Die Geschichte ohne Ende
Gestern erzählte mir ein Bekannter eine Geschichte, von der er behauptete, sie habe sich tatsächlich so zugetragen.
Ein junger Mann, der sich viele Gedanken über die Vorhersehung und den Zufall machte, wollte sich durch ein mutiges Experiment Klarheit über diese Dinge verschaffen. Der Versuch sah folgendermaßen aus:
Seinen beiden engsten Freunden gab er zwei versiegelte Briefumschläge und bat sie, zu einer genau festgelegten Zeit gegeneinander zu würfeln. Der Gewinner würde einen der Umschläge auswählen, ihn aber erst öffnen, nachdem er den anderen Umschlag verbrannt hätte. Zur gleichen Stunde, in der die Freunde ihr Würfelspiel beginnen sollten, ließ der junge Mann sich von einem Fremden an einem bestimmten Ort in einer Holzkiste vergraben. In einem der Umschläge war auf einem Zettel dieser Umstand und der Ort genau beschrieben. Der andere Umschlag enthielt einen Abschiedsbrief des jungen Mannes, in dem er mitteilte, er hätte aus persönlichen Gründen das Land verlassen und würde sehr lange auf Reisen sein.
An dieser Stelle brach mein Bekannter seine Erzählung ab, mit der Bemerkung, er wisse leider nicht, was mit dem jungen Mann geschehen sei und wie die Sache endete. Aus diesem Grund nahm ich an, seine Geschichte wäre erfunden.
Seither denke ich ständig an den jungen Mann, der in jener Holzkiste liegt und nicht weiß, ob dies nun sein Grab werden wird oder nicht.
Ich frage mich, wie die Geschichte endet. Erwählt der Gewinner des Würfelspiels den richtigen Umschlag, werden die Freunde den jungen Mann aus seinem Gefängnis befreien. Öffnen sie den Umschlag mit dem Abschiedsbrief und haben sie den anderen Umschlag vorher verbrannt, so wird der junge Mann in seinem Grab verbleiben und für immer dort beerdigt sein. Es sei denn, der Fremde, der ihn dort vergraben hat, beschließt zurückzukehren um nach dem jungen Mann zu sehen, trotz des Geldes, das er erhalten hat und der strikten Anweisung, die Stadt sofort zu verlassen.
Vielleicht haben aber die Freunde den zweiten Umschlag doch nicht verbrannt und öffnen ihn, nachdem sie den Abschiedsbrief gelesen haben, und der junge Mann wird noch gerettet. Eine weitere Möglichkeit bestünde darin, dass die beiden Freunde keine richtigen Freunde sind, der junge Mann in ihren Augen ein eitler Schwätzer ist, dieses Würfelspiel nie stattfindet und die Umschläge ungeöffnet fortgeworfen werden. Oder die Freunde würfeln zwar nicht, lesen aber aus Neugier die Briefe. Sie können dem, was darin geschrieben steht, Glauben schenken oder auch nicht. Möglicherweise werden sie dem jungen Mann helfen. Sind sie aber neidisch auf dessen Intelligenz oder Mut, beschließen sie, ihn nicht zu befreien. Vielleicht fahren sie sogar zu der Stelle, an der er vergraben ist und erfreuen sich an dem Gefühl ungeheurer Macht, da ja die Entscheidung über Leben oder Tod des jungen Mannes in ihren Händen liegt.
Denkbar aber auch, dass sie die Uhrzeit verpassen, das Würfelspiel hinauszögern, irgendetwas dazwischen kommen lassen. Das Spiel findet noch statt, sogar der richtige Umschlag wird erwählt, aber sie kommen zu spät und der junge Mann ist inzwischen in seinem Grab erstickt. Sie könnten das Spiel auch zu früh beginnen und, im bestimmten Falle, an den Ort kommen und den Fremden gerade dabei antreffen, wie er den jungen Mann begräbt. Es mag zu einem Kampf kommen und womöglich sterben die Freunde durch die Hand des Fremden, der vorher schon ein Verbrecher war oder dadurch zu einem Verbrecher wird.
Der junge Mann jedenfalls liegt wartend in seinem Grab, und die Dinge, die passieren könnten, sind so vielfältig, dass er sie gar nicht alle zu denken vermag.
Heute erzähle ich die Geschichte einem Freund. Bis zu jener Stelle, an der auch mein Bekannter aufhörte und bemerke, ich wisse leider nicht, wie die Sache mit dem jungen Mann ausging. Mein Freund glaubt mir nicht, obwohl ich beteuere, die Geschichte sei wahr.
Ich stelle mir vor, mein Freund erzählt die Geschichte wiederum einer anderen Person. Auch diese behält sie nicht für sich, und irgendwann, so hoffe ich, wird jemand sie zu Ende erzählen, damit der junge Mann in seinem Grab endlich erfährt, was mit ihm passiert ist.
Ein kleines "h" hinzugefügt. Vielen Dank an Mucki!
Die Geschichte ohne Ende
Hey Sam.
(keine Kommentare gelesen)
Ich finde der Text zeigt eindrücklich, dass die spannendsten Geschichten nicht zuende erzählt werden dürfen. Die ausformulierten "was wäre wenn -Gedanken" mästen und langweilen mich (irgendwann habe ich sie nur noch überflogen), sie lesen sich wie eine Softwarebeschreibung, in der jeder Menüpunkt nacheinander abgehandelt wird (...dann gibt es noch diese und jene Möglichkeit, um zum gleichen ...) oder wie die gedanklich kombinatorische Vorbereitung auf einen neuen Sonntagstatort (möglichst unvorhersehbar (und trotzdem plausibel/erklärend) für die abgestumpften Dauergucker) . Jeder Typus bekommt seine Konklusion brühwarm serviert?
Gemein, dass ich als Leser alles auserzählt bekomme, die Rezipienten der Endlosgeschichte aber selbst erfinden dürfen und - taraaaa- sie nur auf diese Weise endlos wird (werden könnte).
LG
Nifl
(keine Kommentare gelesen)
Ich finde der Text zeigt eindrücklich, dass die spannendsten Geschichten nicht zuende erzählt werden dürfen. Die ausformulierten "was wäre wenn -Gedanken" mästen und langweilen mich (irgendwann habe ich sie nur noch überflogen), sie lesen sich wie eine Softwarebeschreibung, in der jeder Menüpunkt nacheinander abgehandelt wird (...dann gibt es noch diese und jene Möglichkeit, um zum gleichen ...) oder wie die gedanklich kombinatorische Vorbereitung auf einen neuen Sonntagstatort (möglichst unvorhersehbar (und trotzdem plausibel/erklärend) für die abgestumpften Dauergucker) . Jeder Typus bekommt seine Konklusion brühwarm serviert?
Gemein, dass ich als Leser alles auserzählt bekomme, die Rezipienten der Endlosgeschichte aber selbst erfinden dürfen und - taraaaa- sie nur auf diese Weise endlos wird (werden könnte).
LG
Nifl
"Das bin ich. Ich bin Polygonum Polymorphum" (Wolfgang Oehme)
Hallo Lisa,
Ha, mir geht es eigentlich auch immer so, dass ich denke, was ich da so zu einem Text schreibe ist immer fern von dem, was der Autor sich eigentlich dabei gedacht hat.
aber nochmal. Mir haben deine Gedanken gefallen, weil sie zwar nicht unbedingt so von mir intendiert waren, aber es wirklich hätten sein können. Deswegen nochmals Danke für diese Ausführungen!
Hallo Renée,
auch dir nochmals Danke für deine sehr interessanten Gedanken zu dem Text und deine Beschäftigung damit.
Auch dies hier...
...ist so eine interessante Überlegung und bestätigt, was ich schon bei Mucki erwähnte, dass es wohl weniger die Geschichte ist, die sich verändert, sondern der Zuhörer, weil er versucht einen Kreis zu schließen, der eigentlich keiner ist.
Hallo Max,
freut mich, wenn der text, trotz seiner Länge dich so gefesselt hat, dass du dran geblieben bist.
Vielen Dank!
Hallo Nifl,
dir auch vielen Dank! Ich kann dir auch gar nicht widersprechen (und das leicht polemische in deinem Kommentar gefällt mir sehr gut), denn liest man den Text so, wie er dasteht, dann kann man durchaus das Gefühl bekommen, es wird hier trocken ein Plot in Multiple Choice serviert. So wäre es dann auch, ginge es in dieser Geschichte um die Geschichte und die bloße Frage, wie sie denn endet. Falls du es dir doch noch antun möchtest, die bereits vorhandenen Kommentare zu lesen, wirst du feststellen, ich hatte da doch noch einiges andere im Sinn. Ohne nochmals alles zu wiederholen, kann ich nur kurz sagen, hier geht es mehr um das Erzählen an sich, als um das Erzählen einer Geschichte. Und dass man durchaus (wenn man es möchte und der Text einen dazu anregt) noch andere, weit tiefgehender Aspekte aus dem Text herauslesen kann.
Zu erwarten, alle Leser würden das so sehen ist natürlich vermessen und so steht deine Meinung gleichwertig neben den der anderen.
Dem hier...
...widerspreche ich allerdings, nicht wegen meines Textes, sondern wegen der unzähligen guten und wundervollen Geschichten, die zuende erzählt wurden (wobei man natürlich "zuende" recht unterschiedlich definieren kann).
Nein, ich glaube sogar das Gegenteil ist der Fall. Wir möchten grundsätzlich Geschichten hören, die zuende erzählt werden. Dass man sich heutzutage dagegen oftmals wehrt, liegt am Geist unserer Zeit, der sich einem z.T. irrationalen Freiheitsgedanken verschrieben hat und im Konkreten und Vorgebenen immer irgendwie eine Bedrohung sieht.
Natprlich gibt es auch viele gute Geschichten, deren Ende in gewisser weise offen ist. Aber diese "befriedigen" uns nicht. Sie sprechen uns an und berühren uns, weil sie in ihrere Offenheit unsere eigene Ungewissheit über die Zukunft widerspiegeln. Und weil sie unsere Fantasie anregen, wir für uns alleine, losgelöst vom Erzähler, den Faden weiterspinnen. Aber da sind wir ja schon wieder obigen Text...
Liebe Grüße an euch alle
Sam
dass meine Lesart nicht die von dir rein intendierte war, habe ich mir gedacht
Ha, mir geht es eigentlich auch immer so, dass ich denke, was ich da so zu einem Text schreibe ist immer fern von dem, was der Autor sich eigentlich dabei gedacht hat.
aber nochmal. Mir haben deine Gedanken gefallen, weil sie zwar nicht unbedingt so von mir intendiert waren, aber es wirklich hätten sein können. Deswegen nochmals Danke für diese Ausführungen!
Hallo Renée,
auch dir nochmals Danke für deine sehr interessanten Gedanken zu dem Text und deine Beschäftigung damit.
Auch dies hier...
Als brauchte ich das Ende, das keines ist, um zum Anfang zurückkehren zu können, um dann ... erst ... den Vorgang der "Endlosigkeit" wahrzunehmen.
...ist so eine interessante Überlegung und bestätigt, was ich schon bei Mucki erwähnte, dass es wohl weniger die Geschichte ist, die sich verändert, sondern der Zuhörer, weil er versucht einen Kreis zu schließen, der eigentlich keiner ist.
Hallo Max,
freut mich, wenn der text, trotz seiner Länge dich so gefesselt hat, dass du dran geblieben bist.
Vielen Dank!
Hallo Nifl,
dir auch vielen Dank! Ich kann dir auch gar nicht widersprechen (und das leicht polemische in deinem Kommentar gefällt mir sehr gut), denn liest man den Text so, wie er dasteht, dann kann man durchaus das Gefühl bekommen, es wird hier trocken ein Plot in Multiple Choice serviert. So wäre es dann auch, ginge es in dieser Geschichte um die Geschichte und die bloße Frage, wie sie denn endet. Falls du es dir doch noch antun möchtest, die bereits vorhandenen Kommentare zu lesen, wirst du feststellen, ich hatte da doch noch einiges andere im Sinn. Ohne nochmals alles zu wiederholen, kann ich nur kurz sagen, hier geht es mehr um das Erzählen an sich, als um das Erzählen einer Geschichte. Und dass man durchaus (wenn man es möchte und der Text einen dazu anregt) noch andere, weit tiefgehender Aspekte aus dem Text herauslesen kann.
Zu erwarten, alle Leser würden das so sehen ist natürlich vermessen und so steht deine Meinung gleichwertig neben den der anderen.
Dem hier...
Ich finde der Text zeigt eindrücklich, dass die spannendsten Geschichten nicht zuende erzählt werden dürfen
...widerspreche ich allerdings, nicht wegen meines Textes, sondern wegen der unzähligen guten und wundervollen Geschichten, die zuende erzählt wurden (wobei man natürlich "zuende" recht unterschiedlich definieren kann).
Nein, ich glaube sogar das Gegenteil ist der Fall. Wir möchten grundsätzlich Geschichten hören, die zuende erzählt werden. Dass man sich heutzutage dagegen oftmals wehrt, liegt am Geist unserer Zeit, der sich einem z.T. irrationalen Freiheitsgedanken verschrieben hat und im Konkreten und Vorgebenen immer irgendwie eine Bedrohung sieht.
Natprlich gibt es auch viele gute Geschichten, deren Ende in gewisser weise offen ist. Aber diese "befriedigen" uns nicht. Sie sprechen uns an und berühren uns, weil sie in ihrere Offenheit unsere eigene Ungewissheit über die Zukunft widerspiegeln. Und weil sie unsere Fantasie anregen, wir für uns alleine, losgelöst vom Erzähler, den Faden weiterspinnen. Aber da sind wir ja schon wieder obigen Text...
Liebe Grüße an euch alle
Sam
Hallo Rosebud,
vielen Dank für deinen Kommentar!
Natürlich freut es mich, dass der Text dir gefällt und du hast ja auch anschaulich beschrieben warum.
Dies hier finde ich besonders interessant:
Dem Leser was ins Hirn zu pflocken will ich zwar nicht, aber wenn es dann so ist, also das was hängen bleibt, eine Bewegung weitergegeben wird, dann ist es wohl nicht ganz umsonst geschrieben.
Und ja, der Erzähler soll eigentlich auch zurücktreten (außer der Tatsache, dass er selber plötzlich an die Geschichte glaubt). Denn, wie ich es schon erwähnte in anderen Kommentaren, ging es mir um das Erzählen an sich.
Oder anders gesagt: Diese Geschichte braucht eigentlich keinen "Erzähler". Sie braucht einen, der sie erzählt!
Liebe Grüße
Sam
vielen Dank für deinen Kommentar!
Natürlich freut es mich, dass der Text dir gefällt und du hast ja auch anschaulich beschrieben warum.
Dies hier finde ich besonders interessant:
dass er es trotz der augenzwinkernden Warnung zu Beginn ("erzählte mir ein Bekannter eine Geschichte, von der er behauptet.....") schafft, einen nicht existenten Mann im Grab in unterschiedlichen Aggregatszuständen (lebend, tot, wartend, ideell) in das Hirn des Lesers zu pflocken und damit den Erzähler, der einem das Ganze eingebrockt hat, darüber vergessen zu lassen.
Dem Leser was ins Hirn zu pflocken will ich zwar nicht, aber wenn es dann so ist, also das was hängen bleibt, eine Bewegung weitergegeben wird, dann ist es wohl nicht ganz umsonst geschrieben.
Und ja, der Erzähler soll eigentlich auch zurücktreten (außer der Tatsache, dass er selber plötzlich an die Geschichte glaubt). Denn, wie ich es schon erwähnte in anderen Kommentaren, ging es mir um das Erzählen an sich.
Oder anders gesagt: Diese Geschichte braucht eigentlich keinen "Erzähler". Sie braucht einen, der sie erzählt!
Liebe Grüße
Sam
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