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Kunst der Enttäuschung
Das Zugfenster war ungefähr so interessant wie die drei leeren Polstersitze vor ihm. Draußen zog die Landschaft in inzwischen einschläfernder Gleichförmigkeit vorbei. Ausgedehnte, sattgrüne Laubwälder, nur unterbrochen von planen Graslandschaften, in deren Hintergrund sich der Granit zu bizarr geformten Massiven türmte. Jeder flüchtige Blick aus dem Fenster hätte im Grunde als Postkartenmotiv getaugt, aber eben das ließ die Begeisterung selbst des enthusiastischsten Reisenden schließlich an Spannkraft verlieren. Es war, als höre man seit Stunden das mit höchster Dramatik vorgetragene Fortissimo der Sinfonie eines Komponisten, der einfach kein Ende hatte finden können. Vergeblich suchte das Auge den Kontrapunkt, jagte einem wenigstens vorläufigen Diminuendo nach, von wo aus es die Kraft gewinnen konnte, das Ungeheure aufs Neue aufzufassen - die einzigen Unterbrechungen blieben die gelegentlichen Tunnel, die die unbeleuchteten Abteile schlagartig verdunkelten und kurze Hoffnung machten, man möchte den Schlussakkord erreicht haben - welcher sich kurz darauf unerbittlich wieder in seine Kadenzen auflöste, worauf das virtuose Spiel der Läufe erneut einsetzte.
Konit gähnte. Die vielen langen Reisen waren eine der wenigen Unannehmlichkeiten, die sein Beruf mit sich brachte. Im übrigen war er mit seiner Tätigkeit mehr als zufrieden - was er nun im Dienst der Polizei zu tun hatte, war genau das, was er im Grunde immer schon hatte tun wollen und getan hatte, es paßte zu ihm als habe man die Stelle eigens für ihn eingerichtet. Was, streng genommen, stimmte.
In seiner Abteilung nannte man ihn den "Geisterjäger". Er war die beste Annäherung an einen Ermittler in übersinnlichen Angelegenheiten, die es in einer Welt, in der es keine übersinnlichen Angelegenheiten gab, geben konnte. Wann immer die Polizei auf scheinbar Unerklärliches stieß, war es an ihm, den Irrtum, oder - was öfter vorkam - den Betrug aufzuklären. Fälle von Vandalismus an Kornfeldern mit angeblich außerirdischen Tätern fielen ebenso in sein Metier wie mordende Gespenster, gut situierte Hellseher oder Wunderheiler.
Er hatte die feinen Kanäle im Holz der Marienstatue der St. Virgin Cathedral entdeckt, durch die sie seit vielen Dutzend Pastorengenerationen jene roten Tränen weinte, die als Wunderheilmittel gehandelt wurden und dem Ort zu einigem Wohlstand verholfen hatten. "Enttäuscher" hatte ihn eine große Zeitung daraufhin genannt, ein Name, der ihm in leichter Abwandlung in Skeptikerkreisen seither anhing wie ein Orden, den er mit tiefem Stolz trug: Entzauberer.
Der vorliegende Fall war in der Tat recht mysteriös. Der Küstenort Fatai, der auf einer abgelegenen Halbinsel im Nirgendwo hinter der großen Steppe angesichts einer Jugend, die es in die fernen Städte zog, unbeachtet seiner Auflösung entgegenfaulte, war vor kurzem in die Schlagzeilen geraten und seither nicht mehr herausgekommen.
Alles hatte mit dem "Glückskind" angefangen, einem zehnjärigen Jungen namens Reinhold Puer, besser bekannt als "das Wunder von Fatai". Einem Fischer war mit einem Mal vor seinen Augen der Hund entlaufen und ins Gebirge geeilt. Der Mann war ihm gefolgt, über Pässe und Gipfel in ein Tal, das lange niemand mehr lebend verlassen hatte. Dort hatte das Tier winselnd und japsend angehalten und im Schnee gegraben. Als der Fischer es fortziehen wollte, war ihm eine blonde Strähne aufgefallen, die aus der frisch niedergegangenen Lawine hervor lugte. Vermutlich im letzten Moment hatte er das Kind aus dem Schnee gezogen, das schon zur Hälfte erstickt und zu drei Vierteln erfroren war.
Wie es dorthin überhaupt gekommen war, fragte man und nahm die Antwort, es habe sich "verlaufen" gleichgültig hin. Kinder eben. Das Kind schwieg dazu. Gut so.
Je weniger die Täter ahnten, daß der Vorfall längst zum Fall geworden war, desto größer war die Chance, sie aufzuspüren. Die geheimen Akten kannten eine Spurenlage, die einen weit finstereren Hintergrund vermuten ließ. Unter dem frischen Schnee waren gefrorene Fußabdrücke aufgetaucht, die darauf hinwiesen, daß das Kind bei seinem Irrweg zumindest ein halbes Dutzend erwachsener Begleiter gehabt hatte. Auf einem flachen Absatz im Berg etwas oberhalb der Fundstelle hatte man einen massiven Steintisch freigelegt, der rundum mit Runen verziert war und an dem alte Reste von Blut ebenso klebten wie Haare des Jungen. Von den Begleitern dagegen fand sich kein weiteres Anzeichen. Sie schienen zum Altar gegangen zu sein und sich anschließend in Luft aufgelöst zu haben. Aber im Geröll nahebei hatte ein Dolch gelegen, ein uraltes Stück, das aus der Steinzeit zu stammen schien, aber derart scharf war, daß mehrere Labormitarbeiter sich bei der Arbeit daran geschnitten hatten. Um Klinge und Griff wand sich eine verwitterte Inschrift, die erst im Zuge der Untersuchungen ans Licht gekommen und bisher nur drei Beamten, dem Forensiker, seinem Vorgesetzten und ihm, Konit, bekannt war: "Ormin ârmasin nsút. Ârmasin sludom nsút."
Der Vorfall hätte alleine ausgereicht, um in einer Liste kriminalistischer Mysterien einen Ehrenplatz zu erhalten. Doch die wahrhaft beängstigenden Ereignisse, die ihn nun alles hatten stehen und liegen lassen, um sich vor Ort ein Bild der Lage zu verschaffen, hatten erst danach begonnen.
In Fatai verschwanden Menschen. Familienväter, die morgens wie gewohnt zur Arbeit aufgebrochen waren, kamen Abends nicht mehr nach Hause. Pärchen, die sich am Meer trafen, ließen nichts zurück als zwei Reihen von Fußabdrücken, die den Strand herab führten, um im Nichts abrupt zu enden. Eine verrückte alte Dame, die nie das Haus verließ, war nicht mehr darin. Nach den Schulpausen blieb eine wachsende Zahl von Stühlen in den Klassenräumen leer. An Laternen und Wänden flatterten Zettel mit Vermißtenmeldungen unbeachtet im Wind. Täglich wurden neue Fälle bekannt, manche entgingen den Behörden für eine Weile, weil schon niemand mehr da war, der sie noch suchte. Zum Schicksal dieser Menschen hatte sich noch kein einziger Hinweis gefunden. Von ein paar Irren abgesehen, die die Vorfälle zum Anlaß nahmen, im Wechsel Außerirdische, geheime Todesstrahlen oder den Leibhaftigen zu verdächtigen, konnte sich niemand einen Reim auf das Geschehen machen. Die Welt stand vor einem Rätsel.
Er würde schon dahinter kommen. Der ungeübte Geist war leicht zu täuschen, weil er allenfalls die Lüge kannte und von der Kunst nichts ahnte, zu der die Täuschung in den Jahrtausenden geworden war. Darum rief man ihn. Ihn zu täuschen, war mindestens nahezu unmöglich. Er kannte sie wie kaum ein zweiter.
Kindheit eines Entzauberers
Aus dem Leben des Manuel Konit
Eltern- und heimatlos, hatte er Kindheit und Jugend mit Wasser speienden Engeln und Teufeln eines Musentempels geteilt, vor dessen gewaltiger Hauptpforte er als Säugling eines Tages gelegen hatte. Das Theatre de Temps Anciens Perdu unter der Leitung des Monsieur Enfant weigerte sich mit beharrlicher Geste, wie sie nur Stein zuwege bringt, zur Stadt zu gehören. Das umliegende Grundstück war von einer hohen Mauer umschlossen und dicht mit einem Wald bewachsen, in dem es vermöge einer sinnreichen Auswahl und Anordnung der Pflanzen immer Frühling zu sein schien. Zwischen Kirschen in weißer und roter Blüte reckte eine knorrige Eiche ihre Äste gleich ringenden Armen in die Luft. Bei Licht ein Feenreich, wandelte sich der Wald zur Nacht in eine Phalanx mißgeborner Riesen, deren Anblick selbst noch jenen kalte Schauer über den Rücken jagte, die sonst mutvoll waren und die Wandlung bei sinkender Sonne mit eigenen Augen sich hatten vollziehen sehen. Nur eine Schneise war hinein geschlagen, dort führte eine Straße in Windungen und Kurven vom einzigen Tor in der Mauer ins Herz des Waldes, wo das Theater stand. Ihr wirrer Verlauf entzog sich jedem Versuch, sich mit ihm vertraut zu machen, mancher war zum Schwur bereit, er könne sich von einem Augenblick zum nächsten ändern. Nach vielen Malen angestrengter Gedächtnisarbeit erkannte man vielleicht das erste Dutzend Biegungen, dann verlor sich jedes Gefühl für Strecke und Orientierung - fast mochte man glauben, sich mehrmals im Kreis bewegt zu haben, obschon der Weg sich nirgends kreuzte - wurde, so sehr man es auch besser wußte, schließlich bange, ob es überhaupt noch einen Anfang oder Ende gebe und man sich nicht rettunglos in diesem Zauberwald verloren habe. Der Weg selbst begann einem organisch zu scheinen, spottete des Nahenden, es war, als wisse er, wohin man als nächstes zu gelangen hoffe und krümme sich voll Häme in die Gegenrichtung. Nervös begann man, sich zu fragen, wie lange man wohl schon so daher lief, sah auf die Uhr - tatsächlich überwand man die Distanz bei gutem Schritt in knappen 10 Minuten - traute ihr schon nicht mehr recht, begann selbst seinen Sinnen und Gedanken zu mißtrauen, unheimliche Zweifelsstimmen wurden laut, ob jene Welt, aus der man kam, noch auf dem Rückweg zu erreichen sei, noch da, überhaupt jemals gewesen sei, da - unversehens - fand man sich auf einer grünen Lichtung, dem Theater gegenüber.
Von allen Wundern dieses Hauses das liebste war ihm die Schlange Hystria, welche zuweilen in den Darbietungen des Alten auftrat, jedoch mehr als Familienmitglied denn als Requisite angesehen wurde und in ihrem Terrarium unter der Bühne ihr beschauliches Reptilienleben führte. An guten Tagen schickte ihn der Alte, sie zu füttern; dann stand er stundenlang und starrte durch die Scheibe. Und Hystria, gegen deren rot-weiße Zeichnung ihm die großen Ölgemälde in den Gängen und Fluren wie geschmacklose Plumpheiten vorkamen, glitt heran, hob den Kopf und erwiderte seine Aufmerksamkeit. So sprachen sie miteinander, so schwieg er ihr die Verehrung zu, die sie züngelnd und nickend entgegennahm.
Von klein auf unterwies der Alte ihn im Illusionismus, als dessen talentierter Schüler er sich bald erwies. In einem Alter, da andere ihr Vergnügen darin finden, sich voreinander unbeholfen zu verbergen, konnte er Münzen, Bälle und Uhren behend verschwinden und an den absonderlichsten Orten wieder auftauchen lassen; er erriet, welche Zahlen, Formen und Spielkarten sein Gegenüber fest in seinem Kopf verschlossen wähnte. In seinen Händen wechselten Tücher ihre Farbe und begannen zu schweben. Nicht lange, und die klassischen Effekte, aus deren Fundus selbst die großen Meister schöpfen, waren ihm vertraut wie anderen das Schwimmen oder Radeln. Später nahm ihn sein Lehrer als Assistent mit auf die Bühne, hieß ihn sogar das eine oder andere an seiner statt darbieten. Kaum einer zweifelte daran, daß er einst die Nachfolge des Alten antreten werde, der sich schließlich irgendwann zur Ruhe setzen mußte, Reden von neuen Ufern und frischen Winden wurden laut. Bis zu jenem Tag, als ihm seine Kunst abrupt entglitt.
Es war an einem Abend, da er vor großem Publikum aufgetreten war und den Ausdruck der Verblüffung in viele hundert Gesichter geprägt hatte. Sie hatten ihn reich beklatscht, ihm zugejubelt, und schließlich immer wieder laut nach Zugaben verlangt, so daß die Stille danach den weiten Raum der Bühne um so aufdringlicher erfüllte. Der schmale Lichtkreis eines Scheinwerfers warf einen einzigen weißen Fleck ins Dunkel, ein Ruf zur einsamen Besinnung. Zitternd, als träte er vor einen strengen Richter, trat er ein und war mit sich allein. Hier war sonst nichts, kein Laut, kein Licht, nicht einmal ein Geruch - nichts, was den Sinnen Nahrung gab und sie davor zurückhielt, sich auf sich selbst zu wenden. Seine Hände wurden feucht vom Schweiß, den eine starke innere Unruhe ihm aus den Poren trieb. Nicht, daß etwa die Schwärze, Stille oder Menschenleere ihn bekümmert hätten. Dieser Ort griff weit über seine sinnliche Natur hinaus: Dieser Ort war ein Zeichen. Und er ein Teil davon. Mit der Gewalt des Symbolischen zwang ihn der Ort, selbst Zeichen zu sein. Doch wohin zeigte er? Was hatte er zu bedeuten?
Wie zur Antwort holte er ein rotes Taschentuch heraus und hielt es mit beiden Händen vor sich hin. Er erinnerte sich gut, wie er als Kind mit sprachlosem Erstaunen dem alten Meister zugesehen hatte, wie er den Stoff mit gebietender Geste in Luft auflöste. Ein schwaches, leichtes, kleines Stück nur, aber doch Substanz, Materie - ein Teil von jenem Felstitanen, der sich, unwälzbar für die Träumerei der frühen Kindheit, allmählich zwischen das Ich und die Welt schob, um endlich, hinter gähnender Kluft, jenes fremdartig-übermächtige Ungeheuer zu gebären, die Wirklichkeit, aus der der Wille sich zurückgezogen hatte und die nur ihren eigenen, ehernen, unmenschlichen Gesetzen folgte. Auf seinen Wink hin floh die Kreatur! In seinen Händen gewann der Stoff sein verlorene geglaubtes Menschenantlitz wieder, er zwang ihn zurück unter die Herrschaft einer ursprünglichen Beseeltheit aller Dinge. Sein Wort war wie ein Bannfluch gegen Wirklichkeit, die Verheißung einer Erlösung, einer Versöhnung des Willens mit der Unerbittlichkeit des Stofflichen. Wie hatte er die Einlösung dieses Versprechens herbeigesehnt! Wie sehr sich gewünscht, in die geheimen Künste eingeweiht zu werden, welche die eine Grenze aufzuheben vermochten, die der Urtyp aller Grenzen war!
Seinen Wunsch hatte das schwerste aller Schicksale ereilt - er hatte sich erfüllt. Der Zirkel der Macht hatte sich ihm bereitwillig geöffnet. Er hatte die Gesten gelernt, den Blick und die Worte, die uralten Beschwörungsformeln, die über dem Spiel der Hände in die Zwischenwelt gewispert wurden. Sie waren zum Gelingen durchaus unerläßlich, denn von ihnen her nahm alles Tun den Charakter des rufenden Anspruchs. Unvermeidlich ließ das Wort die Angesprochenen aufziehen, die Ahnung eines Wesens, das sich des rhythmischen Wohlklangs der dunklen Silben als Sprache bediente. Ihre exotische Melodie bildete den Horizont einer geoffenbarten Geisterwelt, vor dem das Zauberstück sich erst als Wirkung fremder Mächte zeigen konnte. Die Worte waren Musik, sie stellten eine Welt auf, in der das Magische für eine Weile leben, atmen konnte: Sie waren die tiefere Bühne.
Er sah mit starrer Miene in den unbestimmten Raum der lichtlosen Publikumsränge, als könne er so vor sich selbst verbergen, wie im Sichtschutz des Gewebes etwas Unsägliches von seinem rechten Daumen in die linke Hand glitt. Dann hielt er das Tuch zwischen rechtem Daumen und Zeigefinger wie zum Abschied in die Höhe und formte zugleich mit der linken eine hohle Faust, in die er es unter beschwörendem Murmeln hineinschob. Zum Schluß half er dem letzten Zipfel mit dem rechten Daumen nach, hob die ineinander gelegten Hände vor die Augen, verstummte und gab mit lässiger Geste den Blick auf das Nichts frei, das sie verbargen. Ein Lächeln, ein Scherzwort, und die Zeit war reif, das Stück in umgekehrter Richtung aufzuführen. So ging es immer, so war es schon unzählige Male gegangen. Aber diesmal war es anders.
Die Worte wurden ihm schon in der Kehle zäh wie Teer, gerannen zu stinkenden, schwarzen Klumpen. Sie kamen aus ihm heraus wie erstickendes Gift, noch gerade so zur rechten Zeit erbrochen und hinterließen einen Nachgeschmack süßlicher Fäule auf seiner Zunge. Übermächtiger Ekel drückte ihn in die Knie. Vergeblich versuchte er, seine Augen hinter den Lidern vor der grellen Glut des Scheinwerfers zu bergen. Ohnmächtig, geblendet spürte er, wie ihm am ganzen Körper der Schweiß ausbrach. Sein rechter Daumen begann zu jucken wie ein lepröses Glied. Er berührte ihn kurz und zog die Hand mit einem entsetzten Aufschrei zurück. Da war nichts vom Trost menschlicher Berührung. Eher noch fühlte er schuppige Kälte einer abgelegten Schlangenhaut.
Fast panisch, wie ein Herkules im Nesselhemd, riß und kratzte er an dem leblosen fremden Ding, das sein Daumen war.
Das Tuch glitt herab. Es war vorüber. Mit sprachlosem Grimm wandte er den Kopf von dem Gummidaumen, der zerfetzt zu seinen Füßen lag. Das also war seine Bedeutung? Er schob ein Tuch in einen falschen Finger? Was fuhr da fort, aus ihm zu werden? Ein Täuscher, Taschenspieler, Spiegelfechter? Worte, Blicke, Gesten - Zeichen ohne Deutung, Irrlichter im Nebel, verhängnisvolle Winke in eine Welt, die es nicht gab.
Alles um ihn herum verwandelte sich, nicht sichtbar, noch weniger sagbar; etwas strömte aus den Dingen heraus wie der letzte Odem aus belebtem Leib, sie verarmten, entleerten sich, verloren an Glanz, an Kraft, an Farbe. Sinnlos fuhr er mit den Händen durch die Luft, versuchte das Unfaßbare zu fassen, zu halten, und jeder vergebliche Griff bestätigte nur das, was nicht sein durfte: Dass da nichts war. Das schlimmste aber war die Stille, in der dies alles vor sich ging - es hätte Brausen, Heulen, Toben geben müssen, Zeugen eines Sturmes, der die ganze Welt fortwehte. Doch jeder solche Laut gehörte schon selbst in die gebannte jenseitige Sphäre, in die sich die Möglichkeit, den Augenblick als ein Geschehen, als Entzug von etwas zu betrachten, fest eingeschlossen hatte. Die kunstvollen Artefakte der Magie erschlafften zu hölzernen Möbelstücken. Und im Zentrum der Dekompression kniete der Entzauberte, mit ausgestreckten Händen und halboffenem Mund, gleich als wolle er um Frist und Aufschub flehen, während er hilflos zusah, wie die Magie aus seinem Leben wich.
Als er sich zitternd erhob, war er nur noch ein Junge im elektrischen Licht, der mit nackten Füßen auf verleimten Dielen stand, mit der Nase in Richtung hin auf einen dunklen Raum mit vielen leeren Stühlen.
Einen kurzen Augenblick lang wünschte er sich nichts sehnlicher, als wieder dort sitzen zu können, mit baffem Blick des Meisters Streichen folgend. Glückselig waren die Tage der Unwissenheit, die Loge ein verlorenes Paradies! Verloren, weil die Sicht zu schärfen schwierig, doch sie wieder zu verlieren ganz unmöglich war. Das Raunen der Dichter, die Possen der Gaukler, die Schliche der Mimen, das polternde Tosen und verhaltene Klagen der Orchester - sie alle offenbarten einen Zauber, eine Leere, mit einem Blick durchsah er jedes Blendwerk bis auf seinen Grund. Vor die Kulissen führte kein Weg zurück.
Noch in derselben Nacht nahm er Abschied von der Stätte seiner Kindheit, vom Alten, dem Bruder und der schönen Hystria. Die Mäuse, welche ihr zum Futter dienten, dauerten ihn plötzlich und er ließ sie frei. Seine wenige Habe schlug er heimlich in ein Bündel und lud es auf die Schulter. Dann verließ er den Zirkel. Er schritt an dem hölzernen Riesen vorbei den Pfad hinunter, bis er die Mauer erreichte. Ohne sich noch einmal umzudrehen, öffnete er das Gatter und trat in die Stadt hinaus.
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Kunst der Enttäuschung&Kindheit eines Entzauberers-DZusG II
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