Bildgeschichte

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Nifl
Beiträge: 3915
Registriert: 28.07.2006
Geschlecht:

Beitragvon Nifl » 10.02.2013, 13:20

Ich lade dich auf meine erste Vernissage ein. Würde mich freuen ... Blabla. Wir sprechen uns noch! :-)
Deine Nachbarin


Mein Kunstverständnis ist eher bescheiden, trotzdem gehe ich hin. Vielleicht, weil sie mir irgendwie leid tut. Dieses unwürdige Gestrampel der Hobbykünstler für ein bisschen Anerkennung. Vernissage, allein wie das Wort klingt. Jedenfalls nicht nach einer übergewichtigen Alleinerziehenden aus der Vorstadt, sondern nach Koks und goldenen Cocktailkleidern. Sie steht an einem runden Partytisch mit weißer Plastiktischdecke, die in gewellten Falten an den Seiten runterhängt. Um sie herum sind einige Gäste versammelt. Sie hat sich in einen schwarzen knielangen Rock gezwängt. Auf dem Tisch stehen einige Sektgläser und perlen vor sich hin. Sie ist nicht besonders groß und ihr Busen stößt an die Kante der Tischplatte. Sie wirkt aufgekratzt und gestikuliert mit den Armen, scheint sich blendend zu unterhalten. Ich werde sie auch später noch begrüßen können, gehe schnurstracks bis in den letzten Raum und bleibe vor der Wand stehen, als hätte ich dort den Notausgang erwartet und nicht ein Bild.
Es ist eine Bleistiftzeichnung eines Frauenkopfes. Das Gesicht ist nur zur Hälfte gezeichnet, als sei die Künstlerin nicht fertig geworden. Irgendwie fühle ich mich fehl am Platze, stecke die Hände in die Hosentaschen und biege die Arme durch. Was will ich nur hier. Wie lange kann man sich vor einem Bild rumdrücken, ohne dass es auffällt? Ich starre auf das Fischgrätenparkett, entdecke Schleifspuren, Pfuscher! Ob sie mich gesehen hat? Am besten ich verschwinde gleich wieder.

„Wie findest du denn dieses Bild?“
Ich hatte sie gar nicht bemerkt und zucke zusammen, als sei ich bei verbotenen Gedankengängen erwischt worden.
"Ich ä ich."
"Ja?"
Ich täusche Interesse vor und sehe das Bild an. Was will sie jetzt von mir hören? Dass hier offensichtlich jemand nicht fertig geworden ist und das Bild vermutlich durch ein Versehen ausgestellt wird? Ich kneife die Augen zusammen, als suchte ich etwas, was ich vorher übersehen hatte.
"Es sind keine Ecken oder Kanten auf dem Bild zu sehen, alles scheint einer einzigen Welle zu entspringen. Im ersten Augenblick könnte man denken, das Bild sei noch nicht fertig, aber es ist die Radierung, der Schliff der Welle, wenn sie sich vom Strand zurückzieht."
Eine radierende Welle, ich fasse es nicht!
Ich versuche abzulenken und frage: "Hast du schon mal was in den feuchten Sand geschrieben bevor die Welle kam?"
Sie schweigt.
"Ä, ja, jedenfalls ist die zweite Hälfte des Gesichtes das Meer. Das was man nicht zeigt, nicht zeigen kann. Die innere Hälfte sozusagen, die abgewandte Seite des Mondes. Insofern wäre ein vollständig gemaltes Gesicht nur ein halbes Gesicht. Ach was quatsche ich."
"Nein nein, erzähl bitte weiter."
Weiter? Was weiter? Jetzt habe ich den Salat. Doch fast wie von selbst flutschen mir weitere Worte über die Lippen.
"Manchmal schaut man in den Spiegel und meint sich ganz zu sehen. Dann streicht man sich über eine Gesichtshälfte, weil das nicht sein kann und bleibt mit den Fingerspitzen auf dem Augenlid liegen bis man wieder ganz halb ist und es im Augapfel blitzt."
Sie sagt nichts, aber irgendwie ist es ein verlangendes Nichts, also spinne ich weiter.
"Was verbergen wir? Kennt man sich jemals ganz?"
Sie legt eine Hand auf meine Schulter, als seien wir ein Paar. Ich bemerke, dass mich schon lange keiner mehr auf der Schulter berührt hat, überhaupt berührt hat. Es fühlt sich gut an. Ich bin am Ende mit meinem Latein. Aber bitte nicht die Hand wegnehmen.
"Die Auslassung ist eine Vielschichtigkeit. Es ist gut, dass dieses Bild keinen Rahmen hat, so reicht es über den Rand hinaus. Oder hat sie das halbe Gesicht verloren, weil es keinen Rahmen gab? Durch eine übergroße Offenheit, die einen einengt?"
Sie zieht die Hand wieder zurück. Scheiße.
"Nein, es ist Freiheit."
Nun legt sie von hinten ihre Arme um mich und schmiegt ihr Gesicht an mein Schulterblatt. Wie früher. Ich fühle ihre Lippen durch die Jacke und alles direkt auf meiner Haut.
"Mit wem sprichst du, Nachbar?" Schweißperlen glänzen auf ihrer Stirn. Mir ist, als sei ich vom Garagendach gesprungen und kann mich nicht genügend auf dem Boden der Realität abfedern.
Sie sieht mich an, als wäre ich ein ausgesetzter Hund und wir stehen eine Weile nur da bis sie sagt:
"Ja, das sieht ihr ähnlich" und hält mir ein Glas direkt vor die Nase.
Ich schüttele den Kopf.
"Danke für die Einladung."


Edit:
1)geduzte Erstfrage
2)keine Kleinkunst
Zuletzt geändert von Nifl am 16.02.2013, 18:08, insgesamt 5-mal geändert.
"Das bin ich. Ich bin Polygonum Polymorphum" (Wolfgang Oehme)

Benutzeravatar
Pjotr
Beiträge: 6790
Registriert: 21.05.2006

Beitragvon Pjotr » 18.02.2013, 20:51

Der Salon hat mich wieder mal spontan angesaugt. Hallo, schönguten Abend.

Mir hat der Text gefallen, ich habe gerade das starke Bedürfnis, mich mitzuteilen, weil in keinen Kommentaren meine Lesart vertreten ist.

Ich sehe kein Glaubwürdigkeitsproblem. Ja, anfangs labert er Schwachsinn, grob, und nachher Feinsinn, höchst erleuchtet.

Aber das passt!

Denn das in der Einleitung Geschilderte sind nicht seine wirklichen Gedanken.

Er meint das nicht so. Warum er so grobe Gedanken hat, ist zunächst unklar. Aus Trotz vielleicht. Irgendetwas verbindet ihn mit ihr. Womöglich hat sie ihn verletzt, und jetzt kommt sie wieder daher. Oder er ist generell frustriert wegen Weißdieweltwas. Frustrierte Menschen haben oft solche beleidigenden Wörter im Kopf, und wischen sich dabei inexistente Staubkörner von ihrer Kleidung, weil sie diese Beleidigungen eigentlich gar nicht tätigen wollen, sie tätigen sie trotzdem, und wollen sie zugleich wegwischen, sie kommen aus dem Rückenmark, und der Kopf ist dagegen, oder umgekehrt; der unvollendete Kampf verschiedener Ichs in der selben Person.

Zwischennotiz: "Mein Kunstverständnis ist eher bescheiden" steht da, nicht "Ich habe überhaupt kein Verständnis, bin Holzhacker." -- Es besteht also die Hoffnung und das Potential, dass der Typ in der nun folgenden Sendung in plausibler Weise verschiedene Charakter-Farbtöne zeigen wird. Keineswegs wird hier eine Schwarzweiß-Kiste vorgebaut. Finde ich. Jedenfalls habe ich keine vorgefunden.

Ich komme zu diesem Gefühl nicht nachdem ich zu Ende gelesen habe, sondern gleich zu Beginn. Das Ende bestätigt nur, dass mein Gefühl richtig war: Der Mann kann diese anfänglichen Bemerkungen nicht ernst meinen. Also seid nicht so streng mit dem Sack. Der will bloß spielen.

Wenn Euch der Anfang suspekt ist, na dann geht doch gerade mal so unchronologisch ran: Rollt die Geschichte rückwärts auf, und erkennet: Der Mann zeigt Gefühle für diese Frau. Er ist sensibel, und wahrscheinlich -- zum Anfang zurückrollend -- war er aus einer entsprechenden Verletzung heraus so bös.


Grüß,

P.

Benutzeravatar
Amanita
Beiträge: 5748
Registriert: 02.09.2010
Geschlecht:

Beitragvon Amanita » 18.02.2013, 20:54

Hallo Pjotr - wie schön, Dich mal wieder hier zu treffen!

Ich nehme an, dass es nifl genau so gemeint hat! Dennoch: Ich kanns nur "theoretisch" mitvollziehen, beim Lesen geht es mir halt anders

Benutzeravatar
Pjotr
Beiträge: 6790
Registriert: 21.05.2006

Beitragvon Pjotr » 18.02.2013, 21:43

Hallo Amanita, schön Dich zu sehen (im Rahmen des Avatars).

Verständlich, ich würde bei gewissen Schlüsselwörtern sicherlich ähnlich erzürnen.

Was speziell Wörter wie "Künstler" oder "Hobby" betrifft: Dagegen ist mein Emotionszentrum relativ immun weil mein Verstandeszentrum vorgreift und das als unwichtige Begrifflichkeiten abtut. Eine wichtige Begrifflichkeit hingegen wäre für mich: "Das Bild wirkt auf mich wie ..." etc. Eigentlich ganz einfach: Das Bild selbst erzeugt Status. Nicht die Begrifflichkeiten drumherum, die sowieso allesamt schwammig sind. Wirklich einfach ist es aber dann halt doch nicht immer, weil der Verstand von der Stolzverletzung meist plattgewalzt wird.


P.

Benutzeravatar
nera
Beiträge: 2216
Registriert: 19.01.2010

Beitragvon nera » 18.02.2013, 23:30

für mich geht es nicht darum, ob ich bei bestimmten schlüsselwörtern erzürne oder wie der protagonist über kunst spricht, sondern ob der text funktioniert. es geht ja nicht um die kunstszene oder die beurteilumg eines bildes. ich kann ja nicht alles mögliche in den ich-erzähler reiniterpretieren, nur weil mir seine assoziationen zu einem bild gefallen. "dann kann er ja kein arschloch sein und alles was er vorher geäußert hat, war nur ein spass" ehrlich gesagt, für mich hier einfach ein nicht nachvollziehbarer bruch, den man schreibtechnisch lösen könnte. warum sollte ich, nur weil mir sein flow zu dem bild zusagt, mir weiß gott welche gedanken machen, warum er am anfang so deppert ist?
aber ich finde es ja sehr spannend, dass hier so viele leute über diesen typen spekulieren. das schaffen wenige texte.:)

Benutzeravatar
Zefira
Beiträge: 5728
Registriert: 24.08.2006

Beitragvon Zefira » 18.02.2013, 23:57

Es gibt Texte, bei denen das funktioniert - zumindest in umgekehrter Richtung. Mein Lieblingsbeispiel ist immer Patricia Highsmith. Sie hat in einem ihrer Romane einen Protagonisten, aus dessen Perspektive konsequent erzählt wird; er ist wohl manchmal etwas schräge, aber dafür ist er ja auch Wissenschaftler und im Alltag ist er ein richtig Netter. Leider ist er unglücklich verliebt, seine Angebetete hat einen anderen geheiratet, aber das klärt sich sicher noch. Und dann geht es immer weiter und sicher ist auch eine Steigerung im Charakter da, aber so unmerklich, dass man sie als Leser nicht wahrnimmt. Am Schluss gipfelt sich das Ganze in krassen Wahnsinn auf und man fragt sich, wann eigentlich der Wendepunkt gewesen ist und warum man ihn nicht bemerkt hat. Es bleibt gar nichts anderes übrig, als das Ganze noch mal von vorne zu lesen mit dem Schluss im Hinterkopf. Für mich sind das eigentlich die spannendsten Leseerlebnisse, weil sie komplett aus dem eigenen Verstand herausführen. Ich hatte jahrelang den Ehrgeiz, genau so etwas einmal schreiben zu wollen ...

Das führt jetzt zum Text weg, aber ich schrieb ja schon, ich finde das Thema sehr spannend und würde es gern allgemeiner diskutieren.

Grüße von Zefira
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)

Benutzeravatar
Pjotr
Beiträge: 6790
Registriert: 21.05.2006

Beitragvon Pjotr » 19.02.2013, 00:06

nera hat geschrieben:"dann kann er ja kein arschloch sein und alles was er vorher geäußert hat, war nur ein spass" ehrlich gesagt, für mich hier einfach ein nicht nachvollziehbarer bruch, den man schreibtechnisch lösen könnte. warum sollte ich, nur weil mir sein flow zu dem bild zusagt, mir weiß gott welche gedanken machen, warum er am anfang so deppert ist?
aber ich finde es ja sehr spannend, dass hier so viele leute über diesen typen spekulieren. das schaffen wenige texte.:)

Dein Kommentar bezieht sich nicht auf das, was ich schrieb.

Ich schrieb von "frustriert sein", nicht von "Spaß haben".

Ich schrieb nichts von einem "Flow zu einem Bild haben" zur Herstellung seiner Glaubwürdigkeit.

Im Text steht zu Beginn: "Mein Kunstverständnis ist eher bescheiden". Auf diese Aussage bezog ich mich, und zwar durchaus schreibtechnisch. Das ist, in meinen Ohren, nicht die Sprache eines Holzhackers. Entsprechend nehme ich seine darauf folgenden Bemerkungen mit einer Prise Paprika.

Benutzeravatar
Ylvi
Beiträge: 9470
Registriert: 04.03.2006

Beitragvon Ylvi » 19.02.2013, 08:25

Hallo

oh Pjotr, wie schön, mal wieder von dir zu lesen! :)

Sam,
Sam hat geschrieben:Es ist schade, denn die Bildbetrachtung ist der stärkste Teil des Textes. Allein die Idee des Bildes ist genial. Nur leider trifft diese gute Idee auf ein völlig unvorbereitetes Setting. Auch sprachlich wäre hier ein Bruch angemessen, doch jenes " Ich ä Ich" (das für sich schon jeder Geschichte den Gar auszumachen im Stande ist) lässt den Protagonisten in seiner vor(her)geschrieben Rolle verbleiben. Die nachfolgenden Reflektionen sind nun nicht mehr die des Protagonisten, sondern des Autors, der seiner Geschichte den richtigen Dreh zu geben hat. Denn man traut dem unfreiwilligen Vernissagebesucher eine solche Fähigkeit zur Improvisation (und Reflektion) nicht wirklich zu (sie ist ein Wunder im Kosmos der Geschichte, der sich dadurch als wunderbar sprich kitschig darstellt).
Ich bin irritiert. Erst sagst du sprachlich wäre ein Bruch angemessen, dann beklagst du aber, dass du die Reflektionen dem Protag nicht zutraust, sondern den Autor hörst, also offensichtlich für dich ein Bruch vorhanden ist?
Dass jemand meint wenig über (bildende) Kunst zu wissen, heißt für mich nicht, dass er damit automatisch auch keinen Zugang zu Sprache hat. Da er erzählt, ist es ihm offensichtlich nicht fern, oder fremd, seine Eindrücke in Sprache umzusetzen, nur vielleicht nicht unbedingt mündlich, in der Begegnung und nicht zu einem Bild. Dass er unsicher ist, passt für mich und manich :) traue ihm das durchaus zu. Das Setting ist für mich vorbereitet, und zwar genau so, wie es für die Geschichte passt, sonst wäre es eine andere geworden?

Amanita,
Amanita hat geschrieben:Das Erscheinungsbild der "Hobbykünstlerin" wirkt auf mich ebenfalls, noch dazu "dilettantisch" (= sie macht das nicht oft und muss irgend'ne alte Kamelle anziehen, die ihr gar nicht mehr richtig passt).
Und: Künstler haben einen Sinn für Ästhetik - diese Frau aber eben (bei ihrem Outfit) nicht. Wäre sie ungünstig im Sinne von "verrückt" extravagant gekleidet - meinetwegen auch als "Wurst", aber eben auffällig-anders -, würde ich dem Autor das abnehmen.
Du schreibst, die Bewunderung würdest du ihm dann abnehmen. Für das Bild? Du meinst also, dass eine Frau, die sich unvorteilhaft kleidet keine "echte" Künstlerin sein kann, sie also auch kein Bild zeichnen können kann, das etwas in jemandem bewegt? Es wäre für dich nur stimmig, wenn im Text dann ein dilettantisches Bild gezeigt würde? Ne, oder?

Nera,
nera hat geschrieben:das problem ist für mich eher, wieso sich seine sichtweise auf ihre kunst plötzlich so ändert.
Wo siehst du denn überhaupt eine Veränderung seiner Sichtweise auf ihre Kunst? Er sagt doch zu Beginn überhaupt nichts über ihre Kunst, nur über den Kunstbetrieb, und sein eigenes bescheidenes Kunstverständnis. Vielleicht hat er noch nie ein Bild von ihr gesehen? "Hobby" ist doch kein Werturteil? Und dann sieht er dieses eine Bild und er sieht genauer hin, weil er für sie Worte dazu finden möchte, und es verselbständigt sich, nimmt ihn mit. Und selbst wenn er am Anfang sagen würde, dass er ihre Bilder furchtbar findet, warum sollte dann nicht dieses eine Bild trotzdem auf ihn wirken können?
nera hat geschrieben:"dann kann er ja kein arschloch sein und alles was er vorher geäußert hat, war nur ein spass" ehrlich gesagt, für mich hier einfach ein nicht nachvollziehbarer bruch, den man schreibtechnisch lösen könnte. warum sollte ich, nur weil mir sein flow zu dem bild zusagt, mir weiß gott welche gedanken machen, warum er am anfang so deppert ist?
Warum ist es für dich ein Bruch, wenn jemand menschlich ein Idiot ist, aber zu einem Kunstwerk etwas zu sagen hat? Für mich ist es in der Geschichte nicht so, aber selbst wenn ich davon ausgehe, verstehe ich den Zusammenhang nicht.
ich kann ja nicht alles mögliche in den ich-erzähler reiniterpretieren, nur weil mir seine assoziationen zu einem bild gefallen.
Aber du kannst in den Ich-erzähler reininterpretieren, weil dir seine Äußerungen nicht gefallen? Wenn "alles mögliche" meint, was in der Geschichte zu finden ist, was aus ihr heraus möglich ist, ist das doch ein guter Ansatz und wäre kein Reininterpretieren, sondern ein Interpretieren?
nera hat geschrieben:für mich geht es nicht darum, ob ich bei bestimmten schlüsselwörtern erzürne oder wie der protagonist über kunst spricht, sondern ob der text funktioniert.
Ja, tut er. ;-) Zumindest für mich. Und obwohl ich anders lese als Pjotr, hat seine Leseweise auch was.

Liebe Grüße
Flora
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

Benutzeravatar
Ylvi
Beiträge: 9470
Registriert: 04.03.2006

Beitragvon Ylvi » 19.02.2013, 08:56

Huhu Zefi,

Zefira hat geschrieben:Das führt jetzt zum Text weg, aber ich schrieb ja schon, ich finde das Thema sehr spannend und würde es gern allgemeiner diskutieren.
Magst du nicht einen Caféfaden dazu aufmachen?
(Welches Buch von Patricia Highsmith war das?)

Liebe Grüße
Flora
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

Benutzeravatar
Zefira
Beiträge: 5728
Registriert: 24.08.2006

Beitragvon Zefira » 19.02.2013, 09:09

Es war "Der süße Wahn". Der Titel könnte es einem ja schon sagen (im Original: "Sweet Sickness"), aber die Beschönigung, die in dem Titel steckt, charakterisiert das ganze Buch. Hier ist eine sehr treffende Rezension.
Ich wollte schon gestern eigentlich einen eigenen Faden dazu aufmachen. Das Problem ist die Wahl der Beispiele. Je geschickter ein Text den Charakter seiner "Helden" verbirgt, um so schwieriger ist es, einzelne Textstellen als Beispiel herauspicken zu können. Ich habe gerade ein Buch von Peter Stamm gelesen, dessen Held, ein Ich-Erzähler obendrein, ein unglaublich bornierter Idiot ist, aber ich könnte keinen einzigen Absatz herausgreifen, um das zu belegen.
@ Nifl: sorry fürs OT!
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)

Benutzeravatar
nera
Beiträge: 2216
Registriert: 19.01.2010

Beitragvon nera » 19.02.2013, 11:37

warum ich diese plötzliche erleuchtung nicht glaube? diesen bruch? weil ich es in der realität noch nir erlebt habe. im gegenteil, haben leute, egal wie gut sie sich ausdrücken können, die keinen zugang zur modernen kunst haben (zeitgenössisch, abstrakt, was auch immer) sich oft so aggresiv bei mir darüber geäußert, dass ich geschockt war. ein erlebnis vor nicht all zu langer zeit: wir traffen unerwartet auf einer vernissage einen (jungen) bekannten, akademiker, der dort nur war, weil seine partei wahlkampf machte. die parteikorona hat vornehm rumgestanden und am sekt genippt und er ist zu mir gestoßen, als ich mir die bilder ansah. er hat sich so abwertend und beleidigend über den maler ausgedrückt.....das ist kein einzelfall.
ich kann hier in diesem text, nachdem er sich so über hobbykunst und die frau geäußert hat, dem protag das "erleuchtungserlebnis" nicht abnehmen. es wiederspricht einfach meiner erfahrung, obwohl es ja schön wäre, nur ich traue es ihm einfach nicht zu, so wie er geschrieben ist.
aber es ist meine leseart und ich finde es spannend, dass andere anders lesen. das ist sehr berreichernd, weil es mir zeigt, wie texte funktionieren.

Benutzeravatar
Zefira
Beiträge: 5728
Registriert: 24.08.2006

Beitragvon Zefira » 19.02.2013, 11:54

Interessant. Ich habe mir eben noch einmal durchgelesen, mit Deinem Erlebnis im Hinterkopf, nera, was der Erzähler zu dem Bild sagt. Er macht den Eindruck, zwar zu meinen, was er sagt, aber es vor sich selbst nicht zulassen zu wollen (wie ein Filmheld, irgendein Cowboy, der zu einer Frau sagt: "Ich liebe dich ... aber was quatsche ich da für romantischen Scheiß, ich sollte mal meinen Kopp untersuchen lassen etc.") So gesehen spricht einiges für Pjotrs Deutung. Er will weder die Kunst mögen noch die Künstlerin, deshalb stellt er sie und sich selbst als Idioten dar, um ers mal grob auszudrücken, und schießt dabei übers Ziel hinaus. In Wirklichkeit weiß er von Anfang an sehr gut, was das Bild zeigt und wie es gemeint ist, und hat nur in seinem Innern eine Sperre aufgerichtet, vermutlich weil er verletzt wurde und sein einfühlsames Selbst nicht preisgeben will ...
.... aber was quatsche ich da. :ente:
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)

Benutzeravatar
nera
Beiträge: 2216
Registriert: 19.01.2010

Beitragvon nera » 19.02.2013, 12:18

lach...ich habe das ganz anders gelesen......dass er bieder und einsam ist und totale minderwertigkeitskomplexe hat und sich deshalb so distanziert verhält. trotzdem störe ich mich an den besagten zürnworten. alleinerziehend und übergewichtig denken vielleicht arbeitgeber beim einstellungsgespräch, aber kein freund. die denken dann vielleicht "ein bischen mollig" "hat ganz schön viel stress, so allein mit dem kind". wenn ich jemanden habe, der nur aus mitleid irgendwo hin geht, die arbeit als unwürdiges gestrampel abtut und hobbykunst (wie kann er das überhaupt bewerten, wenn er wenig ahnung hat,)glaube ich einfach nicht an eine bereitschaft, sich auf ihre kunst einzulassen. ich sehe nach wie vor keine sympathie des protagonisten für die künstlerin und eine ablehnende haltung dem ganzen kunstbetrieb gegenüber, aus welchen gründen jetzt auch immer. ich lese, dass er vordergründig aus mitleid hingeht, aber eigentlich aus einsamkeit. und dann ist mir der schluß, seine erleuchtung, zu märchenhaft.

Nifl
Beiträge: 3915
Registriert: 28.07.2006
Geschlecht:

Beitragvon Nifl » 19.02.2013, 18:05

Lisa hat geschrieben:in erster Linie wollte ich dem Faden etwas Lebendigkeit verleihen,

das ist dir gelungen. Ab sofort nenne ich dich nur noch Quotenlisa *hihi

Kapitän Pjotr! Also wenn dieser Text Grund für deinen Landgang (hoffentlich währet er lange) war, dann hat sich das Schreiben schon gelohnt.
Schön, dass du noch eine weitere Leseweise eröffnest, das freut mich.

Für mich sind die Argumente ausgetauscht (zB. nera, zum Hobby schrieb ich schon), jetzt wiederholt es sich langsam. Ich denke, ich werde in Zukunft "stigmatisierte Begrifflichkeiten" mit größerer Umsicht wählen, um den Reflextrigger der Leser nicht unnötig auszulösen.

Trotzdem möchte ich auch in Zukunft Protags mit Makeln und Ecken und Kanten. Ungebügelte, schroffe, verklemmte, antiheldenhafte und ä stammelnde Charaktere erschaffen. Mal sehen, ob ich das irgendwann auch mal für eine breitere Leserschaft hinbekomme.

Ich danke euch allen jedenfalls sehr fürs Einbringen und die Schilderungen der Probleme, ohne euer Feedback wäre ich da nie drauf gekommen.

Gruß
"Das bin ich. Ich bin Polygonum Polymorphum" (Wolfgang Oehme)

Benutzeravatar
Pjotr
Beiträge: 6790
Registriert: 21.05.2006

Beitragvon Pjotr » 19.02.2013, 19:26

Wie? Schon aus? Nifl? Alte Landräddee. Hallo Flora.

Nera, in meinem letzten Kommentar drückte ich mich unklar aus, aber Zefira hat das dann mit besseren Worten wiedergegeben: Ich wollte mitteilen, dass diese von Nera gedeutete "plötzliche Erleuchtung" für mich von vorn herein kein Glaubwürdigkeitsproblem darstellt, denn in meinen Augen bekommt er diese Erleuchtung überhaupt nicht.

Er ist schon vorher ziemlich erleuchtet. Daher sehe ich keinen Bruch. Am Anfang wird sein Frust geschildert. Oder Trotz. Gegen die Frau oder die Welt.

Außerdem, ebenso ziemlich am Anfang, zwischen den groben beleidigenden Gedanken, zeigt er seinen Sinn für feine Gestaltung indem er auf die gewellten Plastiktischdecken hinweist, die seitlich herunterhängen. So denkt kein grober Klotz. Diese Aufmerksamkeit ist für mich glaubwürdiger als die Beleidigung, aufgesetzt wirkt auf mich daher eher die Beleidigung, nicht seine gestalterische Aufmerksamkeit.

Den Bruch den ich sehe, ist also nicht der Wechsel vom Bohlen zum Beuys, sondern der Wechsel von der Unfreundlichkeit zur Freundlichkeit. Und den finde ich glaubwürdig. Das ist wirklich glaubwürdig, komm. Kreative Frauen sind nun mal unwiderstehlich, besonders die strammen.

Ein weiteres Detail, von Nifl brilliant formuliert: "... stecke die Hände in die Hosentaschen und biege die Arme durch."

Ich weiß jetzt nicht ob das Zufall war oder bewusst von Nifl psychologisch durchdacht, aber wenn ich das lese, dieses Armdurchbiegen, sehe ich einen schüchternen vor mir, einer, der sich schämt, nicht traut. Es gefällt ihm dort. Er steht nicht darüber. Er unterwirft sich.

Gute Regieführung, Nifl. War das Absicht?


Ahoi

P.


Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 12 Gäste