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Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Nicole

Beitragvon Nicole » 01.01.2010, 17:35

„So Maus, jetzt gehen wir noch Wurst holen und dann ab zur Kasse.“ Ich strecke Lena die Hand hin und wir stellen uns in die Schlange. Zum Glück ist sie nicht sehr lang, nur ein Pärchen, das bereits bedient wird und eine ältere Dame, die über den Rand ihrer Brille hinweg die Auslagen begutachtet. Wie oft, wenn wir im Supermarkt anstehen, möchte meine Tochter nun kuscheln. Sie umfasst meinen Oberschenkel mit beiden Armen und drückt ihren Kopf fest an mich. Ich streichele ihr über das Haar und kitzele sie dabei hinter dem Ohr. Sie kichert und windet sich. Ich ziehe sie hoch, setze sie mir auf die Hüfte. Die ältere Dame neben uns ist durch die Albereien aufmerksam geworden und schaut herüber. Irgendwie kommt mir das Gesicht bekannt vor. Ich weiß nur nicht, wo ich es hinstecken soll. Über Lenas Kopf hinweg betrachte ich sie genauer. Eine schlanke ältere Dame, gepflegter, grauer Pagenkopf, gerade Haltung. Aber irgendwas … irgendwas stimmt nicht. Ich kann es nicht fassen, es ist fast wie bei dem Original und Fälschung Bild in der Fernsehzeitung. Ich schaue erneut hin und stelle fest, dass sie mich ebenfalls mustert. „Dann hat es also doch noch geklappt?“ fragt sie und schaut erst Lena an, dann mir in die Augen. Natürlich. Jetzt erinnere ich mich auch.

Ich wurde morgens gegen drei Uhr mit fürchterlichen Unterleibsschmerzen wach. Etwas stimmte nicht. Im Bad war ich dann auch nicht wirklich überrascht, als ich das Blut bemerkte. Der Frauenarzt bestätigte kurz darauf, was ich bereits wusste. „Ach, da geht ja schon alles ab. Da ist nichts mehr zu machen. Ich schreibe Ihnen dann mal eine Überweisung in die Klinik, zur Ausschabung.“ Wie lapidar das klang. Als wäre er gerade dabei, mir einen Hustensaft aufzuschreiben. Danach kam mir alles vor, als schaute ich einen Kinofilm, dessen Hauptdarstellerin mir verblüffend ähnlich sah. Die Fahrt zum Krankenhaus, die Aufnahme. Auf dem Flur sitzen, warten. Eine Schwester. „Na, dann kommen Sie mal mit.“ Die beige-gelbe Wände, melierter PVC-Boden. Hellgraue Quadrate mit dunklen Fugen. An der Wand die üblichen Beschriftungen „zum Aufzug“, „zur Cafeteria“. Vor einem Raum mit der Aufschrift „Schwesternzimmer“ blieben wir stehen.“Warten Sie einen Moment, bitte.“ Schon war die Schwester verschwunden, ich lehnte mich gegen die Wand und schloss die Augen. Den Flur weiter runter hörte ich ein Baby schreien. Ich konzentrierte mich auf das Gespräch hinter der nur angelehnten Tür.“ Hallo, Marie. Was bringst Du mir, lass mal sehen. Ja, was soll ich denn damit? Nein, nein, das geht doch nicht. Nicht auf die Wöchnerinnenstation. Ruf in der Inneren an, vielleicht ist da Platz!“ Kurz darauf war die Schwester wieder bei mir. „Ich bringe sie auf eine andere Station.“
Schließlich landete ich in einem Dreibettzimmer. Direkt an der Tür lag eine Frau Ende dreißig, im mittleren Bett eine ältere Frau. Auf beiden Nachttischen Blumensträuße. Ich murmelte „Hallo.“, legte mich in das freie Bett und rollte mich zusammen. Ich spürte, dass beide Frauen mich ansahen. Ich wollte nicht reden, tat so, als sei ich eingeschlafen. Was die alte Dame nicht zu stören schien. „Weshalb sind Sie denn hier?“ Ich drehte mich in ihre Richtung. „ Ich hatte eine Fehlgeburt.“ Ich blinzelte die Tränen weg und schaute sie trotzig an. „ Die Reste werden morgen ausgeschabt.“ „Oh, das tut mir leid.“ Sie nickte mitfühlend. „Das ist schlimm. Mir wurden vorgestern beide Brüste entfernt. Brustkrebs. Meine Tochter“, sie deutet mit dem Kopf auf die jüngere Frau an der Tür, „meine Tochter war zur Vorsorgeuntersuchung, wissen Sie. Da wurde ein Knoten in ihrer linken Brust festgestellt. Bösartiger Tumor. Sie hat dann darauf bestanden, dass ich auch zur Untersuchung gehe. Und was glauben Sie? Bei mir haben Sie den Krebs auch gefunden. Aber auf beiden Seiten. Und dann sind wir beide zusammen ins Krankenhaus gegangen, ich wurde einen Tag nach meiner Tochter operiert.“ „Ach Mutter!“ Ihre Tochter unterbrach sie. „Nun lass die Frau doch in Ruhe! Sie hat sicher anderes im Kopf!“ „Wissen Sie“ sie richtete sich vorsichtig ein wenig auf „Mutter ist böse mit mir, dass ich sie zur Untersuchung geschickt habe. Sie meint, sie wäre zu alt für so was … Aber jetzt lassen wir Sie in Ruhe!“ Ein scharfer Blick zu ihrer Mutter. Ich nickte wortlos.
Am nächsten Morgen ganz früh war mein OP-Termin. Eine Kleinigkeit, kaum zwei Stunden später war ich wieder im Zimmer. Leer. Und unangemessen ausgeruht und schmerzfrei. Ich döste eine Weile, bis ein leises Klopfen an der Tür Besuch ankündigte. Ein großer Mann mit Brille betrat den Raum und küsste die Jüngere von beiden. Sie flüsterten ein wenig, dann kramte er aus dem Schrank einen Bademantel hervor und half ihr behutsam aus dem Bett. Im Glauben, ich schlafe, erklärten sie der Mutter leise, dass sie einen Kaffee in der Cafeteria trinken gehen und ihr von dort dann ein Stück Kuchen mitbringen würden. Die alte Frau ermahnte ihre Tochter noch, an die Vorführung in einer Stunde zu denken. Eine Vorführung? Im Krankenhaus? Was sollte das werden? Ich musste wohl kurz die Augen aufgemacht haben, denn schon begann die alte Frau wieder, mit mir zu sprechen. „Ach wissen Sie, der Manfred, das ist ein wirklich guter Mann. Ich habe ja schon gedacht, meine Tochter würde gar keinen Mann mehr finden, so viel, wie sie gearbeitet hat. Hatte gar keine Freizeit, immer nur im Büro… Und sie ist ja auch schon fast vierzig. Aber dann hat sie Manfred kennen gelernt. Vor knapp einem Jahr haben die beiden geheiratet. Gerade wollten sie in Urlaub, als die Diagnose kam. Wissen Sie, bei einer alten Frau wie mir, ist das ja nicht mehr so schlimm. Ich habe doch mein Leben schon gelebt. Wen interessiert da, ob ich noch eine Brust habe, oder nicht. Aber Gudrun! Ich hoffe nur, dass Manfred Gudrun auch mit nur einer Brust noch liebt…“ Sie plappert noch eine Weile auf mich ein, erzählte in allen Einzelheiten von der Hochzeit ihrer Tochter, schwenkte dann zu der Tochter ihrer Nachbarin, die gerade in Scheidung lebte. Ich hörte ihr nicht wirklich zu. Ich nickte hin und wieder und war im Grunde nur froh über dieses Hintergrundrauschen, das jedweden eigenen Gedanken unmöglich machte. Dann kamen Manfred und Gudrun wieder. Er saß an ihrem Bett, hielt ihre Hand und erzählte leise von den Geranien, die er gerade an dem Morgen für ihren Balkon gekauft hatte. Die Tür ging auf und eine rundliche Frau Mitte fünfzig mit einer großen Arzttasche betrat den Raum. „Guten Tag!“ flötete sie gutgelaunt. „Ich bin Frau Wiesner-Mann. Ich wollte Ihnen gerne die Brustprothesen zeigen.“ Mit einer schwungvollen Bewegung legte sie die Tasche auf den Tisch an der gegenüberliegenden Wand des Raumes. Mit einem geradezu fröhlichen „Klack“ ließ sie die Verschlüsse der Tasche aufschnappen. Manfred verabschiedete sich rasch und verließ den Raum.
Frau Wiesner-Mann lächelte Gudrun freundlich an. „Na, was haben Sie denn für eine Körbchengröße in Ihren BH’s? Haben Sie einen bereit gelegt, wie besprochen? Wir wollen den doch wieder gut ausfüllen, nicht wahr?“ Gudrun antwortete „80 C.“ und zog einen hautfarbenen Spitzen-BH aus der Schublade ihres Nachttisches. „Oh, der ist aber schön! Darin gefallen Sie ihrem Mann aber sicher sehr, sehr gut.“ gurrte Frau Wiesner-Mann und ignorierte den entsetzten Blick Gudruns. Frau Wiesner-Mann inspizierte den Inhalt des Koffers „Dann schau ich doch mal, das ist ja eine ganz gängige Größe, die habe ich bestimmt dabei…“ und zog mit einem triumphierenden „Na, wer sagt es denn!“ einen milchig-hautfarbenen Beutel in Brustform heraus. „So, dann werde ich Ihnen das mal zeigen.“ Sie hielt Gudruns BH mit an den Rückenträgern fest und platzierte die Ersatzbrust auf der rechten Seite. „Es ist die linke…“ wandte Gudrun leise ein. „Oh, dann hat man mir wohl etwas Falsches aufgeschrieben. In meinen Unterlagen steht rechts. Aber macht nichts, dann nehmen wir eben das Gegenstück. Wir wollen ja nicht, dass ihre Brust nachher in die falsche Richtung zeigt, gell?“ Flugs holte sie eine andere Prothese aus ihrem Koffer und plauderte munter weiter. „ So, nun schauen Sie mal. Das sieht doch richtig gut aus, oder?“ Sie hielt den BH nun an den Schulterträgern hoch, sodass auf der linken Seite die gefüllte Schale prall nach vorne stand. Bei diesem Anblick zog sich mein Magen zusammen und ich schluckte hörbar. Frau Wiesner-Mann warf mir einen strafenden Blick zu und wendete sich dann wieder Gudrun zu. „Nun, für die erste Zeit, bis die Narben wirklich abgeheilt sind, bekommen Sie von mir eine vorläufige Prothese, eine textile Erstprothese. Die Kosten übernimmt die Krankenkasse zu hundert Prozent. Die wird einfach in den BH eingelegt. Wenn dann die Verbände runter sind und alles schön verheilt ist, kriegen Sie eine Silikonprothese. Hier übernimmt die Kasse auch die kompletten Kosten. Einen Prothesen-BH brauchen Sie dann noch, da müssen Sie aber je Modell noch etwas draufzahlen. Diese Basis-Prothesen haben zwar noch keine Brustwarzen, aber Sie können sich aufklebbare Mamillen kaufen. Die gibt es sogar in verschiedenen Hauttönen.“ Frau Wiesner-Mann machte eine kurze Pause, ließ den Blick über ihre Zuhörerinnen schweifen. Auch ich hatte mich aufgerichtet und verfolgte den Vortrag mit schauderndem Interesse. „Wenn Sie es etwas komfortabler möchten, empfehle ich Ihnen, mit selbsthaftenden Prothesen zu arbeiten oder mit befestigbaren. Die selbsthaftenden sind aus Silikon und haben eine Haftschicht auf der Rückseite, die sie erst fest auf die Haut drücken und dann durch einen BH fixieren. Da brauchen Sie dann auch keinen Prothesen-BH mehr, sondern können Ihre alten einfach weiter benutzen. Und die befestigbaren Prothesen, das ist dann der Mercedes unter den Prothesen! Ich zeig sie Ihnen mal.“ Frau Wiesner-Mann wühlte kurz in ihrem Koffer und zog das Gewünschte heraus. „Schauen Sie. Dieses Teil kleben Sie auf die saubere, enthaarte Haut.“ Sie hielt eine nierenförmige, etwas stärkere Plastikfolie in die Höhe. „Die sitzt dann so fest, dass sie mindestens eine Woche drauf bleiben kann. Auch beim Duschen. Auf der Oberseite sind so Flauschteile und auf der Innenseite der Prothese ist ein Klettteil angebraucht. Das ist dann so fest, sie können sogar auf den BH verzichten. Ist wirklich super bei rückenfreier Kleidung. Dann macht die Prothese auch jede Bewegung mit und sieht dabei richtig natürlich aus.“ Frau Wiesner-Mann unterstrich die Vorteile der befestigbaren Prothese dadurch, das sie den am Fußende von Gudruns Bett liegenden BH mit einer raschen Bewegung hochzog und mit ihm heftige Wippbewegungen vollführte. Gudrun starrte den baumelnden, halbseitig gefüllten BH an. Frau Wiesner-Mann wendete sich nun der Mutter zu. „So, Frau Klauser. Eigentlich komme ich ja erst morgen zu Ihnen, aber wo wir gerade so schön bei der Sache sind, wollen wir doch auch direkt für Sie die Erstprothese raussuchen, gell?“ Sie musterte die Angesprochene kurz, schaute dann auf Ihre Unterlagen. „Welche Brustgröße hatten Sie denn vor der OP? Ah, ich seh’ schon, 85 A. Na, dann ist der Unterschied zu vor der OP ja nicht so schrecklich groß, nicht wahr? Ich lege Ihnen auch mal ein Paar Erstprothesen hin. Ich denke, Sie brauchen später dann nur ganz kleine Einlagen, oder möchten Sie ganz darauf verzichten?“

Plötzlich fällt mir auf, was mich am Erscheinungsbild der alten Dame so irritierte. Die linke Brust ist deutlich größer als die rechte. „Ja, ich erinnere mich.“ Ich nicke, setze Lena ab und streiche ihre zerzausten Haare glatt. „Wie geht es Ihnen? Haben Sie alles gut überstanden?“ Die alte Dame nickt. „Ja, danke, alle Nachuntersuchungen sind in Ordnung. Sie haben bei der OP alles entfernt. Kein Krebs mehr.“ „ Das freut mich sehr. Und Ihre Tochter? Wie geht es denn … Gudrun? Hat sie die Reise mit ihrem Mann inzwischen nachgeholt?“ Frau Klauser sieht auf Lena herunter, schaut mir dann wieder in die Augen. „Gudrun ist vorletztes Jahr im Sommer gestorben.“ erwidert sie leise. Ich weiß nicht, was ich sagen soll und ziehe Lena unwillkürlich näher an mich heran. „Oh Gott, das tut mir wirklich sehr leid. Wie…“ „Metastasen in den Lymphknoten. Es ging ganz schnell.“ Ich schaue betreten zu Boden und unterdrücke den Impuls, mit meinem Kind auf dem schnellsten Weg den Supermarkt zu verlassen. Die alte Dame beugt sich zu Lena herunter und streichelt ihr sanft über die Wange. „Sie haben wirklich eine hübsche kleine Tochter. Ich wünsche Ihnen beiden alles Gute.“ Gedankenverloren streicht sie mit der Hand über ihre linke Brust, lässt sie dann dort ruhen und blickt mich an. „Ich beneide Sie. Ich wünschte, meine Tochter könnte mir so nahe sein.“

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 05.01.2010, 21:17

Hallo,

vielleicht noch zu dem sexuell übergriffigen: Bei mir ist es so: Da die Muttertochterbeziehung (doppelt) harmonisch/verbunden/ruhig/wirkt, kommt bei mir so ein Frauenclan/quiltgefühl auf, das verhindert, dass ich das Tragen der Brustprothese als sexuell übergriffig empfinde, vielmehr scheint mir die Sexualität der Frauen eine "gemeinschaftliche" Sexaulaität und Nichtsexualität. Zugleich ist für mich außenstehende nicht so "gesund/gesichert/vertraut fühlende das Tragen der Prothese durch die Mutter natürlich trotzdem fremd - und dass gibt für mich zusammen dann gerade die richtige Mischung, gerade die Verbundenheit zu spüren: so ist es eben wie ich schon mal verglich auch in guten skurrilen/makaberen Filmen: Oft wird eine Bezihung durch absurde Handlungen verstärkt, indem durch irgendetwas geheimes gerade durch die jeiwele skurriel/makabere Handlung die Beziehung gerade eben nicht entwertet sondern besonders ausgezeichnet wird. Ich finde das gut.

Nun zu den Tippseln etc. (ich habe zwar genauer gelesen, aber bestimmt nicht alles gesehen, außerdem habe ich nicht die zeichensetzung bei der wörtlichen Rede korrigiert, das war mir zuviel Fiseleditieren, das kannst du ja selbst durchgehen:

Schmunzelnd betrachte ich Lena, wie sie hochkonzentriert ein Glas Nutella aus dem Regal holt und dann strahlend im Kindereinkaufswagen verstaut. „So Maus, jetzt gehen wir noch Wurst holen und dann ab zur Kasse.“ An der Fleischtheke angekommen, strecke ich meiner Tochter die Hand hin und wir stellen uns in die Schlange. Zum Glück ist sie nicht sehr lang, nur ein Pärchen, das bereits bedient wird (Komma) und eine ältere Dame, die über den Rand ihrer Brille hinweg die Auslagen begutachtet. Wie oft, wenn wir im Supermarkt anstehen, möchte meine Tochter nun kuscheln. Sie umfasst meinen Oberschenkel mit beiden Armen und drückt ihren Kopf fest an mich. Ich streichele ihr über das Haar und kitzele sie dabei hinter dem Ohr. Sie kichert und windet sich. Ich ziehe sie hoch, setze sie mir auf die Hüfte und drücke sie fest an mich. Die ältere Dame neben uns ist durch die Albereien aufmerksam geworden und schaut herüber. Sie lächelt[/b. Irgendwie kommt mir das Gesicht bekannt vor. Ich weiß nur nicht, wo ich es hinstecken soll. Über Lenas Kopf hinweg betrachte ich sie genauer. Eine schlanke ältere Dame, gepflegter, grauer Pagenkopf, gerade Haltung. Aber [b]irgendwas … Irgendwas stimmt nicht. Ich kann es nicht fassen, es ist fast wie bei dem Original- und Fälschung-Bild in der Fernsehzeitung. Ich schaue erneut hin und stelle fest, dass sie mich ebenfalls nachdenklichmustert. Hier würde ich noch einen Satz einfügen, der überbrückt, dass sie auch nachdenkt, sonst zu plötzlich „Dann hat es also doch noch geklappt?“, fragt sie und schaut erst Lena an, dann mir in die Augen. Natürlich. Jetzt erinnere ich mich auch.

Ich wurde morgens gegen drei Uhr mit fürchterlichen Unterleibsschmerzen wach. Etwas stimmte nicht. Im Bad war ich dann auch nicht wirklich überrascht, als ich das Blut bemerkte. Der Frauenarzt bestätigte kurz darauf, was ich bereits wusste. „Ach, da geht ja schon alles ab. Da ist nichts mehr zu machen. Ich schreibe Ihnen dann mal eine Überweisung in die Klinik, zur Ausschabung.“ Wie lapidar das klang. Als wäre er gerade dabei, den Rezeptblock gezückt, um, mir einen Hustensaft aufzuschreiben. Danach kam mir alles vor, als schaute ich einen Kinofilm, dessen Hauptdarstellerin mir verblüffend ähnlich sah. Die Fahrt zum Krankenhaus, die Aufnahme. (Leerzeichen gelöscht) Auf dem Flur sitzen, warten. Eine Schwester. „Na, dann kommen Sie mal mit.“ Die beige-gelben Wände, melierter PVC-Boden. Hellgraue Quadrate mit dunklen Fugen. An der Wand die üblichen Beschriftungen: „zum Aufzug“, „zur Cafeteria“. Vor einem Raum mit der Aufschrift „Schwesternzimmer“ blieben wir stehen.“Warten Sie einen Moment, bitte.“ Schon war die Schwester verschwunden, ich lehnte mich gegen die Wand und schloss die Augen. Den Flur weiter runter hörte ich ein Baby schreien. Ich konzentrierte mich auf das Gespräch hinter der nur angelehnten Tür.“ Hallo, Marie. Was bringst Du mir, lass mal sehen. Ja, was soll ich denn damit? Nein, nein, das geht doch nicht. Nicht auf die Wöchnerinnenstation. Ruf in der Inneren an, vielleicht ist da Platz!“ Kurz darauf war die Schwester wieder bei mir. „Ich bringe sie auf eine andere Station.“
Schließlich landete ich in einem Dreibettzimmer. Direkt an der Tür lag eine Frau Ende dreißig, im mittleren Bett eine ältere Frau. Auf beiden Nachttischen Blumensträuße. Ich sagte „Hallo.“, legte mich in das freie Bett und rollte mich zusammen. Ich spürte, dass beide Frauen mich ansahen. Ich wollte nicht reden und, tat so, als sei ich eingeschlafen. Was die alte Dame nicht zu stören schien. „Weshalb sind Sie denn hier?“ Ich drehte mich in ihre Richtung. „ Ich hatte eine Fehlgeburt.“ Ich blinzelte die Tränen weg und schaute sie trotzig an. „ Die Reste werden morgen ausgeschabt.“ „Oh, das tut mir leid.“ Sie nickte mitfühlend. „Das ist schlimm. Mir wurden vorgestern beide Brüste entfernt. Brustkrebs. Meine Tochter“, sie deutet mit dem Kopf auf die jüngere Frau an der Tür, „meine Tochter war zur Vorsorgeuntersuchung, wissen Sie. Da wurde ein Knoten in ihrer linken Brust festgestellt. Bösartiger Tumor. Sie hat dann darauf bestanden, dass ich auch zur Untersuchung gehe. Und was glauben Sie? Bei mir haben Sie den Krebs auch gefunden. Aber auf beiden Seiten. Und dann sind wir beide zusammen ins Krankenhaus gegangen, ich wurde einen Tag nach meiner Tochter operiert.“ „Ach Mutter!“ Ihre Tochter unterbrach sie. „Nun lass die Frau doch in Ruhe! Sie hat sicher anderes im Kopf!“ „Wissen Sie“, sie richtete sich vorsichtig ein wenig auf, „Mutter ist böse mit mir, dass ich sie zur Untersuchung geschickt habe. Sie meint, sie wäre zu alt für so was … Aber jetzt lassen wir Sie in Ruhe!“ Ein scharfer Blick zu ihrer Mutter. Ich nickte wortlos.
Am nächsten Morgen ganz früh war mein OP-Termin. Eine Kleinigkeit, kaum zwei Stunden später war ich wieder im Zimmer. Leer. Und unangemessen ausgeruht und schmerzfrei. Ich döste eine Weile, bis ein leises Klopfen an der Tür Besuch ankündigte. Ein großer Mann mit Brille betrat den Raum und küsste die Jüngere von beiden. Sie flüsterten ein wenig, dann kramte er aus dem Schrank einen Bademantel hervor und half ihr behutsam aus dem Bett. Im Glauben, ich schlafe,(warum müssen sie das glauben? erklärten sie der Mutter leise, dass sie einen Kaffee in der Cafeteria trinken gehen und ihr von dort dann ein Stück Kuchen mitbringen würden. Die alte Frau ermahnte ihre Tochter noch, an die Vorführung in einer Stunde zu denken. Eine Vorführung? Im Krankenhaus? Was sollte das werden? Ich musste wohl kurz die Augen aufgemacht haben, denn schon begann die alte Frau wieder, mit mir zu sprechen. „Ach wissen Sie, der Manfred, das ist ein wirklich guter Mann. Ich habe ja schon gedacht, meine Tochter würde gar keinen Mann mehr finden, so viel, wie sie gearbeitet hat. Hatte gar keine Freizeit, immer nur im Büro… Und sie ist ja auch schon fast vierzig. Aber dann hat sie Manfred kennen gelernt. Vor knapp einem Jahr haben die beiden geheiratet. Gerade wollten sie in Urlaub, als die Diagnose kam. Wissen Sie, bei einer alten Frau wie mir, ist das ja nicht mehr so schlimm. Ich habe doch mein Leben schon gelebt. Wen interessiert da, ob ich noch eine Brust habe, oder nicht. Aber Gudrun! Ich hoffe nur, dass Manfred Gudrun auch mit nur einer Brust noch liebt…“ Sie plappert noch eine Weile auf mich ein, erzählte in allen Einzelheiten von der Hochzeit ihrer Tochter, schwenkte dann zu der Tochter ihrer Nachbarin, die gerade in Scheidung lebte. Ich hörte ihr nicht wirklich zu. Ich nickte hin und wieder und war im Grunde nur froh über dieses Hintergrundrauschen, das jedweden eigenen Gedanken unmöglich machte. Dann kamen Manfred und Gudrun wieder. Er saß an ihrem Bett, hielt ihre Hand und erzählte leise von dem Geranien, die er gerade an dem Morgen für ihren Balkon gekauft hatte. Die Tür ging auf und eine rundliche Frau Mitte fünfzig mit einer großen Arzttasche betrat den Raum. „Guten Tag!“ flötete sie gutgelaunt. „Ich bin Frau Wiesner-Mann. Ich wollte Ihnen gerne die Brustprothesen zeigen.“ Mit einer schwungvollen Bewegung legte sie die Tasche auf den Tisch an der gegenüberliegenden Wand des Raumes. Mit einem geradezu fröhlichen „Klack“ ließ sie die Verschlüsse der Tasche aufschnappen. Manfred verabschiedete sich rasch und verschwand.
Frau Wiesner-Mann war wirklich ein Paradebeispiel der resoluten, gut gelaunten „Ihnen braucht nichts peinlich zu sein, ist doch alles ganz natürlich“ Schwester. Sielächelte Gudrun freundlich an. „Na, was haben Sie denn für eine Körbchengröße in Ihren BH’s? Haben Sie einen bereit gelegt, wie besprochen? Wir wollen den doch wieder gut ausfüllen, nicht wahr?“ Gudrun antwortete „80 C.“ und zog einen hautfarbenen Spitzen-BH aus der Schublade ihres Nachttisches. „Oh, der ist aber schön! Darin gefallen Sie Ihrem Mann aber sicher sehr, sehr gut.“ gurrte Frau Wiesner-Mann und ignorierte den entsetzten Blick Gudruns. Frau Wiesner-Mann inspizierte den Inhalt des Koffers „Dann schau ich doch mal, das ist ja eine ganz gängige Größe, die habe ich bestimmt dabei“ und zog dannmit einem triumphierenden „Na, wer sagt es denn!“ einen milchig-hautfarbenen Beutel in Brustform heraus. „So, dann werde ich Ihnen das mal zeigen.“ Sie hielt Gudruns BH mit an den Rückenträgern fest und platzierte die Ersatzbrust auf der rechten Seite. „Es ist die linke…“, wandte Gudrun leise ein. „Oh, dann hat man mir wohl etwas Falsches aufgeschrieben. In meinen Unterlagen steht rechts. Aber macht nichts, dann nehmen wir eben das Gegenstück. Wir wollen ja nicht, dass ihre Brust nachher in die falsche Richtung zeigt, gell?“ Flugs holte sie eine andere Prothese aus ihrem Koffer und plauderte munter weiter. „ So, nun schauen Sie mal. Das sieht doch richtig gut aus, oder?“ Sie hielt den BH nun an den Schulterträgern hoch, sodass auf der linken Seite die gefüllte Schale prall nach vorne stand. Bei diesem Anblick zog sich mein Magen zusammen und ich schluckte hörbar. Frau Wiesner-Mann warf mir einen strafenden Blick zu und wendete sich dann wieder Gudrun zu. „Nun, für die erste Zeit, bis die Narben wirklich abgeheilt sind, bekommen Sie von mir eine vorläufige Prothese, eine textile Erstprothese. Die Kosten übernimmt die Krankenkasse zu hundert Prozent. Die wird einfach in den BH eingelegt. Wenn dann die Verbände runter sind und alles schön verheilt ist, kriegen Sie eine Silikonprothese. Hier übernimmt die Kasse auch die kompletten Kosten. Einen Prothesen-BH brauchen Sie dann noch, da müssen Sie aber je Modell noch etwas draufzahlen. Diese Basis-Prothesen haben zwar noch keine Brustwarzen, aber Sie können sich aufklebbare Mamillen kaufen. Die gibt es sogar in verschiedenen Hauttönen.“ Frau Wiesner-Mann machte eine kurze Pause, lies den Blick über ihre Zuhörerinnen schweifen. Auch ich hatte mich aufgerichtet und verfolgte den Vortrag mit schauderndem Interesse. „Wenn Sie es etwas komfortabler möchten, empfehle ich Ihnen, mit selbsthaftenden Prothesen zu arbeiten oder mit befestigbaren. Die selbsthaftenden sind aus Silikon und haben eine Haftschicht auf der Rückseite, die sie erst fest auf die Haut drücken und dann durch einen BH fixieren. Da brauchen Sie dann auch keinen Prothesen-BH mehr, sondern können Ihre alten einfach weiter benutzen. Und die befestigbaren Prothesen, das ist dann der Mercedes unter den Prothesen! Ich zeig Ihnen sie mal.“ Frau Wiesner-Mann wühlte kurz in ihrem Koffer und zog das Gewünschte heraus. „Schauen Siemal. Dieses Teil kleben Sie auf die saubere, enthaarte Haut.“ Sie hielt eine nierenförmige, etwas stärkere Plastikfolie in die Höhe. „Die sitzt dann so fest, dass sie mindestens eine Woche drauf bleiben kann. Auch beim Duschen. Auf der Oberseite sind so Flauschteile und auf der Innenseite der Prothese ist ein Klettteil angebraucht. Diese Prothese sitzt so fest, dass sie auf den BH verzichten können. Ist wirklich super bei rückenfreier Kleidung. Dann macht die Prothese auch jede Bewegung mit und sieht dabei richtig natürlich aus.“ Frau Wiesner-Mann unterstrich die Vorteile der befestigbaren Prothese dadurch, das sie den am Fußende von Gudruns Bett liegenden BH mit einer raschen Bewegung hochzog und mit ihm heftige Wippbewegungen vollführte. Gudrun starrte den baumelnden, halbseitig gefüllten BHschweigendan. Frau Wiesner-Mann wendete sich nun der Mutter zu. „So, Frau Klauser. Eigentlich komme ich ja erst morgen zu Ihnen, aber wo wir gerade so schön bei der Sache sind, wollen wir doch auch direkt für Sie die Erstprothese raussuchen, gell?“ Sie musterte die Angesprochene kurz, schaute dann auf ihre Unterlagen. „Welche Brustgröße hatten Sie denn vor der OP? Ah, ich seh’ schon, 85 A. Na, dann ist der Unterschied zu vor der OP ja nicht so schrecklich groß, nicht wahr? Ich lege Ihnen auch mal ein Paar Erstprothesen hin. Ich denke, Sie brauchen später dann nur ganz kleine Einlagen, oder möchten Sie ganz darauf verzichten?“

Plötzlich fällt mir auf, was mich am Erscheinungsbild der alten Dame so irritierte. Ich schaue auf Ihre Brüste.Die linke Brust ist deutlich größer als die rechte. „Ja, ich erinnere mich.“ Ich nicke, setze Lena ab und streiche ihre zerzausten Haare glatt. „Wie geht es Ihnen? Haben Sie alles gut überstanden?“ Die alte Dame nickt. „Ja, danke, alle Nachuntersuchungen sind in Ordnung. Sie haben bei der OP alles entfernt. Kein Krebs mehr.“ „ Das freut mich sehr. Und Ihre Tochter? Wie geht es denn … Gudrun? Hat sie die Reise mit ihrem Mann inzwischen nachgeholt?“ Frau Klauser sieht auf Lena herunter, schaut mir dann wieder in die Augen. „Gudrun ist vorletztes Jahr im Sommer gestorben“, erwidert sie leise. Ich weiß nicht, was ich sagen soll, und ziehe Lena unwillkürlich näher an mich heran. „Oh Gott, dDas tut mir wirklich sehr leid. Wie…“ „Metastasen in den Lymphknoten. Es ging ganz schnell.“ Ich schaue betreten zu Boden und unterdrücke den Impuls mit meinem Kind auf dem schnellsten Weg den Supermarkt zu verlassen. Die alte Dame beugt sich zu Lena herunter und streicht ihr sanft über die Wange. „Sie haben wirklich eine hübsche kleine Tochter. Ich wünsche Ihnen beiden alles Gute“, sagt sie zum Abschied, streicht mit der Hand über ihre linke Brust, lässt sie dann dort ruhenund blickt mich an. „Ich beneide Sie.Man sollte seine Kinder immer um sich haben.Ich trage Gudrun jeden Tag an meinem Herzen.“


Wie du siehst habe ich Anfang und Ende etwas gekürzt, beides schien mir eine Spur zu plakativ/explizit.

Immer noch eine feine Geschichte,
liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Nicole

Beitragvon Nicole » 17.01.2010, 15:26

Hallo Lisa,
hab nochmal Dank für Dein Lektorat :-)
Hallo ihr alle,
ich habe jetzt Tippfehler korrigiert und ein paar Änderungen vorgenommen, am Anfang und am Ende. Außerdem habe ich die erzählte Beschreibung von Frau Wiesner Mann rausgeschmissen.

Euch einen schönen Sonntag,

Nicole

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Beitragvon Lisa » 17.01.2010, 20:14

Liebe Nicole,

ich finde, die paar kleinen Schliffe haben dem Text gut getan!

Ein fehlendes Komma ist mir zufällig noch aufgefallen (nach wird)

nur ein Pärchen, das bereits bedient wird


Besonders den Anfang finde ich jetzt besser.

Schön geworden :-)


liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.


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