
Deine Nachbarin
Mein Kunstverständnis ist eher bescheiden, trotzdem gehe ich hin. Vielleicht, weil sie mir irgendwie leid tut. Dieses unwürdige Gestrampel der Hobbykünstler für ein bisschen Anerkennung. Vernissage, allein wie das Wort klingt. Jedenfalls nicht nach einer übergewichtigen Alleinerziehenden aus der Vorstadt, sondern nach Koks und goldenen Cocktailkleidern. Sie steht an einem runden Partytisch mit weißer Plastiktischdecke, die in gewellten Falten an den Seiten runterhängt. Um sie herum sind einige Gäste versammelt. Sie hat sich in einen schwarzen knielangen Rock gezwängt. Auf dem Tisch stehen einige Sektgläser und perlen vor sich hin. Sie ist nicht besonders groß und ihr Busen stößt an die Kante der Tischplatte. Sie wirkt aufgekratzt und gestikuliert mit den Armen, scheint sich blendend zu unterhalten. Ich werde sie auch später noch begrüßen können, gehe schnurstracks bis in den letzten Raum und bleibe vor der Wand stehen, als hätte ich dort den Notausgang erwartet und nicht ein Bild.
Es ist eine Bleistiftzeichnung eines Frauenkopfes. Das Gesicht ist nur zur Hälfte gezeichnet, als sei die Künstlerin nicht fertig geworden. Irgendwie fühle ich mich fehl am Platze, stecke die Hände in die Hosentaschen und biege die Arme durch. Was will ich nur hier. Wie lange kann man sich vor einem Bild rumdrücken, ohne dass es auffällt? Ich starre auf das Fischgrätenparkett, entdecke Schleifspuren, Pfuscher! Ob sie mich gesehen hat? Am besten ich verschwinde gleich wieder.
„Wie findest du denn dieses Bild?“
Ich hatte sie gar nicht bemerkt und zucke zusammen, als sei ich bei verbotenen Gedankengängen erwischt worden.
"Ich ä ich."
"Ja?"
Ich täusche Interesse vor und sehe das Bild an. Was will sie jetzt von mir hören? Dass hier offensichtlich jemand nicht fertig geworden ist und das Bild vermutlich durch ein Versehen ausgestellt wird? Ich kneife die Augen zusammen, als suchte ich etwas, was ich vorher übersehen hatte.
"Es sind keine Ecken oder Kanten auf dem Bild zu sehen, alles scheint einer einzigen Welle zu entspringen. Im ersten Augenblick könnte man denken, das Bild sei noch nicht fertig, aber es ist die Radierung, der Schliff der Welle, wenn sie sich vom Strand zurückzieht."
Eine radierende Welle, ich fasse es nicht!
Ich versuche abzulenken und frage: "Hast du schon mal was in den feuchten Sand geschrieben bevor die Welle kam?"
Sie schweigt.
"Ä, ja, jedenfalls ist die zweite Hälfte des Gesichtes das Meer. Das was man nicht zeigt, nicht zeigen kann. Die innere Hälfte sozusagen, die abgewandte Seite des Mondes. Insofern wäre ein vollständig gemaltes Gesicht nur ein halbes Gesicht. Ach was quatsche ich."
"Nein nein, erzähl bitte weiter."
Weiter? Was weiter? Jetzt habe ich den Salat. Doch fast wie von selbst flutschen mir weitere Worte über die Lippen.
"Manchmal schaut man in den Spiegel und meint sich ganz zu sehen. Dann streicht man sich über eine Gesichtshälfte, weil das nicht sein kann und bleibt mit den Fingerspitzen auf dem Augenlid liegen bis man wieder ganz halb ist und es im Augapfel blitzt."
Sie sagt nichts, aber irgendwie ist es ein verlangendes Nichts, also spinne ich weiter.
"Was verbergen wir? Kennt man sich jemals ganz?"
Sie legt eine Hand auf meine Schulter, als seien wir ein Paar. Ich bemerke, dass mich schon lange keiner mehr auf der Schulter berührt hat, überhaupt berührt hat. Es fühlt sich gut an. Ich bin am Ende mit meinem Latein. Aber bitte nicht die Hand wegnehmen.
"Die Auslassung ist eine Vielschichtigkeit. Es ist gut, dass dieses Bild keinen Rahmen hat, so reicht es über den Rand hinaus. Oder hat sie das halbe Gesicht verloren, weil es keinen Rahmen gab? Durch eine übergroße Offenheit, die einen einengt?"
Sie zieht die Hand wieder zurück. Scheiße.
"Nein, es ist Freiheit."
Nun legt sie von hinten ihre Arme um mich und schmiegt ihr Gesicht an mein Schulterblatt. Wie früher. Ich fühle ihre Lippen durch die Jacke und alles direkt auf meiner Haut.
"Mit wem sprichst du, Nachbar?" Schweißperlen glänzen auf ihrer Stirn. Mir ist, als sei ich vom Garagendach gesprungen und kann mich nicht genügend auf dem Boden der Realität abfedern.
Sie sieht mich an, als wäre ich ein ausgesetzter Hund und wir stehen eine Weile nur da bis sie sagt:
"Ja, das sieht ihr ähnlich" und hält mir ein Glas direkt vor die Nase.
Ich schüttele den Kopf.
"Danke für die Einladung."
Edit:
1)geduzte Erstfrage
2)keine Kleinkunst