5.47 Uhr
Verfasst: 22.09.2009, 16:54
[In der Küche.]
5.32 Uhr. 15 Minuten. Noch 15 Minuten bis 5.47 Uhr des 17. Juni 2019.
[Geht in der Küche auf und ab.]
Dieses Warten macht mich ganz nervös. Ach was soll’s, es geht ja nicht anders. So ist das Leben ... mir kommen nur banale Gedanken; dafür ist der Kopf damit überfüllt.
[Blick auf die Wanduhr.]
5.32.16 Uhr, .17, .18, keine Zeit, keine Zeit, keine Zeit. Auch vorher hatte ich nie Zeit; dabei hatte ich so viel Zeit, unendlich viel Zeit. Gehetzt durchs Leben; und nun warte ich hier und habe unendlich wenig Zeit. .32, .33, .34. Ach man, die Zeit soll schneller vergehen, die Zeit soll stehen bleiben. Ich will hier raus, raus, rennen, aus meiner Haut, meinem Körper, weg fliegen. Ich sollte an wichtigere Dinge denken, die Freiheit, die mir noch bleibt, ausnutzen. Ein freier Mensch; bis um 5.47 Uhr; besser, ein freier Bürger. Und danach ein Zimmer, ein gemütliches Zimmer; ganz im Sinne der Menschlichkeit; ein gemütliches Zimmer mit einer Tür, die nur von Außen geöffnet werden kann - ganz im Sinne der Sicherheit der Menschheit … Und die Teller sind immer noch nicht gewaschen. Ich werde diese Wohnung in einem scheiß Zustand hinterlassen.
Und schon ist es 5.33 Uhr; wie die Zeit ... wieder so ein banaler Gedanke. Aber was weißt du schon. Als mir mein Arzt vor fast einem Jahr sagte, ich hätte ein defektes Gen, da konnte ich 's erstmal gar nicht glauben - ich hab’ mal gehört, so geht 's auch, wenn man erfährt, man hätte nur noch wenig Zeit zu leben. Freilich, ich lebe weiter, nur ein wenig eingeschränkter. Aber warum erzähl ich dir das alles. Einem Fremden, nachts in einer Kneipe aufgegabelt. Einem Fremden, der selbst nichts sagt, nur an meinem Tisch sitzt und so tut, als würde es ihn interessieren. Du hast bestimmt keine defekten Gene, oder? Ja, sag doch mal was! O. k., o. k., weißt nicht, was du sagen sollst, deine Gesten sind immer eindeutig – im Grunde sagst du ja doch was; und ich verstehe. Sollte eher dankbar sein, hier einen zu haben, der mir um diese Uhrzeit zuhört. Sollte diese freie Zeit besser nutzen. Aber was bedeutet es schon, frei zu sein, wenn die Freiheit gezählt ist? Tolles Gesetz. Als das noch alles reine Theorie war, war ich auch dafür; versprach ja wesentliche Einsparungen an Steuern und allem Drum und Dran.
Weniger Polizei, weniger Schäden, weniger Versicherungskosten. Natürlich eigentlich auch höhere Gefängniskosten, doch das Problem haben sie umgangen. Sie bieten den Gefangenen an, einer produktiven Tätigkeit nachzugehen, was viele aus Gewohnheit, Langeweile usw. auch annehmen. So spart man einen Haufen Kosten, indem man die Gefangenen billig für sich arbeiten lässt. Aber das weißt du ja auch alles, oder? Nein? Ach stimmt, du warst bis vor wenigen Tagen ganz woanders. Weißt du eigentlich schon die Resultate deines Tests? Nein? Na dann, toi, toi, toi. Aber ich soll weiter erzählen, oder? Wie es in solchen Fällen immer wieder vorkommt, waren diejenigen, die nicht daran glaubten, wenige, und das neue System wurde eben ... na ja, seitdem haben viele eine unangenehme Überraschung gehabt. Ich hab’ mich immer gefragt, von welchem meiner Eltern dieses Gen kommt. Keinem von beiden ist auch nur etwas Ähnliches zugestoßen. Vielleicht bin ich adoptiert, und keiner hat mir je etwas gesagt; und die Unterlagen sind auch verschwunden.
Oder ich bin eine Mutation, eine Neuerung im Genpool meiner Familie. Wer weiß. Meine Eltern sind tot und waren es schon, als das Gesetz beschlossen wurde, mussten sich also keiner Kontrolle unterziehen. Ach, was man nicht alles erfindet, um die Zeit nicht zu bemerken. Wär’ freilich interessant gewesen, wenn bei ihnen ein Datum herausgekommen wäre, längst verstrichen. Ja, stimmt, ich habe von keinem Fall gelesen, bei dem so etwas passiert sein soll, und du? Ach ja, du weißt eh von nichts. Ob es tatsächlich keine Fälle gab oder ob die Regierung sie nur verschleiert hat? Vielleicht kontrolliert sie ja alle Labore ... ich beginne schon, paranoid zu werden. Siehst du, so geht das, zuerst glaubt man nicht daran, hofft auf einen Fehler. Dann gewöhnt man sich allmählich an den Gedanken, auch wenn man es sich noch immer nicht ganz vorstellen kann. Am Ende dreht man durch, und die Voraussage des Tests wird in gewisser Weise zur Wahrheit. Schlau durchdacht, nicht? Auch das mit den sinkenden Löhnen. Die Gefangenen sind viele und billig zu haben. So sinken natürlich die Löhne.
Und die Zeit läuft auch davon. Bereits 5.36 Uhr. Aber du willst wissen, wie es weiter geht, oder? Na, sag schon! Stumm, stummer geht es nicht. Immer nur Gesten. Ja, ja, ich erzähl schon weiter, hab' verstanden. Willst wohl, dass ich nicht auf wer weiß was aufmerksam werde, was? O. k., o. k., wieder Paranoia, aber wo war ich ... ach ja, die Steuern sinken und alles steigt. Stell dir also diese Situation vor, die meisten Steuerzahler zahlen weniger Steuern und verdienen dafür aber auch weitaus weniger Geld, als wenn sie mehr Steuern gezahlt hätten. Ist ja nie anders gewesen: Der Staat privatisiert, um die Steuern senken zu können, und am Ende zahlt der Einzelne noch drauf - aber die Steuern, die haben sie gesenkt! Aber was soll 's, den Tests nach sind ja diejenigen, die nicht eingesperrt – amtlich: überwacht - werden, sind eben ungefährlich, unabhängig von ihrem Einkommen. Die werden sich nicht dagegen wehren, werden keine Gesetze verletzen, geschehe, was wolle. Für die Gesellschaft also kein Risiko ... Und ich vertrödele hier meine restliche Zeit mit diesem politischen Firlefanz, den ich dir erzähle. Ich weiß nicht einmal, ob du nicht einer von denen bist, die mit offenen Augen schlafen können. Zeit vertrödeln, werde ich vielleicht schon zu 'nem Kriminellen?
Gleich ist es 5.37 Uhr. Meine Freiheit, meine Freiheit, meine Freiheit, die fühl ich schon schwinden – schon schwinden; ich werde zum Dichter. Dabei bleiben mir noch 10 Minuten. 10 Minuten zum Auskosten – Auskosten, beschissenes Wort, hat mir nie gefallen. 10 Minuten. Gemütlich frühstücken dauert länger. Aber für einen Blick aus dem Fenster reicht es wohl ...
[Blickt für ca. 1 Minute aus dem Fenster in den Hinterhof.]
Hast du schon diesen schönen Blick aus meinem Fenster bemerkt, auf den Garten im Hof?
[Wendet sich zum Gast.]
Oder interessiert der dich auch nicht?
[Schaut wieder aus dem Fenster.]
Eine Reise kann ich mir nicht mehr leisten; aber wenigstens diesen Blick aus dem Fenster. Eine Reise; nach meinen Genen werde ich für den Rest meines Lebens so bleiben. Bei anderen findet später wieder eine Kehrtwende statt; bei mir aber nicht, hat mir jedenfalls mein Arzt gesagt. Keine Hoffnung, ich bin ein Unverbesserlicher ... Nur noch mit der Fantasie werde ich verreisen können. Um die Welt fliegen, nur mit der Fantasie, sehr kostengünstig und ökologisch. Zum Glück haben sie in der Überwachungsanstalt virtuelle Realität; Überwachungsanstalt, was für ein Wort; nur um nicht von Gefängnis und Gefangenen zu sprechen, alles immer schön politisch korrekt halten. Virtuelle Realität; mich immer nur auf meine Fantasie zu stützen, würde nicht lange gut gehen, vor allem anfangs. Ich bin zu sehr daran gewöhnt, dass andere für mich rumfantasieren. Film, Fernsehen, Computerspiele, wer braucht schon noch Fantasie, bis auf die wenigen Drehbuchautoren? Lässt sich Fantasie ausbilden? Sonst würden der Branche bald die Autoren ausgehen; vielleicht sind sie ihr schon ausgegangen ... Eine ziemlich abgekochte Frage, was? Vielleicht bin ich schon zum Kriminellen geworden, Typ Floskeln labernder Systemfeind.
[Blick auf die Uhr.]
5.39 Uhr, Noch 8 Minuten. Soll ich noch mal kurz nach draußen gehen, etwas Luft und Freiheit einatmen? Was geschieht eigentlich, wenn die mich nicht in meiner Wohnung finden? Werden wohl sofort nach mir suchen. Oder vielleicht kontrollieren sie mich schon seit längerer Zeit, ohne dass ich es weiß, und wissen immer, wo ich mich gerade befinde. Sonst könnte einer ja vorher fliehen. Bist du der Zuständige, der mich kontrollieren soll? Würde erklären, warum die hier rumsitzt und dir meinen ganzen Quatsch anhörst. Aber wohin sollte ich schon fliehen können? Solche Gesetze gibt es jetzt ja überall. Ein Staat, in dem es keine gäbe, wäre einem ungeheuren Einwanderungsdruck von Vorbestimmten ausgesetzt; einem Einwanderungsdruck, dem kein Zaun, keine Mauer entgegentreten könnte. Die Kosten für Wachpersonal und Waffen, um die Grenzen zu kontrollieren, würde zu hoch sein und die Staatskassen sprengen. Du brauchst mich also nicht wirklich zu kontrollieren.
[Löst sich vom Fenster und zum Kühlschrank gehend:]
Ja, ja, keine Panik, war nur ein Scherz.
[Nimmt eine Flasche aus dem Kühlschrank. Trinkt.]
Ach, was für Gedanken einem so kommen in so einer Situation. Oder kommen sie nur mir? Es stimmt schon, immer, wenn ich auf etwas warten muss, fange ich an, mit meinen Gedanken umher zu irren. Ob das ein Symptom der Gene ist, die mich zum Kriminellen machen? Es hat was mit Freiheit zu tun, hat mir mal einer gesagt, dem ich es erzählt hatte. Auch so einer, ich hab' ihn, seitdem es das Gesetz gibt, nicht mehr gesehen. Ob sie ihn schon lange vor mir in die Anstalt gebracht haben? Was ich jetzt schon anfange zu erzählen, statt die Zeit vernünftig zu nutzen. Anfangs schien alles so vernünftig. Nun scheint es mir nur noch unmenschlich. Kannst du dir vorstellen, wie nervös ich bin? Kann Unmenschlichkeit vernünftig sein? Anfangs schien mir alles so vernünftig. Sollten vielleicht nur diejenigen über Regeln entscheiden, die die Situationen schon durchlebt haben? Solange man nur eine Seite erlebt hat oder gar keine, ist man für und gegen vieles. Und gegen die Freiheit der anderen entscheidet man sich leichter als gegen die eigene. Freiheit, meine Freiheit schwindet mit jeder Sekunde - und schon ist es 5.41 Uhr.
Bereits im Moment, als mein Arzt mein Resultat hatte, fing meine Freiheit an zu schwinden: Die Zeit ist Freiheit. Je weniger Zeit, desto weniger Freiheit. Tatsächlich fängt man schon mit dem Befund an, kein freier Bürger mehr zu sein. Die Freiheit schwindet vom ersten Moment an, auch wenn man selbst es erst später bemerkt. Man kann ja weiter hoffen. Solange noch viel Zeit ist, bevor die Männer vom Amt an der Tür klopfen und einen höflich bitten, mit ihnen mitzukommen, sollte man eigentlich keinen Freiheitsschwund spüren, oder? Die Hoffnung, vielleicht stellt sich noch heraus, das Resultat war falsch - entgegen dem Wissen, dass diese Kontrollen sehr genau und beflissen gemacht werden, mit vielen Proben und Gegenproben -; die Hoffnung, vielleicht kommt eine neue Studie, die alles widerlegt - entgegen dem Wissen, dass es schon viele Studien und Gegenstudien gab und dass, auch wenn eine neue Studie alles widerlegen würde, ihr Resultat nicht so schnell von der Politik umgesetzt werden würde ...
5.42 Uhr und die Hoffnung ... vielleicht kommen sie zu spät oder haben einen Unfall gehabt, haben einen vergessen oder es sich anders überlegt, oder irgendetwas anderes geschieht und lässt alles aufschieben, aufheben, auf... die Hoffnung, die Hoffnung, die Hoffnung. Ich hab’ längst keine Hoffnung mehr – oder rede ich mir das nur so ein? -, und es bleiben eh nur noch 5 Minuten, nicht viel Zeit zum Hoffen. Aber selbst jetzt noch; vielleicht kommt Gott, die Marsmännchen oder ein neuer Prophet und rettet ... Immer wieder habe ich gehört, nicht alle würden in die Anstalt gebracht werden. Im Gegenteil, vielen soll die Wahl zwischen Staatsdienst und Anstalt gegeben worden sein. Die Argumentation dahinter soll sein, im Staatsdienst könnten sie das, was ihre Gene in ihnen und an ihrem Handeln beeinflussen würde, für die Gesellschaft produktiv ausleben. Freilich, es gilt nicht für alle. Wohl nur für diejenigen, die nicht zu kriminell sind. Das ist wohl nicht mein Fall. Oder hast du vielleicht die Aufgabe, das herauszufinden? Ja, ja, brauchst nicht so zu gucken, nur wieder so eine Paranoia. Was für Gedanken einem alle kommen ...
[Bleibt für ca. 1 Minute am Fenster stehen und guckt hinaus, geht dann zur Wanduhr und schaut drauf.]
5.44 Uhr und die Zeit verrinnt weiterhin. Könnte sie nicht mal stehen bleiben? He du, Zeit, bleib mal stehen! ...
[Steht für mehrere Sekunden vor der Wanduhr stehen und blickt aufs Ziffernblatt.]
5.44 Uhr. Wenigstens ist der Minutenzeiger noch auf der selben Stelle. Solche Ängste sollte ich mir für nachher aufbewahren, wenn es vollkommen aus ist mit meiner Freiheit. Lieber noch einen Blick auf meine Sachen werfen.
[Geht aus der Küche und durch den Flur in ein anderes Zimmer; kommt nach ca. ½ Minute wieder durch den Flur in Richtung Küche und spricht dabei.]
Meine Sachen, ich werde sie nie wieder sehen. Sie werden versteigert werden, ich brauche sie ja nicht mehr, sagt jedenfalls das Gesetz.
[Wieder am Fenster.]
Und mein Fenster. Kein schöner Morgen. Aber ein freier Morgen. Nieselregen, freier Nieselregen. Die ganze Nacht. Wer konnte diese Nacht schon schlafen? Immer wieder der Gedanke, zu flüchten. Wohin? Nieselregen. Es ist kalt und feucht. Im Juni kalt und feucht wie Herbst. Gehen in der Anstalt die Fenster eigentlich auf? Und wie ist das Essen dort? Weshalb weiß niemand was darüber? Weshalb wird man nicht allmählich daran gewöhnt? Wahrscheinlich, um bis zur letzten Sekunde sagen zu können, man sei frei; frei; und ich habe so vieles versäumt. Das Leben ist ein einziges Versäumnis. Was für ein Leben. Wird man eigentlich wirklich eingesperrt? Vielleicht ist es alles nur ein Schauspiel, und man wird irgendwo anders wieder abgestellt. Irgendwo, wo keiner einen kennt. Oder; oder sie töten einen! ... Wieder diese Ängste.
5.46 Uhr und wieder diese Ängste. Seit langer Zeit immer wieder diese Ängste, weiß gar nicht mehr, wann sie angefangen haben. Wie wurde die Theorie eigentlich bewiesen? Nie habe ich damals einen tatsächlichen Beweis gelesen. Klang alles sehr plausibel, aber vollkommen klar war es nicht. Es wurde zwar von den Fällen gesprochen, wo die Vorhersage sich bewahrheitet hatte. Aber die Fälle, wo es nicht geschehen war, kamen im Fernsehen nicht vor. Und im Internet wurde mal wieder alles und das Gegenteil behauptet. Dabei muss es doch immer solche Fälle gegeben haben, keine Theorie ist perfekt ... Und wieder so ein Gerede wie vorhin. Man, ich war eigentlich nie eine Quasselstrippe. Nur hier, jetzt und vor dir bin ich zu einer geworden. Ist ja schon fast kriminell, wie ich dich hier zulabere ... Es klingelt; ein; zwei; dreimal. Es ist vorbei; endlich! 5.47 Uhr, pünktlich, wie zu erwarten - und meine Uhr ist auch präzise! Aber klingeln? Aus irgendwelchen Gründen hatte ich mir aber immer vorgestellt, sie würden klopfen, kam mir irgendwie höflicher, menschlicher vor.
5.32 Uhr. 15 Minuten. Noch 15 Minuten bis 5.47 Uhr des 17. Juni 2019.
[Geht in der Küche auf und ab.]
Dieses Warten macht mich ganz nervös. Ach was soll’s, es geht ja nicht anders. So ist das Leben ... mir kommen nur banale Gedanken; dafür ist der Kopf damit überfüllt.
[Blick auf die Wanduhr.]
5.32.16 Uhr, .17, .18, keine Zeit, keine Zeit, keine Zeit. Auch vorher hatte ich nie Zeit; dabei hatte ich so viel Zeit, unendlich viel Zeit. Gehetzt durchs Leben; und nun warte ich hier und habe unendlich wenig Zeit. .32, .33, .34. Ach man, die Zeit soll schneller vergehen, die Zeit soll stehen bleiben. Ich will hier raus, raus, rennen, aus meiner Haut, meinem Körper, weg fliegen. Ich sollte an wichtigere Dinge denken, die Freiheit, die mir noch bleibt, ausnutzen. Ein freier Mensch; bis um 5.47 Uhr; besser, ein freier Bürger. Und danach ein Zimmer, ein gemütliches Zimmer; ganz im Sinne der Menschlichkeit; ein gemütliches Zimmer mit einer Tür, die nur von Außen geöffnet werden kann - ganz im Sinne der Sicherheit der Menschheit … Und die Teller sind immer noch nicht gewaschen. Ich werde diese Wohnung in einem scheiß Zustand hinterlassen.
Und schon ist es 5.33 Uhr; wie die Zeit ... wieder so ein banaler Gedanke. Aber was weißt du schon. Als mir mein Arzt vor fast einem Jahr sagte, ich hätte ein defektes Gen, da konnte ich 's erstmal gar nicht glauben - ich hab’ mal gehört, so geht 's auch, wenn man erfährt, man hätte nur noch wenig Zeit zu leben. Freilich, ich lebe weiter, nur ein wenig eingeschränkter. Aber warum erzähl ich dir das alles. Einem Fremden, nachts in einer Kneipe aufgegabelt. Einem Fremden, der selbst nichts sagt, nur an meinem Tisch sitzt und so tut, als würde es ihn interessieren. Du hast bestimmt keine defekten Gene, oder? Ja, sag doch mal was! O. k., o. k., weißt nicht, was du sagen sollst, deine Gesten sind immer eindeutig – im Grunde sagst du ja doch was; und ich verstehe. Sollte eher dankbar sein, hier einen zu haben, der mir um diese Uhrzeit zuhört. Sollte diese freie Zeit besser nutzen. Aber was bedeutet es schon, frei zu sein, wenn die Freiheit gezählt ist? Tolles Gesetz. Als das noch alles reine Theorie war, war ich auch dafür; versprach ja wesentliche Einsparungen an Steuern und allem Drum und Dran.
Weniger Polizei, weniger Schäden, weniger Versicherungskosten. Natürlich eigentlich auch höhere Gefängniskosten, doch das Problem haben sie umgangen. Sie bieten den Gefangenen an, einer produktiven Tätigkeit nachzugehen, was viele aus Gewohnheit, Langeweile usw. auch annehmen. So spart man einen Haufen Kosten, indem man die Gefangenen billig für sich arbeiten lässt. Aber das weißt du ja auch alles, oder? Nein? Ach stimmt, du warst bis vor wenigen Tagen ganz woanders. Weißt du eigentlich schon die Resultate deines Tests? Nein? Na dann, toi, toi, toi. Aber ich soll weiter erzählen, oder? Wie es in solchen Fällen immer wieder vorkommt, waren diejenigen, die nicht daran glaubten, wenige, und das neue System wurde eben ... na ja, seitdem haben viele eine unangenehme Überraschung gehabt. Ich hab’ mich immer gefragt, von welchem meiner Eltern dieses Gen kommt. Keinem von beiden ist auch nur etwas Ähnliches zugestoßen. Vielleicht bin ich adoptiert, und keiner hat mir je etwas gesagt; und die Unterlagen sind auch verschwunden.
Oder ich bin eine Mutation, eine Neuerung im Genpool meiner Familie. Wer weiß. Meine Eltern sind tot und waren es schon, als das Gesetz beschlossen wurde, mussten sich also keiner Kontrolle unterziehen. Ach, was man nicht alles erfindet, um die Zeit nicht zu bemerken. Wär’ freilich interessant gewesen, wenn bei ihnen ein Datum herausgekommen wäre, längst verstrichen. Ja, stimmt, ich habe von keinem Fall gelesen, bei dem so etwas passiert sein soll, und du? Ach ja, du weißt eh von nichts. Ob es tatsächlich keine Fälle gab oder ob die Regierung sie nur verschleiert hat? Vielleicht kontrolliert sie ja alle Labore ... ich beginne schon, paranoid zu werden. Siehst du, so geht das, zuerst glaubt man nicht daran, hofft auf einen Fehler. Dann gewöhnt man sich allmählich an den Gedanken, auch wenn man es sich noch immer nicht ganz vorstellen kann. Am Ende dreht man durch, und die Voraussage des Tests wird in gewisser Weise zur Wahrheit. Schlau durchdacht, nicht? Auch das mit den sinkenden Löhnen. Die Gefangenen sind viele und billig zu haben. So sinken natürlich die Löhne.
Und die Zeit läuft auch davon. Bereits 5.36 Uhr. Aber du willst wissen, wie es weiter geht, oder? Na, sag schon! Stumm, stummer geht es nicht. Immer nur Gesten. Ja, ja, ich erzähl schon weiter, hab' verstanden. Willst wohl, dass ich nicht auf wer weiß was aufmerksam werde, was? O. k., o. k., wieder Paranoia, aber wo war ich ... ach ja, die Steuern sinken und alles steigt. Stell dir also diese Situation vor, die meisten Steuerzahler zahlen weniger Steuern und verdienen dafür aber auch weitaus weniger Geld, als wenn sie mehr Steuern gezahlt hätten. Ist ja nie anders gewesen: Der Staat privatisiert, um die Steuern senken zu können, und am Ende zahlt der Einzelne noch drauf - aber die Steuern, die haben sie gesenkt! Aber was soll 's, den Tests nach sind ja diejenigen, die nicht eingesperrt – amtlich: überwacht - werden, sind eben ungefährlich, unabhängig von ihrem Einkommen. Die werden sich nicht dagegen wehren, werden keine Gesetze verletzen, geschehe, was wolle. Für die Gesellschaft also kein Risiko ... Und ich vertrödele hier meine restliche Zeit mit diesem politischen Firlefanz, den ich dir erzähle. Ich weiß nicht einmal, ob du nicht einer von denen bist, die mit offenen Augen schlafen können. Zeit vertrödeln, werde ich vielleicht schon zu 'nem Kriminellen?
Gleich ist es 5.37 Uhr. Meine Freiheit, meine Freiheit, meine Freiheit, die fühl ich schon schwinden – schon schwinden; ich werde zum Dichter. Dabei bleiben mir noch 10 Minuten. 10 Minuten zum Auskosten – Auskosten, beschissenes Wort, hat mir nie gefallen. 10 Minuten. Gemütlich frühstücken dauert länger. Aber für einen Blick aus dem Fenster reicht es wohl ...
[Blickt für ca. 1 Minute aus dem Fenster in den Hinterhof.]
Hast du schon diesen schönen Blick aus meinem Fenster bemerkt, auf den Garten im Hof?
[Wendet sich zum Gast.]
Oder interessiert der dich auch nicht?
[Schaut wieder aus dem Fenster.]
Eine Reise kann ich mir nicht mehr leisten; aber wenigstens diesen Blick aus dem Fenster. Eine Reise; nach meinen Genen werde ich für den Rest meines Lebens so bleiben. Bei anderen findet später wieder eine Kehrtwende statt; bei mir aber nicht, hat mir jedenfalls mein Arzt gesagt. Keine Hoffnung, ich bin ein Unverbesserlicher ... Nur noch mit der Fantasie werde ich verreisen können. Um die Welt fliegen, nur mit der Fantasie, sehr kostengünstig und ökologisch. Zum Glück haben sie in der Überwachungsanstalt virtuelle Realität; Überwachungsanstalt, was für ein Wort; nur um nicht von Gefängnis und Gefangenen zu sprechen, alles immer schön politisch korrekt halten. Virtuelle Realität; mich immer nur auf meine Fantasie zu stützen, würde nicht lange gut gehen, vor allem anfangs. Ich bin zu sehr daran gewöhnt, dass andere für mich rumfantasieren. Film, Fernsehen, Computerspiele, wer braucht schon noch Fantasie, bis auf die wenigen Drehbuchautoren? Lässt sich Fantasie ausbilden? Sonst würden der Branche bald die Autoren ausgehen; vielleicht sind sie ihr schon ausgegangen ... Eine ziemlich abgekochte Frage, was? Vielleicht bin ich schon zum Kriminellen geworden, Typ Floskeln labernder Systemfeind.
[Blick auf die Uhr.]
5.39 Uhr, Noch 8 Minuten. Soll ich noch mal kurz nach draußen gehen, etwas Luft und Freiheit einatmen? Was geschieht eigentlich, wenn die mich nicht in meiner Wohnung finden? Werden wohl sofort nach mir suchen. Oder vielleicht kontrollieren sie mich schon seit längerer Zeit, ohne dass ich es weiß, und wissen immer, wo ich mich gerade befinde. Sonst könnte einer ja vorher fliehen. Bist du der Zuständige, der mich kontrollieren soll? Würde erklären, warum die hier rumsitzt und dir meinen ganzen Quatsch anhörst. Aber wohin sollte ich schon fliehen können? Solche Gesetze gibt es jetzt ja überall. Ein Staat, in dem es keine gäbe, wäre einem ungeheuren Einwanderungsdruck von Vorbestimmten ausgesetzt; einem Einwanderungsdruck, dem kein Zaun, keine Mauer entgegentreten könnte. Die Kosten für Wachpersonal und Waffen, um die Grenzen zu kontrollieren, würde zu hoch sein und die Staatskassen sprengen. Du brauchst mich also nicht wirklich zu kontrollieren.
[Löst sich vom Fenster und zum Kühlschrank gehend:]
Ja, ja, keine Panik, war nur ein Scherz.
[Nimmt eine Flasche aus dem Kühlschrank. Trinkt.]
Ach, was für Gedanken einem so kommen in so einer Situation. Oder kommen sie nur mir? Es stimmt schon, immer, wenn ich auf etwas warten muss, fange ich an, mit meinen Gedanken umher zu irren. Ob das ein Symptom der Gene ist, die mich zum Kriminellen machen? Es hat was mit Freiheit zu tun, hat mir mal einer gesagt, dem ich es erzählt hatte. Auch so einer, ich hab' ihn, seitdem es das Gesetz gibt, nicht mehr gesehen. Ob sie ihn schon lange vor mir in die Anstalt gebracht haben? Was ich jetzt schon anfange zu erzählen, statt die Zeit vernünftig zu nutzen. Anfangs schien alles so vernünftig. Nun scheint es mir nur noch unmenschlich. Kannst du dir vorstellen, wie nervös ich bin? Kann Unmenschlichkeit vernünftig sein? Anfangs schien mir alles so vernünftig. Sollten vielleicht nur diejenigen über Regeln entscheiden, die die Situationen schon durchlebt haben? Solange man nur eine Seite erlebt hat oder gar keine, ist man für und gegen vieles. Und gegen die Freiheit der anderen entscheidet man sich leichter als gegen die eigene. Freiheit, meine Freiheit schwindet mit jeder Sekunde - und schon ist es 5.41 Uhr.
Bereits im Moment, als mein Arzt mein Resultat hatte, fing meine Freiheit an zu schwinden: Die Zeit ist Freiheit. Je weniger Zeit, desto weniger Freiheit. Tatsächlich fängt man schon mit dem Befund an, kein freier Bürger mehr zu sein. Die Freiheit schwindet vom ersten Moment an, auch wenn man selbst es erst später bemerkt. Man kann ja weiter hoffen. Solange noch viel Zeit ist, bevor die Männer vom Amt an der Tür klopfen und einen höflich bitten, mit ihnen mitzukommen, sollte man eigentlich keinen Freiheitsschwund spüren, oder? Die Hoffnung, vielleicht stellt sich noch heraus, das Resultat war falsch - entgegen dem Wissen, dass diese Kontrollen sehr genau und beflissen gemacht werden, mit vielen Proben und Gegenproben -; die Hoffnung, vielleicht kommt eine neue Studie, die alles widerlegt - entgegen dem Wissen, dass es schon viele Studien und Gegenstudien gab und dass, auch wenn eine neue Studie alles widerlegen würde, ihr Resultat nicht so schnell von der Politik umgesetzt werden würde ...
5.42 Uhr und die Hoffnung ... vielleicht kommen sie zu spät oder haben einen Unfall gehabt, haben einen vergessen oder es sich anders überlegt, oder irgendetwas anderes geschieht und lässt alles aufschieben, aufheben, auf... die Hoffnung, die Hoffnung, die Hoffnung. Ich hab’ längst keine Hoffnung mehr – oder rede ich mir das nur so ein? -, und es bleiben eh nur noch 5 Minuten, nicht viel Zeit zum Hoffen. Aber selbst jetzt noch; vielleicht kommt Gott, die Marsmännchen oder ein neuer Prophet und rettet ... Immer wieder habe ich gehört, nicht alle würden in die Anstalt gebracht werden. Im Gegenteil, vielen soll die Wahl zwischen Staatsdienst und Anstalt gegeben worden sein. Die Argumentation dahinter soll sein, im Staatsdienst könnten sie das, was ihre Gene in ihnen und an ihrem Handeln beeinflussen würde, für die Gesellschaft produktiv ausleben. Freilich, es gilt nicht für alle. Wohl nur für diejenigen, die nicht zu kriminell sind. Das ist wohl nicht mein Fall. Oder hast du vielleicht die Aufgabe, das herauszufinden? Ja, ja, brauchst nicht so zu gucken, nur wieder so eine Paranoia. Was für Gedanken einem alle kommen ...
[Bleibt für ca. 1 Minute am Fenster stehen und guckt hinaus, geht dann zur Wanduhr und schaut drauf.]
5.44 Uhr und die Zeit verrinnt weiterhin. Könnte sie nicht mal stehen bleiben? He du, Zeit, bleib mal stehen! ...
[Steht für mehrere Sekunden vor der Wanduhr stehen und blickt aufs Ziffernblatt.]
5.44 Uhr. Wenigstens ist der Minutenzeiger noch auf der selben Stelle. Solche Ängste sollte ich mir für nachher aufbewahren, wenn es vollkommen aus ist mit meiner Freiheit. Lieber noch einen Blick auf meine Sachen werfen.
[Geht aus der Küche und durch den Flur in ein anderes Zimmer; kommt nach ca. ½ Minute wieder durch den Flur in Richtung Küche und spricht dabei.]
Meine Sachen, ich werde sie nie wieder sehen. Sie werden versteigert werden, ich brauche sie ja nicht mehr, sagt jedenfalls das Gesetz.
[Wieder am Fenster.]
Und mein Fenster. Kein schöner Morgen. Aber ein freier Morgen. Nieselregen, freier Nieselregen. Die ganze Nacht. Wer konnte diese Nacht schon schlafen? Immer wieder der Gedanke, zu flüchten. Wohin? Nieselregen. Es ist kalt und feucht. Im Juni kalt und feucht wie Herbst. Gehen in der Anstalt die Fenster eigentlich auf? Und wie ist das Essen dort? Weshalb weiß niemand was darüber? Weshalb wird man nicht allmählich daran gewöhnt? Wahrscheinlich, um bis zur letzten Sekunde sagen zu können, man sei frei; frei; und ich habe so vieles versäumt. Das Leben ist ein einziges Versäumnis. Was für ein Leben. Wird man eigentlich wirklich eingesperrt? Vielleicht ist es alles nur ein Schauspiel, und man wird irgendwo anders wieder abgestellt. Irgendwo, wo keiner einen kennt. Oder; oder sie töten einen! ... Wieder diese Ängste.
5.46 Uhr und wieder diese Ängste. Seit langer Zeit immer wieder diese Ängste, weiß gar nicht mehr, wann sie angefangen haben. Wie wurde die Theorie eigentlich bewiesen? Nie habe ich damals einen tatsächlichen Beweis gelesen. Klang alles sehr plausibel, aber vollkommen klar war es nicht. Es wurde zwar von den Fällen gesprochen, wo die Vorhersage sich bewahrheitet hatte. Aber die Fälle, wo es nicht geschehen war, kamen im Fernsehen nicht vor. Und im Internet wurde mal wieder alles und das Gegenteil behauptet. Dabei muss es doch immer solche Fälle gegeben haben, keine Theorie ist perfekt ... Und wieder so ein Gerede wie vorhin. Man, ich war eigentlich nie eine Quasselstrippe. Nur hier, jetzt und vor dir bin ich zu einer geworden. Ist ja schon fast kriminell, wie ich dich hier zulabere ... Es klingelt; ein; zwei; dreimal. Es ist vorbei; endlich! 5.47 Uhr, pünktlich, wie zu erwarten - und meine Uhr ist auch präzise! Aber klingeln? Aus irgendwelchen Gründen hatte ich mir aber immer vorgestellt, sie würden klopfen, kam mir irgendwie höflicher, menschlicher vor.