Löcher. Wenn man nicht weiß, wo man suchen soll, ist es hoffnungslos. Außerdem...“ Er stockte, als habe er etwas Ehrenrühriges zu gestehen.
„Außerdem?“
„...haben sie den Dolch. Die nimmerstumpfe Klinge, den Steindolch unserer Ahnen. Wir brauchen ihn – erst durch ihn wird das Opfer gültig. Mit einem gewöhnlichen Stahl ist es nur ein sinnloser Mord.“
Vagonar seufzte. Er war sich ziemlich sicher, daß ein einfaches Messer für den Anfang vollauf genügen würde - die Allüren der Gâl-Gatai verkomplizierten die Sache unnötig. Andererseits war der Glaube an das Opfer von erheblicher Bedeutung. Er würde sich wohl oder übel darum kümmern müssen.
„Gut.“ Entgegnete er. „Ich werde mich darum kümmern. Treffen Sie mich morgen, eine Stunde nach Sonnenaufgang, am Beginn des Pfades zum Gâl-Garoth. Den Jungen und den Dolch bringe ich mit.“
Sacri schnaubte abschätzig. „Und wie wollen Sie das machen? Der Dolch liegt bei der Polizei, nur dort kennen sie sein Versteck. Und die Polizei wird nicht gerade darauf warten, es ihnen zu verraten.“
Vagonar lächelte. Dann antwortete er mit einer Stimme, als sehe er einem kleinen Kinde eine große Dummheit nach.
„Falls Sie es vergessen haben sollten – ich bin die Polizei.“




Meisterstück
Aus dem Leben des Manuel Konit


Für eine Antrittsvorlesung war die Zahl der Zuhörer sensationell. Aus Platzgründen hatte sich die Universitätsleitung spontan entschlossen, den ersten Vortrag des frisch habilitierten Dr. Manuel Konit, nunmehr Professor für theoretische Physik, in den Innenhof zu verlegen. Wie viele nur dem Ruf eines bekannten Namens gefolgt waren und wie viele sich tatsächlich von dem eigenartigen Titel "Ceci n'est pas un arbre." angezogen fühlten, war dem jungen Konit einerlei - heute würden sie zuhören, und er würde sie packen und schütteln bis zur Besinnungslosigkeit. Sie alle. Als er ans Mikrophon trat, saßen mehrere Hundert im Halbkreis um die alte Linde. Nachdem allmählich Ruhe eingekehrt war, wies er mit dem ausgestreckten Arm auf den gewaltigen Stamm und begann zu sprechen.
"Schauen Sie gut hin! Sehen Sie ihn alle! Fassen Sie ihn an, wenn Sie mögen. Ich möchte, daß Sie bis ins letzte von der Realität dieses Baumes überzeugt sind, wenn ich fortfahre. Damit sind Sie offen für die volle Wunderlichkeit Härte dieses Satzes, wenn ich sogleich erkläre: Hier gibt es keinen Baum."
Hier pausierte er für eine Weile. Aus dem Publikum fing er einige verwunderte Blicke auf, doch alle behielten Platz. Niemand ließ es sich einfallen, den Baum tatsächlich anzufassen.
Also fuhr er fort. Das Wesen des Gegenständlichen, erklärte er, bestehe seit jeher aus seiner Faßlichkeit in den Formen von Raum, Zeit und Kausalität. Dem Baum gehe es da nicht anders - als einem Stück Wirklichkeit müsse ihm jede Frage zuzumuten sein. Sofern nun etwas bestehe, sei es gegeben durch das, woraus es bestehe und den Zusammenhang seines Bestandes. Nichts an dem Baum, beispielsweise, sei weder Stamm noch Krone oder Wurzel - und also sei alles über ihn gesagt, wenn man über diese Bescheid wußte. Sie unter einen Begriff zu fassen, sei gleichsam ein Willkür des einteilenden Verstandes, die sich gegenüber anderen Möglichkeiten - etwa Wurzel und Stamm als Teil der Hofpflasterung und die Krone als etwas ganz anderes aufzufassen - nur durch ihre Nützlichkeit, nicht aber durch einen höheren Grad an Wahrheit unterscheide. Freilich - bleibe man bei Stamm, speziell der Krone, so zerfalle diese unter dem gestrengen Blick des Analysten sogleich in einzelne Äste und Blätter. Ein Blatt wiederum zerfalle, sähe man genauer hin, in einzelne Zellen.
Von hier aus stieg er immer weiter hinab ins Reich der Mikrophysik, in dem sich Raum und Zeit verliefen und der Idee eines Gesetzes damit den Boden entzogen.
Damit seien die anfangs genannten Zeugen der Gegenständlichkeit verloren, doch damit nicht genug: In einer Schwindel erregenden Abwärtsspirale stürzte er tiefer und tiefer, in eine Welt, in der alles Messen versagte und die sich dem Forscher nur noch als symbolisches Spiel darbot. Infolge einer traurigen Anhänglichkeit an die alten Gewohnheiten rede eine krude Metaphernsprache hier von elfdimensionalen "Fäden" in einem "Raum", der freilich nur noch der Etymologie diesen Namen verdankt. Alle Objektnatur sei den sogenannten Dingen damit ausgetrieben - was bleibe, sei die Abstraktion, der mathematische Gedanke.
Dies sei das Schicksal allen Denkens, das daran glaube, Gegenstände aufzufassen. Frage es ihnen nach, komme es letztlich bei sich selbst heraus.
"Der Baum "ist" nur für naive, unvorsichtige Augenblicke, da man höchstens noch ins zweite oder dritte fragt. Letztlich aber steht es mit ihm wie mit der Luft, die Sie atmen, dem Stuhl auf dem Sie sitzen, dem Boden, auf dem Sie stehen und Ihnen selbst: Er ist unhaltbar."
Die Zuhörer schwiegen. Sie schienen auf etwas zu warten, etwas wichtiges, etwas unentbehrliches, etwas, das Ihnen ganz unmöglich vorenthalten werden konnte. Es dauerte eine ganze Weile, bis man seinem Schweigen entnahm, daß der Vortrag zu Ende war.
Die Anspannung kippte in frenetischen Applaus. Einige eilten nach vorne, um ihm zu gratulieren. Alles in allem war er mit seinem Vortrag sehr zufrieden. Der bärtige Spinner aus der letzten Reihe, der die ganze Zeit über in einem bodenlangen Mantel dagesessen und "Zugabe, Zugabe!" in den Applaus hinein gerufen hatte, war zum Glück verschwunden.


Hier steht Teil VIII:
viewtopic.php?f=1&t=10399&p=138160#p138160
Zuletzt geändert von Mnemosyne am 21.01.2010, 12:33, insgesamt 3-mal geändert.

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Beitragvon Mnemosyne » 10.01.2010, 23:21

Da es jetzt leider doch ein paar Tage gedauert hat, die Teile anzupassen, dachte ich mir, es wäre nützlich, die wichtigsten Namen und Begriffe kurz in Erinnerung zu rufen.

Manuel Konit - skeptischer Ermittler in scheinbar übernatürlichen Fällen
Chira Vagonar - "Hellseher" im Polizeidienst
Monsieur Enfant - Auch "Der Alte", "Der alte Meister": Ihr gemeinsamer Ziehvater und Lehrer, den Konit als Jugendlicher verlassen hat
Fatai - Stadt, Hauptschauplatz der Geschichte
Halvoder - Kommissar der dortigen Polizei
Partsa - heruntergekommene Siedlung nahe Fatai
Giocco Gelukar - Spielmann von einiger Bedeutung
Euphorsus Gelukar - Sein Urahn, der Legende nach Gründer von Fatai
Nubarier - Die Nebelanbeter
Abdu Hab - Ihr Prediger
Gâl-Gatai - die "Vollstrecker"
Gâl-Garoth - der Berg, an dem ihr Altar steht
Ibrastnatorok - "Ewiger Nebel": ihre Vorstellung vom Weltuntergang
Etzak Sacri - Ihr Anführer
Reinhold Puer - Der zu Beginn durch eine Lawine gerettete Junge


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