Bumm!

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 16.09.2007, 22:55

Bumm!

Ritchie war dick. Immer schon.
Seit dem Kindergarten sind wir befreundet. Damals hatte ich beschlossen, ihn vor tätlichen Angriffen zu beschützen. Aber den Spott konnte ich nicht fernhalten von ihm, weswegen ich meinem Freund Ritchie am liebsten Ohrstöpsel verpasst hätte.
„Macht mir nix aus, Marvin, ehrlich“, sagte er mit gedämpfter Stimme – nie hob er sie an, „ich tu so, als ginge es mich nichts an.“
Ich bin die Hälfte von ihm, sowohl in der Breite als auch in der Länge. Aber dafür bin ich flink beim Zuschlagen.
Als wir eingeschult wurden, verpassten die anderen uns die Namen: „Dick und Doof.“
Eine Woche später hatte ich allen klar gemacht, wie der Hase läuft.
Auch dem Turnlehrer.
„Wollen Sie verantworten, dass mein Freund tot umfällt?“
Er lachte und klopfte mir auf den Scheitel. „Bist ein guter Kerl, Marvin. Keine Angst, Ritchies Mutter hat das schon mit einem Attest erledigt.“

Während des Turnunterrichts hockte Ritchie wie ein Sack Kartoffeln auf einer der niedrigen Bänke am Rand des Saals und schaute zu, wenn wir anderen durch die Gegend sprangen.
„Ritchie, sei bitte nicht traurig. Ist besser. Ich will dich doch noch ganz lange als Freund haben“, tröstete ich ihn.
„Klar, Marvin“, antwortete er.

Er schubste mich liebevoll und so überschwänglich, dass es mich auf den Boden setzte.

Wir kämpften uns durch bis zum Abitur, besser gesagt, ich kämpfte und Ritchie half mir beim Lernen. Wir waren wie Pech und Schwefel. Unterdessen wuchs er zum Riesen heran.
Anschließend belegten wir dieselben Studienfächer. Um zusammenbleiben zu können, teilten wir uns eine Studentenbude. Nachts hörte ich sein angestrengtes Atmen; manchmal drang die Luft jammernd aus seinem riesigen Brustkorb. Jeder andere wäre vermutlich ausgeflippt dabei, aber ich fand das Geräusch perverserweise anheimelnd. Weniger gut kam ich mit seiner Fresssucht zurecht.
„Dein Herz wird das nicht ewig mitmachen“, sagte ich.
„Und?“ In diesem Punkt war Ritchie ein sturer Hund. Demonstrativ briet er sich noch ein paar Eier mit Speck.
Wir waren nun zwanzig, und Ritchie hatte noch nie mit einem Mädchen geschlafen. Zum Geburtstag schenkte ich ihm eine Nacht mit einer Prostituierten. Sie war ein besonders schönes Wesen; dennoch kam Ritchie nach zwei Stunden unverrichteter Dinge wieder.
„Tut mir leid, Marvin, es ist nämlich so, dass ich keine Mädchen mag.“
Bumm.
Nachdem ich das verdaut hatte, sagte ich: „Heißt das, du magst Jungen?“
Ritchie schlug die Augen nieder. „Ich mag nur dich, Marvin. Verzeih mir.“
Ich ging raus und vögelte mir mit einer Studienkollegin die Seele aus dem Leib.

Jetzt, wo es raus war, deutete ich jeden Blick von Ritchie als stummes Flehen. Ich konnte nicht reden darüber, sein nächtliches Schnaufen wurde mein Albtraum. Ich trank, ging nicht mehr zur Uni, prügelte mich in Kneipen herum und schleppte jede Frau ab, die ich erwischen konnte.
Ritchie bezahlte nun die Miete und alles, was ich brauchte, um mich vollaufen zu lassen, mit dem Geld, dass seine Eltern ihm schickten. Meine strichen’s mir. Keine Prüfungen – keine Kohle.
„Ich wollte dich nicht erschrecken, Marvin“, sagte er unglücklich.
„Ich habe bloß ‛ne schlechte Phase, das wird schon wieder.“
Aber natürlich beschäftigte mich ein Gedanke ohne Unterlass: Auf eine gewisse Weise liebte ich Ritchie ja, aber könnte ich so weit gehen? Betrachtete ich seine schwabbelnde Unförmigkeit, überfiel mich die Angst, erdrückt zu werden. Was mich daran aber komplett fertig machte, war, dass mich die Überlegung, mit einem Mann in die Falle zu gehen, nicht abstieß! Was war nur los mit mir?
Ich wollte der Sache auf den Grund gehen und besuchte eine Gay-Bar, riss mir einen schmächtigen Kerl auf und stieg mit ihm ins Bett. Kurzum, es war unglaublich! Ein völlig entspannter Lustgenuss. Ich gab mich hin.
Meinem Freund Ritchie ging ich von da an aus dem Weg, ich konnte ihm nicht mehr in die Augen schauen, ich hatte ihn betrogen; er wusste wohl schon viel früher über mich Bescheid. Ich kam erst morgens heim, wenn er bereits in den Vorlesungen saß, und haute ab, ehe er zurück war. Er ließ mir Botschaften auf dem Küchentisch liegen: Pass auf dich auf, Marvin – mach dich nicht verrückt, Marvin – wir bleiben Freunde, Marvin, nichts kann uns trennen.

Nach Wochen hatte ich das Gefühl, mich nüchtern gesoffen zu haben. Sex hatte ich keinen mehr gehabt seit dem einen Mal mit dem Typ. Und ich konnte einfach nicht mehr. Erschöpft blieb ich zu Hause und saß mit Ritchie in der Küche. Er hatte gekocht. Für sich Brokkoli und Salat. Mir tat er Fleisch und Kartoffel auf.
„Mehr isst du nicht?“ Ich musterte ihn erstmals seit ewigen Zeiten, wie mir schien.
Ritchies Körper nahm Kontur an, wo einst Fettwülste quollen, begannen sich Muskeln zu definieren. Als er meinen Blick bemerkte, legte er die Gabel weg und stand auf. Lächelnd drehte er sich einmal um die eigene Achse. Er strahlte.
„Zwanzig Kilo mit Sport und Diät! Noch mal zwanzig runter und ich bring nicht mehr als neunzig auf die Waage.“
„Mann, Mann“ war alles, was ich herausbrachte.
Er war wunderschön. Total cool stand er vor mir und lachte laut.
Nichts mehr von dem ängstlichen Murmeln in seiner Stimme, sagte er: „Was ich dir eigentlich noch sagen wollte, ich habe endlich eine Freundin. Sie ist ganz toll, Marvin.“
Bumm.

Ergänzungen in blau eingefügt.


(c)Elsa Rieger 09/07
Zuletzt geändert von Elsa am 25.09.2007, 08:53, insgesamt 3-mal geändert.
Schreiben ist atmen

Gast

Beitragvon Gast » 25.09.2007, 10:27

Liebe Elsa,

mache du es so, wie es für stimmig ist. Noch ist es so, dass die Kommentare "Handlanger" des Autors sein können (im besten Fall) und nicht umgekehrt. ;-)

Einen schönen Septembertag
Gerda

Mucki
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Beitragvon Mucki » 25.09.2007, 12:40

Liebe Elsie,

Im Moment muss die Geschichte so bleiben für mich, so sehr ich sie auch drehe und wende.


das ist doch völlig in Ordnung. Handele nach deinem Bauchgefühl, Elsie.
Mit dem Attest ist jetzt fein und nachvollziehbar :)
Saludos
Mucki

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 25.09.2007, 13:55

Liebe Gerda, liebe Mucki,

danke für euer Verständnis!

Liebe Grüße,
Elsa
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