Bildgeschichte

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Nifl
Beiträge: 3915
Registriert: 28.07.2006
Geschlecht:

Beitragvon Nifl » 10.02.2013, 13:20

Ich lade dich auf meine erste Vernissage ein. Würde mich freuen ... Blabla. Wir sprechen uns noch! :-)
Deine Nachbarin


Mein Kunstverständnis ist eher bescheiden, trotzdem gehe ich hin. Vielleicht, weil sie mir irgendwie leid tut. Dieses unwürdige Gestrampel der Hobbykünstler für ein bisschen Anerkennung. Vernissage, allein wie das Wort klingt. Jedenfalls nicht nach einer übergewichtigen Alleinerziehenden aus der Vorstadt, sondern nach Koks und goldenen Cocktailkleidern. Sie steht an einem runden Partytisch mit weißer Plastiktischdecke, die in gewellten Falten an den Seiten runterhängt. Um sie herum sind einige Gäste versammelt. Sie hat sich in einen schwarzen knielangen Rock gezwängt. Auf dem Tisch stehen einige Sektgläser und perlen vor sich hin. Sie ist nicht besonders groß und ihr Busen stößt an die Kante der Tischplatte. Sie wirkt aufgekratzt und gestikuliert mit den Armen, scheint sich blendend zu unterhalten. Ich werde sie auch später noch begrüßen können, gehe schnurstracks bis in den letzten Raum und bleibe vor der Wand stehen, als hätte ich dort den Notausgang erwartet und nicht ein Bild.
Es ist eine Bleistiftzeichnung eines Frauenkopfes. Das Gesicht ist nur zur Hälfte gezeichnet, als sei die Künstlerin nicht fertig geworden. Irgendwie fühle ich mich fehl am Platze, stecke die Hände in die Hosentaschen und biege die Arme durch. Was will ich nur hier. Wie lange kann man sich vor einem Bild rumdrücken, ohne dass es auffällt? Ich starre auf das Fischgrätenparkett, entdecke Schleifspuren, Pfuscher! Ob sie mich gesehen hat? Am besten ich verschwinde gleich wieder.

„Wie findest du denn dieses Bild?“
Ich hatte sie gar nicht bemerkt und zucke zusammen, als sei ich bei verbotenen Gedankengängen erwischt worden.
"Ich ä ich."
"Ja?"
Ich täusche Interesse vor und sehe das Bild an. Was will sie jetzt von mir hören? Dass hier offensichtlich jemand nicht fertig geworden ist und das Bild vermutlich durch ein Versehen ausgestellt wird? Ich kneife die Augen zusammen, als suchte ich etwas, was ich vorher übersehen hatte.
"Es sind keine Ecken oder Kanten auf dem Bild zu sehen, alles scheint einer einzigen Welle zu entspringen. Im ersten Augenblick könnte man denken, das Bild sei noch nicht fertig, aber es ist die Radierung, der Schliff der Welle, wenn sie sich vom Strand zurückzieht."
Eine radierende Welle, ich fasse es nicht!
Ich versuche abzulenken und frage: "Hast du schon mal was in den feuchten Sand geschrieben bevor die Welle kam?"
Sie schweigt.
"Ä, ja, jedenfalls ist die zweite Hälfte des Gesichtes das Meer. Das was man nicht zeigt, nicht zeigen kann. Die innere Hälfte sozusagen, die abgewandte Seite des Mondes. Insofern wäre ein vollständig gemaltes Gesicht nur ein halbes Gesicht. Ach was quatsche ich."
"Nein nein, erzähl bitte weiter."
Weiter? Was weiter? Jetzt habe ich den Salat. Doch fast wie von selbst flutschen mir weitere Worte über die Lippen.
"Manchmal schaut man in den Spiegel und meint sich ganz zu sehen. Dann streicht man sich über eine Gesichtshälfte, weil das nicht sein kann und bleibt mit den Fingerspitzen auf dem Augenlid liegen bis man wieder ganz halb ist und es im Augapfel blitzt."
Sie sagt nichts, aber irgendwie ist es ein verlangendes Nichts, also spinne ich weiter.
"Was verbergen wir? Kennt man sich jemals ganz?"
Sie legt eine Hand auf meine Schulter, als seien wir ein Paar. Ich bemerke, dass mich schon lange keiner mehr auf der Schulter berührt hat, überhaupt berührt hat. Es fühlt sich gut an. Ich bin am Ende mit meinem Latein. Aber bitte nicht die Hand wegnehmen.
"Die Auslassung ist eine Vielschichtigkeit. Es ist gut, dass dieses Bild keinen Rahmen hat, so reicht es über den Rand hinaus. Oder hat sie das halbe Gesicht verloren, weil es keinen Rahmen gab? Durch eine übergroße Offenheit, die einen einengt?"
Sie zieht die Hand wieder zurück. Scheiße.
"Nein, es ist Freiheit."
Nun legt sie von hinten ihre Arme um mich und schmiegt ihr Gesicht an mein Schulterblatt. Wie früher. Ich fühle ihre Lippen durch die Jacke und alles direkt auf meiner Haut.
"Mit wem sprichst du, Nachbar?" Schweißperlen glänzen auf ihrer Stirn. Mir ist, als sei ich vom Garagendach gesprungen und kann mich nicht genügend auf dem Boden der Realität abfedern.
Sie sieht mich an, als wäre ich ein ausgesetzter Hund und wir stehen eine Weile nur da bis sie sagt:
"Ja, das sieht ihr ähnlich" und hält mir ein Glas direkt vor die Nase.
Ich schüttele den Kopf.
"Danke für die Einladung."


Edit:
1)geduzte Erstfrage
2)keine Kleinkunst
Zuletzt geändert von Nifl am 16.02.2013, 18:08, insgesamt 5-mal geändert.
"Das bin ich. Ich bin Polygonum Polymorphum" (Wolfgang Oehme)

Benutzeravatar
Ylvi
Beiträge: 9470
Registriert: 04.03.2006

Beitragvon Ylvi » 17.02.2013, 15:09

nera hat geschrieben:zu den klischees- klar sind das klischees- es sind wertungen die direkt schubladen aufmachen (alleinerziehend-ihh, hat wohl keiner mit ihr ausgehalten, sexdefizit, emmanze/ übergewichtig- einsam, muss sich wohl glücklich futtern/ zu enger rock- ist wohl auf der suche, peinlich, kein geschmack) und ,ach, jesses noch hobbykünstlerin die verkrampft nach anerkennng sucht.
Huchgott :eek: ... ähm... meinst du nicht, dass du sie (und damit auch ihn) höchstselbst in deine Schubladen steckst, die du persönlich mit diesen Worten verbindest? Ich lese davon jedenfalls im Text nichts, auch nicht in seinem Verhalten ihr gegenüber. Die Feststellung "Alleinerziehend" kann doch auch Bewunderung ausdrücken, dass sie neben Beruf und Kindern auch noch Zeit und Energie für ihr Hobby/künstlerische Tätigkeit aufbringt. Übergewichtig ist für mich eine reine Feststellung und keine Wertung. Er sagt ja nicht "die fette Kuh" oder ähnliches und ich habe den Eindruck, dass sie ihm, wie sie ist, wesentlich näher und symphatischer ist, als die koksenden Cocktailkleidträgerinnen in der Kunstwelt seiner Vorstellung. Und der zu enge Rock, dazu hat Nifl ja schon geschrieben. Vielleicht denkt er einfach, dass es schade ist, dass sie meint, sich einzwängen, verbiegen, verstellen zu müssen, um einem Bild nachzueifern, um Anerkennung zu finden, um in diese Welt zu passen?
Und ihre Einladung lässt ja auch vielleicht den Rückschluss zu, dass sie es selbst nicht ganz so bitterernst sieht und sich auch selbst humorvoll betrachten kann?

Hallo Lisa,

Ich habe durchaus eine Vorliebe für schwache, verletzende oder abgründige, ja auch abstoßende und fragwürdige Protagonisten, aber es muss doch ein Anlass da sein, warum man (mit-)erleben möchte, was in dem Buch geschieht.
Ich staune immer noch. :) Kannst du dich an die Diskussion zu deinem Text "Die Liebkosung der Gebisse ..." erinnern? Da habe ich (und Leonie) glaube ich ganz ähnliches geschrieben und größte Empörung ausgelöst. .-)

Liebe Grüße
Flora
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

Benutzeravatar
nera
Beiträge: 2216
Registriert: 19.01.2010

Beitragvon nera » 17.02.2013, 15:33

nö flora, meine ich so, wenn es so wie oben beschrieben ist und wie ich ja schon dazu geschrieben habe, jemand der einen anderen mag, denkt dann gar nicht in diesen kategorien, wenn er überlegt, ob er zu einer einladung geht.
lg

Benutzeravatar
nera
Beiträge: 2216
Registriert: 19.01.2010

Beitragvon nera » 17.02.2013, 15:41

[

Wenn ich zB. -auch hier im Forum- von kaum besuchten Lesungen erfahre, obwohl der Künstler sehr viel Energie und Leidenschaft für alles aufgewendet hat, oder über Lyrikbände, die kaum verkauft werden, obwohl sie hochwertig sind und tausende Stunden Arbeit eingeflossen sind ... dann denke ich auch oft, warum tun die sich das an, wenn das so wenig gewürdigt wird.
[quote]


dazu möchte ich dann noch etwas sagen, obwohl es nicht zum text gehört. wieso tut sich jemand etwas an, etwas unwürdiges an? ich glaube, dass nur menschen, die genug selbstbewußtsein haben, sich so etwas antun und dass sie das nicht tun, um anerkennung nachzuhecheln, sondern weil sie glauben, dass das, was sie tun, gut genug ist, es der öffentlichkeit zu zeigen. die gefahr einen auf den deckel zu bekommen ist ja viel größer, als der, mit lob überschüttet zu werden.
lg


(irgendwie kann ich zitieren nicht....techniktrottel?)

Benutzeravatar
Lisa
Beiträge: 13944
Registriert: 29.06.2005
Geschlecht:

Beitragvon Lisa » 17.02.2013, 19:36

Lieber Flora,

na klar erinnere ich mich an die Diskussion zu den gebissen. Allerdings widerspricht meiner Meinung nach meine Position dort weder der meinen hier im Faden, noch finde ich, dass du dort das gesagt hast, was ich hier sage. Aber ich glaube, das wird eine Nummer zu kompliziert, das nun aufzudröseln.

liebe Grüße
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Benutzeravatar
Zefira
Beiträge: 5728
Registriert: 24.08.2006

Beitragvon Zefira » 18.02.2013, 00:08

Was den Aspekt "Wertungen" betrifft, möchte ich nun auch etwas dazu sagen; nicht zum Text selbst (vielleicht sollte man zu dem Thema wertende Schreibe überhaupt einen Extrafaden aufmachen), sondern zu diesem Thema allgemein.

Die Feststellung "Alleinerziehend" kann doch auch Bewunderung ausdrücken, dass sie neben Beruf und Kindern auch noch Zeit und Energie für ihr Hobby/künstlerische Tätigkeit aufbringt. Übergewichtig ist für mich eine reine Feststellung und keine Wertung. Er sagt ja nicht "die fette Kuh" oder ähnliches und ich habe den Eindruck, dass sie ihm, wie sie ist, wesentlich näher und symphatischer ist, als die koksenden Cocktailkleidträgerinnen in der Kunstwelt seiner Vorstellung. Und der zu enge Rock, dazu hat Nifl ja schon geschrieben. Vielleicht denkt er einfach, dass es schade ist, dass sie meint, sich einzwängen, verbiegen, verstellen zu müssen, um einem Bild nachzueifern, um Anerkennung zu finden, um in diese Welt zu passen?


Was ist wertend im Sinne des Autors selbst und was projiziert der Leser hinein? Ich empfinde die Charakterisierung "übergewichtige Alleinerziehende in engem Rock" als abwertend, bin mir aber nicht sicher, ob dieses Empfinden aus dem Text entspringt oder aus meiner Lesart. Eben diese Unsicherheit hat mich bisher gehindert, zu dem Text selbst etwas zu sagen. Es ist etwas darin, was mich wütend macht, aber ich bin nicht sicher, ob es der Text ist oder etwas in mir selbst, was der Text angepiekt hat. (Speziell bei Gewichtsfragen bin ich inzwischen auch extrem dünnhäutig geworden.)

Grüße von Zefira
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)

Benutzeravatar
Amanita
Beiträge: 5748
Registriert: 02.09.2010
Geschlecht:

Beitragvon Amanita » 18.02.2013, 09:02

Da sind das "Leidtun" und das "unwürdige Gestrampel" - für mich Voraussetzungen dafür, der "Hobbykünstlerin" sogleich ein armseliges Gepräge zu geben.

Zwar bin ich auch fett geworden, aber überhaupt nicht empfindlich (@ Zefira). Wäre nicht diese Einleitung und würde man der "Übergewichtigen" Herzlichkeit und/ oder Feuer in den Augen (oder so was) zuordnen, ihren Busen nicht vor den Tisch prallen lassen (oder es so humorvoll erzählen, wie eine humorvolle kleine dicke Person es von sich selbst vielleicht sagen würde) und sie selbst nicht in einen zu engen Rock quetschen (oder diesem Sachverhalt behende Bewegungen oder ähnliches gegenüber stellen), hätte ich wohl eher nicht den Eindruck einer herablassenden Wertung. So wie es da steht, kommt es für mich - wie für einige andere - aber sehr negativ und arrogant 'rüber. Was unterstützt wird durch das "alleinerziehend" - was hat das da überhaupt zu suchen? Das unterstützt doch noch einmal den Eindruck der Erbärmlichkeit: zu viel Stress, zu wenig Geld, zu wenig Schlaf - wenn es da schon steht, wertet man doch mit, ob man will oder nicht. Uns tut sie auch leid: Hat sie ihre Kinder vernünftig untergebracht? Kam sie nicht dazu, sich einen Rock zu kaufen, der wirklich passt?

Für mich als Leserin hat die Frau (zu Beginn, also über die Jahre der Bekanntschaft) null Ausstrahlung. Was zwar zur Hobbykunst passt; ich erinnere aber an das Aufjaulen meiner Acrylmalerin gegenüber. Mein Gott, was habt Ihr Euch aufgeregt. Aber die hatte keinen zu engen Rock an, deren Busen stieß nirgendwo an.

Zurück zu Nifls Text: Es fehlt mir zu Beginn an so etwas wie Selbstironie. Der Protagonist hat sich eventuell ja "vertan". Aber das müsste man zu Beginn irgendwie schon spüren können. So überzeugt mich - wie x-mal schon gesagt - einfach nicht, warum der Typ eine Kehrtwendung macht. Sowohl die "Hobbykunst" als auch die Frau erfahren eine wunderbare Aufwertung, und ich kapier' einfach nicht, warum.

Benutzeravatar
Zefira
Beiträge: 5728
Registriert: 24.08.2006

Beitragvon Zefira » 18.02.2013, 09:48

Ich stimme Dir zu, Amanita, weiß aber immer noch nicht, wo genau das Gefühl der Abwertung eigentlich herkommt. Denn Flora hat ja Recht, man könnte auch aufwertend lesen, wenn man möchte. Es beginnt ja schon mit dem Wort "Hobbykünstlerin": Warum empfinden wir (ich jedenfalls) dieses Wort als abwertend? Bei genauer Überlegung ist der Hobbykünstler dem Berufskünstler deutlich überlegen, weil er nicht den Gesetzen des Marktes unterworfen ist; es muss ja nicht von seiner Kunst leben. Deshalb frage ich mich, ob es nicht so etwas wie eigene Projektion ist, was da in die Lesart einfließt.
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)

Benutzeravatar
Ylvi
Beiträge: 9470
Registriert: 04.03.2006

Beitragvon Ylvi » 18.02.2013, 10:26

Amanita hat geschrieben:Was unterstützt wird durch das "alleinerziehend" - was hat das da überhaupt zu suchen? Das unterstützt doch noch einmal den Eindruck der Erbärmlichkeit: zu viel Stress, zu wenig Geld, zu wenig Schlaf - wenn es da schon steht, wertet man doch mit, ob man will oder nicht.

Amanita hat geschrieben:Für mich als Leserin hat die Frau (zu Beginn, also über die Jahre der Bekanntschaft) null Ausstrahlung. Was zwar zur Hobbykunst passt;

Mir stehen echt die Haare zu Berge, wenn ich das lese. "Alleinerziehend" unterstützt den Eindruck der Erbärmlichkeit??? Und warum passt null Ausstrahlung zu Hobbykunst???
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

Benutzeravatar
Amanita
Beiträge: 5748
Registriert: 02.09.2010
Geschlecht:

Beitragvon Amanita » 18.02.2013, 10:33

Ich kann nur aus meiner (sicher nur bruchstückhaften) Erfahrung sprechen: Das Wort "Hobbykünstler" kommt eigentlich nur dann auf, wenn jemand nicht so ganz ernstzunehmen ist bzw. sich selbst allzu ernst nimmt und gerade auf Begriffe wie "Vernissage" usw. abfährt.

Die allermeisten Künstler können ja gar nicht von ihrer Kunst leben und haben noch einen Brotberuf. (Ich habe eine Zeitlang von meiner Kunst gelebt, da waren die Zeiten noch besser; ich war ziemlich "stolz" - was gibt es verdammtnochmal für ein Wort dafür, ich meine es nämlich eher im Sinne von "zufrieden"-; dass ich mich selbst ernähren konnte, aber die ständige Panik, irgendwann meine Miete nicht mehr zahlen zu können, verfolgte mich wie ein böser Geist): Wer also Taxi fährt, um überhaupt seiner Kunst treu bleiben zu können, ist eben gerade kein "Hobbykünstler". Mit dem Markt hat es natürlich auch nichts zu tun - gute, avantgardistische Kunst verkauft sich oft schlechter als, na sagen wir "mittelprächtige"/ vielleicht konventionelle. Wer keine Stipendien, keine Preise erhält, mit denen seine vielleicht zukunftsweisende Kunst gewürdigt wird, sieht "alt" aus.

Hobbykünstler sind Autodidakten. Wobei das natürlich nichts Schlimmes oder Schlechtes ist - nur, siehe oben, wenn jemand gut ist (und ich habe einige KollegInnen), spielt das gar keine Rolle mehr, außerdem haben sie dann doch meist bei mehr oder weniger bedeutenden Leuten irgendeinen Unterricht genommen (wenn auch kein "echtes" Studium an einer Hochschule), so dass sich die Grenzen durchaus vermischen. "Einfach so", werden die wenigsten gute Künstler - obwohl es das natürlich gibt. Aber dann verschwindet diese Tatsache irgendwie in der Biografie, man würde eben nicht "Hobbykünstler" denken oder sagen, sondern: Künstler!

Und das ist für mich hier im Text genauso. Hätte der Typ für Kunst nix übrig, allerdings deutlich - den von mir jedenfalls geforderten - Respekt vor der Frau, würde er sie Künstlerin nennen, würde sagen, dass er nichts mit Kunst anfangen kann, aber wohl akzeptieren muss, dass es welche ist (oder so). Das Erscheinungsbild der "Hobbykünstlerin" wirkt auf mich ebenfalls, noch dazu "dilettantisch" (= sie macht das nicht oft und muss irgend'ne alte Kamelle anziehen, die ihr gar nicht mehr richtig passt).
Und: Künstler haben einen Sinn für Ästhetik - diese Frau aber eben (bei ihrem Outfit) nicht. Wäre sie ungünstig im Sinne von "verrückt" extravagant gekleidet - meinetwegen auch als "Wurst", aber eben auffällig-anders -, würde ich dem Autor das abnehmen. Hier wirkt es, siehe oben, aber nur kläglich auf mich.

Benutzeravatar
Amanita
Beiträge: 5748
Registriert: 02.09.2010
Geschlecht:

Beitragvon Amanita » 18.02.2013, 10:37

Flora, NUR in diesem Zusammenhang - NICHT in meinem "Weltbild" oder so. Um Himmels willen. Ich versuche hier aufzudröseln, wie der Zusammenhang beschaffen ist, damit es zum Eindruck einer negativen Wertung kommt.

Für MICH - wie gesagt - gehört das "alleinerziehend" da einfach nicht hin, es tut nichts zur Sache. Und da es dort aber steht, befindet es für mich im "Paket" mit Erscheinungsbild usw. und unterstützt die "Kläglichkeit", ja. Ich mache es, wie eben versucht, vor allem fest an diesem "Gestrampel": Ich glaube, das ist für mich ein wesentliches Wort, das das "Alleinerziehen" mit beeinflusst, ins Negative zieht.

Benutzeravatar
Amanita
Beiträge: 5748
Registriert: 02.09.2010
Geschlecht:

Beitragvon Amanita » 18.02.2013, 10:45

Mir stehen auch langsam die Haare zu Berge. "Vorstadt" ist auch noch so was. Gehört da auch nicht hin. Wenn es um Kunst geht, ist scheißegal *sorry*, wo jemand wohnt. Und ja, wenn die sich kennen, war er doch auch schon in ihrem Atelier ... ach, für mich ist das alles nicht stimmig.

Benutzeravatar
Zefira
Beiträge: 5728
Registriert: 24.08.2006

Beitragvon Zefira » 18.02.2013, 10:59

Ich denke, mit den Vokabeln "weil sie mir leid tut" und "unwürdiges Gestrampel" sind die Schilder aufgestellt. Der Erzähler fühlt sich der Künstlerin "irgendwie" überlegen, distanziert sich auf ironische Weise, und deshalb ist alles, was folgt, für mich abwertend zu lesen. Gerade bei der Vorstadt wird es zum Bumerang, denn er selbst wohnt ja auch in der Vorstadt, wenn er ihr Nachbar ist. Oder ist es in Ordnung, in der Vorstadt zu wohnen, vorausgesetzt, man macht nicht auf Künstler ...?
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)

Benutzeravatar
nera
Beiträge: 2216
Registriert: 19.01.2010

Beitragvon nera » 18.02.2013, 13:37

flora, du schreibst, "alleinerziehend" kann auch bewunderung ausdrücken. ja sicher, in einem anderen kontext sicher. es kann aber auch verachtung ausdrücken, dass sie von unterhaltleistungen eines ex lebt oder sozialamt. es kann! hier steht nur, dass "vernissage" nicht nach einer übergewichtigen alleinerziehenden klingt, die sich als hobbykünstlerin unwürdig abstrampel und dann auch noch in einem zu engen rock an einem mit einer plastikdecke(!) bedeckten tisch steht und aufgekratzt und wild gestikuliert.
hier kommt doch nicht ein funken von sympathie rüber? oder bewunderung? eher entsteht doch der eindruck, dass der protagonist sich fremdschämt? nach seinen kriterien ist das doch alles peinlich. passt nicht in die betuliche vorstadt. wenn man nur hobbykünstler ist, alleinerziehend, übergewichtig soll man sich doch bitte nicht so unwürdig zur schau stellen.
und wo bitte liest du aus der einladung selbstironie heraus? und warum überhaupt sollte sie selbstironisch sein? weil sie alleinerziehend ist oder hobbykünstlerin?

Benutzeravatar
Amanita
Beiträge: 5748
Registriert: 02.09.2010
Geschlecht:

Beitragvon Amanita » 18.02.2013, 14:02

Ja, der Kontext. Das ist doch das A und O für unsere Arbeit - egal ob mit Wort, Bild, Ton, Mixed Media -, Zusammenhänge zu schaffen, zu komponieren.
Im grünfarbigen Umfeld sehen manche Grautöne rosa aus. Will man Farbe "in die Bude" bringen, kann das ein willkommener Effekt sein; will man aber graue Elefanten auf grüner Steppe zeigen, wird der Rosahauch eher blöd aussehen.

So ähnlich geht es mir - und da stimme ich Nera nach wie vor (und immer wieder :) zu - mit der Alleinerziehenden. Wenn jemand "strampelt", und das auch noch "unwürdig", sehe ich das "alleinerziehend" als Mittel an, um den - wie auch immer - desolaten Eindruck zu verstärken. Da fehlt mir jede Art von Hinweis auf Bewunderung. Zu bewundern wäre jemand, der ganz im Gegenteil als "würdig" sein Schicksal meisternd geschildert wird, meinetwegen auch dem des Alleinerziehenmüssens oder mit was auch immer sonst.


Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 20 Gäste