Maxopolis
Verfasst: 14.10.2009, 22:15
Ein weiterer Abend liegt über der Stahlkonstruktion der Brücke, auf der er das letzte Stück Weg nach Hause geht. Unter seinen Füßen pumpt das Herz der Stadt rote Züge mit den letzten verbrauchten Arbeitskräften in die Peripherie. Im kitschig goldenen Spätsommerabendlicht sehen selbst die Fassaden der Bürotürme und Fabrikgebäude aus wie frisch gewaschen und geschminkt, als wollten sie mit dem intensiven Grün konkurrieren, das sich überall um Beton und blanken Stahl rankt. Würdevoll blicken Baukräne in allen Teilen der Stadt auf ihr Tagewerk herab, erwarten schon jetzt ungeduldig den nächsten Arbeitstag, der riesige Bohrer einer späten Baustelle lässt noch ein letztes Mal den Grund um sich herum vibrieren. Die Autos, deren Motorhauben nur mit Mühe die unter ihnen angestaute Energie bändigen, schleichen wie sprungbereite Raubtiere durch den Feierabendverkehr. Die Atmosphäre legt ihm ein angenehmes Kribbeln auf die Haut wie eine sanfte Massage.
Zu Hause angekommen, beobachtet er während des Abendessens, wie sich die Stadt wieder mit ihrer orangefarbenen Leuchtkuppel vom dunklen Nachthimmel abschirmt, ein einziges großes Gewächshaus. Sie selbst begibt sich zur Ruhe, in ihren unruhigen Träumen aber spielen die, die mit der Nacht an sich nichts anfangen können und sie daher zu einer anderen Form des Tages machen müssen, ihre seltsamen Spiele. Ein leises Surren liegt in der Luft wie von überlasteten Hochspannungsleitungen, nylonschweißnasse Erregung lässt die kunterbunten Oberflächen all jener glitzern, die möglicherweise keine Ahnung davon haben, wie sie in kühlem Mondlicht aussähen. Im Grunde mag er es schon, das Gefühl, nachts durch eine riesenhafte Halle zu wandeln, in der es nur regnet, wenn jemand die Bewässerungsanlage einschaltet. Kann sich nicht sattsehen an den unzähligen Erscheinungsformen des Menschen, jeden Tag, jede Nacht gibt es neue zu entdecken, stolpert er über bislang ungestellte Fragen. Warum viele es immer so eilig haben, als müssten sie übermorgen schon erreichen, bevor heute zu Ende ist. Warum die Luft an manchen Tagen die Häuser so nah zusammenschiebt, dass einem beinahe der Atem wegbleibt. Ob jeder einen privaten Engel in Menschengestalt hat und ob er seinem womöglich schon begegnet ist, die Wahrscheinlichkeit ist hoch (der grauhaarige Mann in dem verwaschenen grünen Kapuzenpulli, dem er jetzt schon dreimal begegnet ist, den hat er in Verdacht, er weiß nur nicht, warum). In diesen Momenten ist er froh, dass ihn die Dorfangst hierher getrieben hat. Die Panik, die ihn ergriffen hat in dieser kleinen alten Siedlung, die versuchte, ihren verstaubten Kern hinter einem Mantel aus steriler Glas-und-Beton-Hässlichkeit zu verstecken, sich ein Industriegebiet vor die Tür stellte und sich damit der Großstadt näher glaubte, obwohl im obligatorischen Club stets nur die gleiche Handvoll bekannter Jungsäufer zu finden war und rundherum nur flache Ödnis herrschte, am Horizont das einschläfernde Rauschen der Autobahn. Und drinnen immer nur dieselben Gesichter, über Generationen hinweg, wer neu zuzog, war Jungfamilie und siedelte sich im unpersönlichen und völlig autarken Neubaugebiet an. Wer von den Alteinwohnern nicht wegzog oder wegstarb, begann zu schimmeln, im Gegensatz zu den alten Gebäuden wurden sie nicht restauriert.
Doch, eigentlich ist hier in der Stadt fast alles so, wie er es sich erträumt hat. Er hatte es sich nur einfacher vorgestellt, hier jemanden kennenzulernen, wirklich kennenzulernen, jemanden, bei dem er endlich das Gefühl haben kann, dass er zu ihm passt. Jemanden, der dafür gemacht ist, die zweite Hälfte meines Doppelbettes auszufüllen, denkt er noch, während er sich in selbigem umdreht und einschläft.
Der neue Morgen ragt durch das Küchenfenster herein und legt sich über den Frühstückstisch. Es ist ein Morgen von extremer Klarheit, scharf umrissen, die Gerüche von Abgasen und Küchenfett mit einer frischen Portion Luft angerührt. Doch etwas ist anders, eine Winzigkeit nur, aber eine entscheidende. Er braucht einen Moment, bis ihm klar wird, was es ist: Die Geräuschtapete im Hintergrund hat sich verändert, ist ein wenig anders moduliert als sonst, fast hat er den Eindruck, die Stadt singe. Was für ein Blödsinn, denkt er sich, die Stadt und singen, ich muss mein Gehör justieren lassen. Und doch kann er sich eines seltsamen Gefühls nicht erwehren, als er sich schließlich auf den Weg zur Arbeit macht, die gleiche Strecke wie jeden Tag, irgendwie ist es anders, ohne dass er genau sagen könnte, wie. Unterwegs macht er wie immer in der Bäckerei Halt, um ein Brötchen für die Kaffepause zu kaufen. „Spüren Sie das auch?“, fragt er die Verkäuferin, die ihn mittlerweile schon kennt, naja, zumindest weiß sie, dass er jeden Wochentag um dieselbe Zeit ein Brötchen bei ihr kauft. „Was?“ – „Irgendetwas ... naja, irgendetwas ist anders heute, finden Sie nicht auch?“ – „Tut mir leid, hab noch nix bemerkt.“ Sie lächelt freundlich wie immer, aber bestimmt hält sie ihn insgeheim für verrückt. Möglicherweise zu Recht; als er in die nächste Straße einbiegt, wölbt sich mit einem Mal der Gehsteig vor ihm um mindestens einen halben Meter nach oben, und nicht nur das, auch die Häuser am Straßenrand klaffen nach beiden Seiten des Hügels auseinander. Die Feststellung allein wäre eigentlich ausreichend, ihn vollends an sich zweifeln zu lassen, doch was es noch schlimmer macht, ist, dass sich außer ihm niemand darüber zu wundern scheint. Als sei es etwas völlig Alltägliches, dass sich mitten in der Stadt Riesenbeulen in der Straße bilden, gehen sie, offenbar ohne größere Anstrengung, darüber hinweg. Oder bemerken sie es gar nicht? Ist es vielleicht wirklich nur er? Naja, zumindest für das Fernsehprogramm wäre das ein Segen, es bedeutete: keine Nachrichten-Sondersendungen, kein Doku-Drama „Die Beule – Eine Stadt in Angst“, kein Buch zum Film, kein Spiel zum Buch ... Schaudernd bricht er den Gedankengang ab und geht weiter. Die Menschen um ihn herum erinnern ihn wieder einmal an einen großen Fischschwarm, sie schwimmen jeder seiner Wege, ohne einander offenbar großartig zu beachten, sie kollidieren nicht miteinander, berühren einander auch absichtlich nur selten, und wenn es eine unsichtbare Macht befiehlt, wechselt der gesamte Schwarm synchron die Richtung. Veränderungen in ihrer Umgebung nehmen sie gleichmütig hin, solange man drumherum schwimmen kann. Und auch der Hai, der in einigem Abstand seine Bahnen zieht, scheint bedeutungslos, so lange er nicht angreift. Der Hai, das ist er selbst, ein zahnloser allerdings ...
Widerwillig schüttelt er sich auch diese schuppigen Gedanken aus dem Kopf, als er jetzt doch mehr gehend als majestätisch schwimmend durch die langen Gänge auf sein Büro zusteuert. Beinahe wäre er mit einer Frau zusammengestoßen, die sich durch das Stockwerk bewegt, als gehöre sie hierher, obgleich er sie noch nie gesehen hat. „Hoppla“, sagt sie und lächelt, definitiv keine Fischaugen, eher Katze, also gefährlich, honigbrauner Fellglanz, windet sich, ihn immer noch anlächelnd, geschmeidig um ihn herum und ist schon verschwunden. Menschen, die „Hoppla“ sagen, findet er normalerweise dämlich, und wäre dies eine Kriminalgeschichte im Fernsehen, so denkt er, und er der Kommissar, dann würde sie sich mit absoluter Sicherheit am Schluss als Verbrecherin entpuppen. Es ist immer so.
Ein bisschen viel für einen Morgen, das alles. Eigentlich fühlt er sich arbeitsunfähig, doch das macht ohnehin keinen großen Unterschied, Zahlen und Buchstaben wissen mittlerweile selber, was sie zu tun haben. Während sie sich im Hintergrund zu Standardschreiben zusammensetzen, verlangt die Watte in seinem Schädel danach, im Internet das Verhältnis zwischen Katzen und Haien zu ergründen, findet, mangels Überschneidung der natürlichen Lebensräume, nur Katzenhaie und sagt sich, auch gut, nur kleine Fische zwar, aber warum nicht. Die Internetseite der Stadtverwaltung ist noch weniger hilfreich, keine Hinweise auf eine millionenteure Überarbeitung des Klangdesigns oder die systematische Einführung von Straßenbeulen aus einem sehr guten Grund, auch keinerlei Meldung über seltsame Unglücksfälle oder dergleichen. Die Mittagspause verbringt er in seinem Büro, dort glaubt er sich sicher im Moment, noch scheint sich hier nichts Unerklärliches ereignen zu wollen. Er fühlt sich wirr im Kopf, doch erstaunlicherweise zugleich auch seltsam gut.
Ehe er am Abend sein Büro verlässt, atmet er tief. Aber er hat ja keine Wahl, was immer ihm auf dem Heimweg begegnen mag, er muss da durch, und wenn er dann zu Hause ankommt, ist er erst einmal in Sicherheit. Hofft er. Und dann ist Wochenende. Zwei Tage, an denen er seine Wohnung gar nicht verlassen muss. Das macht Mut.
Der erste Teil des Weges ist unauffällig. So sehr er auch aufpasst, nichts Außergewöhnliches in Sicht. Lediglich der Klang der Stadt ist noch der von heute morgen, sogar noch ein wenig intensiver, oder täuscht er sich, egal, er wird sich daran gewöhnen. Als er an die entscheidende Stelle kommt, die Ecke jener Straße, in der er am Morgen die Beule gesehen hat, bleibt er kurz stehen. Du musst dich einfach ganz normal verhalten, versucht er sich zu überzeugen, vielleicht warst du ja heute früh ein bisschen überdreht und hast dir das wirklich nur eingebildet. Noch einmal tief atmen, ein Schritt vorwärts, der erste Blick in die Straße, und – nichts. Völlig entspannt und unschuldig ruht sie vor ihm, nicht einmal eine winzige Schwellung ist zu sehen. Erleichtert beschleunigt er seinen Schritt, betrachtet im Vorbeigehen die aufgereihten Häuser und traut seinen Augen schon wieder nicht: Zwischen jenen zwei Häusern, die am Morgen beidseits der Beule auseinandergeklafft haben, steht ein komplettes neues fünfstöckiges Wohnhaus, in einem zarten Beige gestrichen und auch vom Stil her mit den anderen in völliger Harmonie. Kein Rohbau oder Ähnliches, sondern fertig und bewohnt, durch die Fenster erkennt er Zimmereinrichtungen, Menschen, die sich darin bewegen, vor der Tür stehen Fahrräder, ein Frau sperrt auf und trägt ihre Einkäufe hinein, als sei sie es seit Jahren so gewohnt. Das nächste, was er wahrnimmt, ist ein dumpfer Schlag gegen die Stirn und tiefste Finsternis. Alles klar, denkt er, also doch ein Komplettabsturz des Zentralnervensystems, und lässt sich beruhigt fallen. Die Welt ist in Ordnung, bei ihm ist die Sicherung raus, eine völlig harmlose Erklärung für alles, und das Schweben ist wundervoll ...
„Was ist wundervoll?“ Eigentlich hat er nicht vor, sich in diesem äußerst angenehmen Zustand durch Fragen belästigen zu lassen, doch der Klang der Stimme zwingt seine Augenlider auseinander. Über ihm die Katzenaugen. „Ist alles in Ordnung?“ – „Ich bin mir nicht sicher ...“ Wie kommt die Katze in sein Aquarium? – „Sie sind gegen einen Laternenpfahl gelaufen. Übrigens, ich heiße Katja Löw, wir haben einander heute morgen ja gar nicht vorgestellt.“ – „Oh, sehr erfreut ... Max Kiemer ... glaube ich ...“ Irgendwie ist das zehnmal besser als Betrunkensein. Könnte er öfter haben. – „Möchten Sie vielleicht erst einmal mit zu mir kommen, bis Sie sich sicher sind, wie es Ihnen geht? Ich wohne gleich hier. Dann können wir auch etwas gegen ihre Beule tun.“ Erst jetzt bemerkt er, dass sein Kopf schmerzt. „Meine Beule ...“ Er kann sich ein Grinsen nicht verkneifen. Jetzt also er selbst. Sein Blick folgt ihrem Zeigefinger, der direkt auf das neu gewachsene Haus weist. „Sie wohnen wirklich ... da drin?“ – „Ja, wieso? Kommen Sie.“ Und während er mit ihrer Hilfe aufsteht und zu dem Haus hinübergeht, hat er verstanden. Auf einen Schlag hat er alles verstanden.
©ACAM 2007
Zu Hause angekommen, beobachtet er während des Abendessens, wie sich die Stadt wieder mit ihrer orangefarbenen Leuchtkuppel vom dunklen Nachthimmel abschirmt, ein einziges großes Gewächshaus. Sie selbst begibt sich zur Ruhe, in ihren unruhigen Träumen aber spielen die, die mit der Nacht an sich nichts anfangen können und sie daher zu einer anderen Form des Tages machen müssen, ihre seltsamen Spiele. Ein leises Surren liegt in der Luft wie von überlasteten Hochspannungsleitungen, nylonschweißnasse Erregung lässt die kunterbunten Oberflächen all jener glitzern, die möglicherweise keine Ahnung davon haben, wie sie in kühlem Mondlicht aussähen. Im Grunde mag er es schon, das Gefühl, nachts durch eine riesenhafte Halle zu wandeln, in der es nur regnet, wenn jemand die Bewässerungsanlage einschaltet. Kann sich nicht sattsehen an den unzähligen Erscheinungsformen des Menschen, jeden Tag, jede Nacht gibt es neue zu entdecken, stolpert er über bislang ungestellte Fragen. Warum viele es immer so eilig haben, als müssten sie übermorgen schon erreichen, bevor heute zu Ende ist. Warum die Luft an manchen Tagen die Häuser so nah zusammenschiebt, dass einem beinahe der Atem wegbleibt. Ob jeder einen privaten Engel in Menschengestalt hat und ob er seinem womöglich schon begegnet ist, die Wahrscheinlichkeit ist hoch (der grauhaarige Mann in dem verwaschenen grünen Kapuzenpulli, dem er jetzt schon dreimal begegnet ist, den hat er in Verdacht, er weiß nur nicht, warum). In diesen Momenten ist er froh, dass ihn die Dorfangst hierher getrieben hat. Die Panik, die ihn ergriffen hat in dieser kleinen alten Siedlung, die versuchte, ihren verstaubten Kern hinter einem Mantel aus steriler Glas-und-Beton-Hässlichkeit zu verstecken, sich ein Industriegebiet vor die Tür stellte und sich damit der Großstadt näher glaubte, obwohl im obligatorischen Club stets nur die gleiche Handvoll bekannter Jungsäufer zu finden war und rundherum nur flache Ödnis herrschte, am Horizont das einschläfernde Rauschen der Autobahn. Und drinnen immer nur dieselben Gesichter, über Generationen hinweg, wer neu zuzog, war Jungfamilie und siedelte sich im unpersönlichen und völlig autarken Neubaugebiet an. Wer von den Alteinwohnern nicht wegzog oder wegstarb, begann zu schimmeln, im Gegensatz zu den alten Gebäuden wurden sie nicht restauriert.
Doch, eigentlich ist hier in der Stadt fast alles so, wie er es sich erträumt hat. Er hatte es sich nur einfacher vorgestellt, hier jemanden kennenzulernen, wirklich kennenzulernen, jemanden, bei dem er endlich das Gefühl haben kann, dass er zu ihm passt. Jemanden, der dafür gemacht ist, die zweite Hälfte meines Doppelbettes auszufüllen, denkt er noch, während er sich in selbigem umdreht und einschläft.
Der neue Morgen ragt durch das Küchenfenster herein und legt sich über den Frühstückstisch. Es ist ein Morgen von extremer Klarheit, scharf umrissen, die Gerüche von Abgasen und Küchenfett mit einer frischen Portion Luft angerührt. Doch etwas ist anders, eine Winzigkeit nur, aber eine entscheidende. Er braucht einen Moment, bis ihm klar wird, was es ist: Die Geräuschtapete im Hintergrund hat sich verändert, ist ein wenig anders moduliert als sonst, fast hat er den Eindruck, die Stadt singe. Was für ein Blödsinn, denkt er sich, die Stadt und singen, ich muss mein Gehör justieren lassen. Und doch kann er sich eines seltsamen Gefühls nicht erwehren, als er sich schließlich auf den Weg zur Arbeit macht, die gleiche Strecke wie jeden Tag, irgendwie ist es anders, ohne dass er genau sagen könnte, wie. Unterwegs macht er wie immer in der Bäckerei Halt, um ein Brötchen für die Kaffepause zu kaufen. „Spüren Sie das auch?“, fragt er die Verkäuferin, die ihn mittlerweile schon kennt, naja, zumindest weiß sie, dass er jeden Wochentag um dieselbe Zeit ein Brötchen bei ihr kauft. „Was?“ – „Irgendetwas ... naja, irgendetwas ist anders heute, finden Sie nicht auch?“ – „Tut mir leid, hab noch nix bemerkt.“ Sie lächelt freundlich wie immer, aber bestimmt hält sie ihn insgeheim für verrückt. Möglicherweise zu Recht; als er in die nächste Straße einbiegt, wölbt sich mit einem Mal der Gehsteig vor ihm um mindestens einen halben Meter nach oben, und nicht nur das, auch die Häuser am Straßenrand klaffen nach beiden Seiten des Hügels auseinander. Die Feststellung allein wäre eigentlich ausreichend, ihn vollends an sich zweifeln zu lassen, doch was es noch schlimmer macht, ist, dass sich außer ihm niemand darüber zu wundern scheint. Als sei es etwas völlig Alltägliches, dass sich mitten in der Stadt Riesenbeulen in der Straße bilden, gehen sie, offenbar ohne größere Anstrengung, darüber hinweg. Oder bemerken sie es gar nicht? Ist es vielleicht wirklich nur er? Naja, zumindest für das Fernsehprogramm wäre das ein Segen, es bedeutete: keine Nachrichten-Sondersendungen, kein Doku-Drama „Die Beule – Eine Stadt in Angst“, kein Buch zum Film, kein Spiel zum Buch ... Schaudernd bricht er den Gedankengang ab und geht weiter. Die Menschen um ihn herum erinnern ihn wieder einmal an einen großen Fischschwarm, sie schwimmen jeder seiner Wege, ohne einander offenbar großartig zu beachten, sie kollidieren nicht miteinander, berühren einander auch absichtlich nur selten, und wenn es eine unsichtbare Macht befiehlt, wechselt der gesamte Schwarm synchron die Richtung. Veränderungen in ihrer Umgebung nehmen sie gleichmütig hin, solange man drumherum schwimmen kann. Und auch der Hai, der in einigem Abstand seine Bahnen zieht, scheint bedeutungslos, so lange er nicht angreift. Der Hai, das ist er selbst, ein zahnloser allerdings ...
Widerwillig schüttelt er sich auch diese schuppigen Gedanken aus dem Kopf, als er jetzt doch mehr gehend als majestätisch schwimmend durch die langen Gänge auf sein Büro zusteuert. Beinahe wäre er mit einer Frau zusammengestoßen, die sich durch das Stockwerk bewegt, als gehöre sie hierher, obgleich er sie noch nie gesehen hat. „Hoppla“, sagt sie und lächelt, definitiv keine Fischaugen, eher Katze, also gefährlich, honigbrauner Fellglanz, windet sich, ihn immer noch anlächelnd, geschmeidig um ihn herum und ist schon verschwunden. Menschen, die „Hoppla“ sagen, findet er normalerweise dämlich, und wäre dies eine Kriminalgeschichte im Fernsehen, so denkt er, und er der Kommissar, dann würde sie sich mit absoluter Sicherheit am Schluss als Verbrecherin entpuppen. Es ist immer so.
Ein bisschen viel für einen Morgen, das alles. Eigentlich fühlt er sich arbeitsunfähig, doch das macht ohnehin keinen großen Unterschied, Zahlen und Buchstaben wissen mittlerweile selber, was sie zu tun haben. Während sie sich im Hintergrund zu Standardschreiben zusammensetzen, verlangt die Watte in seinem Schädel danach, im Internet das Verhältnis zwischen Katzen und Haien zu ergründen, findet, mangels Überschneidung der natürlichen Lebensräume, nur Katzenhaie und sagt sich, auch gut, nur kleine Fische zwar, aber warum nicht. Die Internetseite der Stadtverwaltung ist noch weniger hilfreich, keine Hinweise auf eine millionenteure Überarbeitung des Klangdesigns oder die systematische Einführung von Straßenbeulen aus einem sehr guten Grund, auch keinerlei Meldung über seltsame Unglücksfälle oder dergleichen. Die Mittagspause verbringt er in seinem Büro, dort glaubt er sich sicher im Moment, noch scheint sich hier nichts Unerklärliches ereignen zu wollen. Er fühlt sich wirr im Kopf, doch erstaunlicherweise zugleich auch seltsam gut.
Ehe er am Abend sein Büro verlässt, atmet er tief. Aber er hat ja keine Wahl, was immer ihm auf dem Heimweg begegnen mag, er muss da durch, und wenn er dann zu Hause ankommt, ist er erst einmal in Sicherheit. Hofft er. Und dann ist Wochenende. Zwei Tage, an denen er seine Wohnung gar nicht verlassen muss. Das macht Mut.
Der erste Teil des Weges ist unauffällig. So sehr er auch aufpasst, nichts Außergewöhnliches in Sicht. Lediglich der Klang der Stadt ist noch der von heute morgen, sogar noch ein wenig intensiver, oder täuscht er sich, egal, er wird sich daran gewöhnen. Als er an die entscheidende Stelle kommt, die Ecke jener Straße, in der er am Morgen die Beule gesehen hat, bleibt er kurz stehen. Du musst dich einfach ganz normal verhalten, versucht er sich zu überzeugen, vielleicht warst du ja heute früh ein bisschen überdreht und hast dir das wirklich nur eingebildet. Noch einmal tief atmen, ein Schritt vorwärts, der erste Blick in die Straße, und – nichts. Völlig entspannt und unschuldig ruht sie vor ihm, nicht einmal eine winzige Schwellung ist zu sehen. Erleichtert beschleunigt er seinen Schritt, betrachtet im Vorbeigehen die aufgereihten Häuser und traut seinen Augen schon wieder nicht: Zwischen jenen zwei Häusern, die am Morgen beidseits der Beule auseinandergeklafft haben, steht ein komplettes neues fünfstöckiges Wohnhaus, in einem zarten Beige gestrichen und auch vom Stil her mit den anderen in völliger Harmonie. Kein Rohbau oder Ähnliches, sondern fertig und bewohnt, durch die Fenster erkennt er Zimmereinrichtungen, Menschen, die sich darin bewegen, vor der Tür stehen Fahrräder, ein Frau sperrt auf und trägt ihre Einkäufe hinein, als sei sie es seit Jahren so gewohnt. Das nächste, was er wahrnimmt, ist ein dumpfer Schlag gegen die Stirn und tiefste Finsternis. Alles klar, denkt er, also doch ein Komplettabsturz des Zentralnervensystems, und lässt sich beruhigt fallen. Die Welt ist in Ordnung, bei ihm ist die Sicherung raus, eine völlig harmlose Erklärung für alles, und das Schweben ist wundervoll ...
„Was ist wundervoll?“ Eigentlich hat er nicht vor, sich in diesem äußerst angenehmen Zustand durch Fragen belästigen zu lassen, doch der Klang der Stimme zwingt seine Augenlider auseinander. Über ihm die Katzenaugen. „Ist alles in Ordnung?“ – „Ich bin mir nicht sicher ...“ Wie kommt die Katze in sein Aquarium? – „Sie sind gegen einen Laternenpfahl gelaufen. Übrigens, ich heiße Katja Löw, wir haben einander heute morgen ja gar nicht vorgestellt.“ – „Oh, sehr erfreut ... Max Kiemer ... glaube ich ...“ Irgendwie ist das zehnmal besser als Betrunkensein. Könnte er öfter haben. – „Möchten Sie vielleicht erst einmal mit zu mir kommen, bis Sie sich sicher sind, wie es Ihnen geht? Ich wohne gleich hier. Dann können wir auch etwas gegen ihre Beule tun.“ Erst jetzt bemerkt er, dass sein Kopf schmerzt. „Meine Beule ...“ Er kann sich ein Grinsen nicht verkneifen. Jetzt also er selbst. Sein Blick folgt ihrem Zeigefinger, der direkt auf das neu gewachsene Haus weist. „Sie wohnen wirklich ... da drin?“ – „Ja, wieso? Kommen Sie.“ Und während er mit ihrer Hilfe aufsteht und zu dem Haus hinübergeht, hat er verstanden. Auf einen Schlag hat er alles verstanden.
©ACAM 2007