Der Zauberer und sein Gegenteil - DZusG I
Verfasst: 28.12.2009, 18:56
Liebe Salonler,
hier meine diesjährige "Weihnachtsgeschichte". Sie ist mit ca. 40 Wordseiten leider zu lang geworden, um sie als ganzes einzustellen und zu besprechen - daher habe ich mich entschlossen, sie allmählich und abschnittsweise zu präsentieren.
Ich wäre aber natürlich sehr erfreut, wenn jemand den ganzen Text lesen und kommentieren würde. Interessenten schicke ich die Geschichte gerne per E-mail.
Liebe Grüße
Merlin
Prolog
Der Alte schloß die Tür hinter sich und ließ sich auf einen mächtigen Sessel fallen, dessen Lehne ihn um ein Vielfaches überragte. Dann kostete er ausgiebig von der gespannten Stille. In der Mitte des Raumes stand ein hölzerner Tisch, die Wände säumten Regale, deren Bretter sich unter dem Gewicht unzähliger Bücher und Schriftrollen bogen.
Im gedämpften Licht zitternder Kerzenflammen wirkten die Konturen und Schatten irgendwie unscharf, vorläufig. Auf dem Boden zu seinen Füßen saßen seine beiden Schüler, denen er ein Vater und die einander Brüder waren. Mit neugierigen Blicken sahen sie zu ihm empor. Ein Lächeln huschte durch seine faltigen Züge. Schließlich strich er sich über den Bart und begann zu sprechen.
"Wer sich dem Wesen der Magie zu nähern wünschte, der lerne zu bedenken, daß jedes Ding stets einen Teil unseres Wünschens und Wollens in sich trägt. Die Welt ist nicht von ihrer Deutung abzulösen. Zauberei ist jene hohe Kunst, Deutungen zu schaffen und die Dinge in ihr Licht zu rücken. Einerlei, ob sie zur Bewahrung eines Volkes oder "bloß" vergnüglichen Zwecken dient:
Magie offenbart die Welt als eine Menschliche.
Es gibt ein Stück im Leben eines Magiers, das seinem Leben wie ein Fluchtpunkt Richtung und Prägung gibt. Sein ganzes Schaffen wird sich daran messen, ihn zu erreichen: Den größten Zauber. Worin er besteht? Niemand kann das sagen. Er ist dem Magier ins Wesen gelegt. Der Zauber wählt den Magier und ergreift von ihm Besitz, lange ehe dieser etwas davon ahnt. Ihn ändern zu wollen ist aussichtslos. Es kommt nur darauf an, ihn zu erkennen und sich klar vor Augen zu führen. Deswegen seid ihr hier. Am Pult dort hinten findet ihr Feder, Tusche und Papier. Setzt euch dort nieder, schreibt, bis er gefunden ist - eher erhebt euch nicht, und wenn es Stunden und Tage kostet.
Wenn ihr geendet habt, zeichnet das Papier mit eurem Namen. Damit werdet ihr Mitglieder des Zirkels und besiegelt eure Bruderschaft. Erwägt mit Ruhe und bedenkt: Diese Entscheidung trefft ihr auf immer. Blut lässt sich verleugnen, doch unauflösbar sind die Bande des Zirkels "
Die Knaben nickten stumm. Gehorsam traten sie an das Pult heran, nahmen die Federn zur Hand und begannen zu schreiben.
Gnadenakt
Die Berge schwiegen. Zwischen den Gipfeln war kein Laut außer dem Knirschen des Schnees unter schweren Stiefeln und dem keuchenden Atem, der, sobald er den Mund verließ, zu Nebel gerann. In einer Reihe kämpfte sich die Gemeinschaft vorwärts über den schmalen Bergpfad, sieben Schatten und ein Kind.
Der Junge lief in der Mitte. Seine goldblonden Locken waren mit Eiskristallen verklebt und zu steifen Blöcken erstarrt, die er sich alle paar Schritte aus der Stirn strich. Seine rechte Hand lag in einer Linken, die aus dem Ärmel einer weiten, grauen Kutte hervor schaute. Bodenlang, die Kapuze tief über der Stelle, wo ein Gesicht sein sollte, wölbte das Leinen sich unter der Brise, die lautlos um die Felsen schlich. Ihnen voraus schritten drei schwarze Kutten, drei rote folgten ihnen.
Es ist unbegreiflich, wie es uns unter diesen Umständen gelingen kann, zum Inneren der Verhüllten durchzudringen. Ihre Augen, Hände und Leiber sind unsichtbar, mehr aus Gewohnheit erraten als wahrgenommen. Sind es die bockenden Schultern, die sich nicht recht in den Gang fügen und eher zurück als vor zu wollen scheinen, ist es das nahezu unmerkliche Zittern unter dem Ärmel, die wie unter dem Auge eines strengen Vaters geduckte Haltung? Nichts davon hält einer Prüfung des Verstandes stand - die Kälte und die Mühen ihres Weges geben jedem guten Grund, sich klein zu machen. Und doch - ein flüchtiges Hinsehen genügt, um die Qualen der Überwindung zu ahnen, die jeder Schritt den Grauen kostet.
Er setzte seine Füße mit Bedacht, zögernd, tastend, als hoffe er, er könne es vermeiden, eine Fußspur hinter sich zu lassen. Mit jedem Schritt sank er tiefer ein. Der Weg war mühevoll - und doch ein leichtes im Vergleich dazu, was er auf dem Rückweg würde tragen müssen. Eine Gewissenslast, vor der selbst die Tiefen von Rausch und Schlaf der Seele keine Zuflucht boten und für die man ihn jagen würde, wohin er auch ging. Dennoch war es undenkbar, sich dem unbarmherzigen Zwang des Unvermeidlichen zu widersetzen. Daß Ausweg und Umkehr stets offen standen, war törichter Kinderglaube. Der Weltenbau war alles andere als sittlich, und meistens waren alle Möglichkeiten falsch.
Es gab Dinge, die trotz alledem getan werden mußten. Er straffte seine Haltung. Die letzten Kilometer ging er aufrecht und bot dem fliegenden Schnee trotzig die Stirn. Als sie am Felsen Gâl-garoth anlangten, verrichtete er die nötigen Handgriffe ohne sichtbare Rührung mit kalter, mechanischer Präzision. Erst als das Ritual begann, drang ihm die Szenerie in ihrer Gänze wieder ins Bewußtsein.
Der Junge hatte die Augen in den grau verhangenen Himmel gerichtet und murmelte etwas. Davon abgesehen lag er völlig ruhig. Die sichere Gewißheit des nahenden Endes schien ihn nicht zu kümmern. Weder stemmte er sich gegen die Fesseln, noch suchte er sich dem Schnitt zu entziehen, der als bevorstehend derart greifbar-drohend von der Klinge über ihm durch seine Kehle führte, daß er jede Gegenwart an Substanz und Dichte übertraf. Er war stark. Und das mußte er auch sein. Seine Aufgabe war ungeheuer. Opfer wurde man nicht von ungefähr.
Eine der schwarzen Gestalten holte eine Feder und ein Stück Pergament hervor, dann hielt sie ihr Ohr an den Mund des Kindes, um, wie es der Kult verlangte, des Opfers letzte Worte für die Nachwelt festzuhalten. Der Knabe beachtete ihn nicht. Als sähe er durch Mann und Kutte hindurch, blieb sein Fokus auf einen Punkt geheftet, der so fern war, daß Schmerz und Angst ihn nicht erreichen konnten.
"Rette mich." Flüsterte er mit zitternder, flehender Stimme. "Rette mich. Noch ist es nicht zu spät."
Die Gestalt notierte und trat zurück. Es war so weit. Der Graue faßte die Steinklinge mit beiden Händen und hielt sie, die Spitze nach unten, hoch über den Kopf.
Als habe er Magie gewirkt, brach da von allen Seiten ein Tosen los wie von einem gewaltigen Wasser, das aus großer Höhe fällt. Der Kuttenträger ließ die Waffe sinken und sah sich erschrocken um. "Lawine!" schrie einer der Roten. "Stoß zu, bevor es zu spät ist! Stoß zu! Wir haben..." Den Rest des Ausrufs verschluckte der weiße Malstrom, als er von allen Seiten zugleich über sie hereinbrach, und begrub ihn mit dem Rufenden unter einer dicken Schicht von Schnee und Eis.
Hier steht Teil II:
viewtopic.php?f=1&t=10295
hier meine diesjährige "Weihnachtsgeschichte". Sie ist mit ca. 40 Wordseiten leider zu lang geworden, um sie als ganzes einzustellen und zu besprechen - daher habe ich mich entschlossen, sie allmählich und abschnittsweise zu präsentieren.
Ich wäre aber natürlich sehr erfreut, wenn jemand den ganzen Text lesen und kommentieren würde. Interessenten schicke ich die Geschichte gerne per E-mail.
Liebe Grüße
Merlin
Prolog
Der Alte schloß die Tür hinter sich und ließ sich auf einen mächtigen Sessel fallen, dessen Lehne ihn um ein Vielfaches überragte. Dann kostete er ausgiebig von der gespannten Stille. In der Mitte des Raumes stand ein hölzerner Tisch, die Wände säumten Regale, deren Bretter sich unter dem Gewicht unzähliger Bücher und Schriftrollen bogen.
Im gedämpften Licht zitternder Kerzenflammen wirkten die Konturen und Schatten irgendwie unscharf, vorläufig. Auf dem Boden zu seinen Füßen saßen seine beiden Schüler, denen er ein Vater und die einander Brüder waren. Mit neugierigen Blicken sahen sie zu ihm empor. Ein Lächeln huschte durch seine faltigen Züge. Schließlich strich er sich über den Bart und begann zu sprechen.
"Wer sich dem Wesen der Magie zu nähern wünschte, der lerne zu bedenken, daß jedes Ding stets einen Teil unseres Wünschens und Wollens in sich trägt. Die Welt ist nicht von ihrer Deutung abzulösen. Zauberei ist jene hohe Kunst, Deutungen zu schaffen und die Dinge in ihr Licht zu rücken. Einerlei, ob sie zur Bewahrung eines Volkes oder "bloß" vergnüglichen Zwecken dient:
Magie offenbart die Welt als eine Menschliche.
Es gibt ein Stück im Leben eines Magiers, das seinem Leben wie ein Fluchtpunkt Richtung und Prägung gibt. Sein ganzes Schaffen wird sich daran messen, ihn zu erreichen: Den größten Zauber. Worin er besteht? Niemand kann das sagen. Er ist dem Magier ins Wesen gelegt. Der Zauber wählt den Magier und ergreift von ihm Besitz, lange ehe dieser etwas davon ahnt. Ihn ändern zu wollen ist aussichtslos. Es kommt nur darauf an, ihn zu erkennen und sich klar vor Augen zu führen. Deswegen seid ihr hier. Am Pult dort hinten findet ihr Feder, Tusche und Papier. Setzt euch dort nieder, schreibt, bis er gefunden ist - eher erhebt euch nicht, und wenn es Stunden und Tage kostet.
Wenn ihr geendet habt, zeichnet das Papier mit eurem Namen. Damit werdet ihr Mitglieder des Zirkels und besiegelt eure Bruderschaft. Erwägt mit Ruhe und bedenkt: Diese Entscheidung trefft ihr auf immer. Blut lässt sich verleugnen, doch unauflösbar sind die Bande des Zirkels "
Die Knaben nickten stumm. Gehorsam traten sie an das Pult heran, nahmen die Federn zur Hand und begannen zu schreiben.
Gnadenakt
Die Berge schwiegen. Zwischen den Gipfeln war kein Laut außer dem Knirschen des Schnees unter schweren Stiefeln und dem keuchenden Atem, der, sobald er den Mund verließ, zu Nebel gerann. In einer Reihe kämpfte sich die Gemeinschaft vorwärts über den schmalen Bergpfad, sieben Schatten und ein Kind.
Der Junge lief in der Mitte. Seine goldblonden Locken waren mit Eiskristallen verklebt und zu steifen Blöcken erstarrt, die er sich alle paar Schritte aus der Stirn strich. Seine rechte Hand lag in einer Linken, die aus dem Ärmel einer weiten, grauen Kutte hervor schaute. Bodenlang, die Kapuze tief über der Stelle, wo ein Gesicht sein sollte, wölbte das Leinen sich unter der Brise, die lautlos um die Felsen schlich. Ihnen voraus schritten drei schwarze Kutten, drei rote folgten ihnen.
Es ist unbegreiflich, wie es uns unter diesen Umständen gelingen kann, zum Inneren der Verhüllten durchzudringen. Ihre Augen, Hände und Leiber sind unsichtbar, mehr aus Gewohnheit erraten als wahrgenommen. Sind es die bockenden Schultern, die sich nicht recht in den Gang fügen und eher zurück als vor zu wollen scheinen, ist es das nahezu unmerkliche Zittern unter dem Ärmel, die wie unter dem Auge eines strengen Vaters geduckte Haltung? Nichts davon hält einer Prüfung des Verstandes stand - die Kälte und die Mühen ihres Weges geben jedem guten Grund, sich klein zu machen. Und doch - ein flüchtiges Hinsehen genügt, um die Qualen der Überwindung zu ahnen, die jeder Schritt den Grauen kostet.
Er setzte seine Füße mit Bedacht, zögernd, tastend, als hoffe er, er könne es vermeiden, eine Fußspur hinter sich zu lassen. Mit jedem Schritt sank er tiefer ein. Der Weg war mühevoll - und doch ein leichtes im Vergleich dazu, was er auf dem Rückweg würde tragen müssen. Eine Gewissenslast, vor der selbst die Tiefen von Rausch und Schlaf der Seele keine Zuflucht boten und für die man ihn jagen würde, wohin er auch ging. Dennoch war es undenkbar, sich dem unbarmherzigen Zwang des Unvermeidlichen zu widersetzen. Daß Ausweg und Umkehr stets offen standen, war törichter Kinderglaube. Der Weltenbau war alles andere als sittlich, und meistens waren alle Möglichkeiten falsch.
Es gab Dinge, die trotz alledem getan werden mußten. Er straffte seine Haltung. Die letzten Kilometer ging er aufrecht und bot dem fliegenden Schnee trotzig die Stirn. Als sie am Felsen Gâl-garoth anlangten, verrichtete er die nötigen Handgriffe ohne sichtbare Rührung mit kalter, mechanischer Präzision. Erst als das Ritual begann, drang ihm die Szenerie in ihrer Gänze wieder ins Bewußtsein.
Der Junge hatte die Augen in den grau verhangenen Himmel gerichtet und murmelte etwas. Davon abgesehen lag er völlig ruhig. Die sichere Gewißheit des nahenden Endes schien ihn nicht zu kümmern. Weder stemmte er sich gegen die Fesseln, noch suchte er sich dem Schnitt zu entziehen, der als bevorstehend derart greifbar-drohend von der Klinge über ihm durch seine Kehle führte, daß er jede Gegenwart an Substanz und Dichte übertraf. Er war stark. Und das mußte er auch sein. Seine Aufgabe war ungeheuer. Opfer wurde man nicht von ungefähr.
Eine der schwarzen Gestalten holte eine Feder und ein Stück Pergament hervor, dann hielt sie ihr Ohr an den Mund des Kindes, um, wie es der Kult verlangte, des Opfers letzte Worte für die Nachwelt festzuhalten. Der Knabe beachtete ihn nicht. Als sähe er durch Mann und Kutte hindurch, blieb sein Fokus auf einen Punkt geheftet, der so fern war, daß Schmerz und Angst ihn nicht erreichen konnten.
"Rette mich." Flüsterte er mit zitternder, flehender Stimme. "Rette mich. Noch ist es nicht zu spät."
Die Gestalt notierte und trat zurück. Es war so weit. Der Graue faßte die Steinklinge mit beiden Händen und hielt sie, die Spitze nach unten, hoch über den Kopf.
Als habe er Magie gewirkt, brach da von allen Seiten ein Tosen los wie von einem gewaltigen Wasser, das aus großer Höhe fällt. Der Kuttenträger ließ die Waffe sinken und sah sich erschrocken um. "Lawine!" schrie einer der Roten. "Stoß zu, bevor es zu spät ist! Stoß zu! Wir haben..." Den Rest des Ausrufs verschluckte der weiße Malstrom, als er von allen Seiten zugleich über sie hereinbrach, und begrub ihn mit dem Rufenden unter einer dicken Schicht von Schnee und Eis.
Hier steht Teil II:
viewtopic.php?f=1&t=10295