Thomas Milser
...und ich trank Whiskey aus der Pulle mit dem Mann, der in der Lindenstraße den Penner gibt
Oder: Danke, Harry
[align=justify]Rappelvoll war der Saal, und in seiner Einschleimphase, wie er es selbst gerne nennt, ließ Harry Rowohlt neben einigen Anekdötchen erstmal eine Pulle Paddy im Publikum rumgehen, auf dass sich doch bitte jeder der Zuhörer den Schraubdeckel besagter Flasche mit dem Inhalt derselben und dann sich selbst damit füllen möge. Unter lautem Gekicher, hihi, und großem Hallo, hoho, wanderte also das Deckelchen mitsamt der Whiskey-Flasche durch die Reihen, und die meisten Gäste waren immerhin von solch mildem Anstande, diese Gabe des großen Meisters nicht zu verschmähen. Selbst die Mädchen nicht. Hihi.
Herr Rowohlt selbst nuckelte an seinem Stout, betrachtete amüsiert das Treiben unter seinen Schäfchen und tat ansonsten gar nichts. Als mich das Gebinde endlich in der dritten Reihe erreichte, hatte sich der Pegel der kostbaren braunen Flüssigkeit schon so stark Richtung Flaschenboden geneigt, sodass ich mit etwas schlechtem Gewissen anhob, mir diese Hostie einzuverleiben, jedoch - einer spontanen Eingebung folgend - die Flasche umgehend verschraubte und aufstand und nach vorne ging an die Bühne, um Herrn Rowohlt auch mal in den Genuss seines feinen Tröpfchens kommen zu lassen. Direkt ans Rednerpult. Und sprach: "Bitte sehr, das ist der Rest. Wohl bekomm's!"
Höchst erstaunt blickte er mich an, und reichte die Flasche augenblicklich wieder links an mir vorbei zurück ins Publikum. Dann war ich es wohl, der, immer noch vor der Bühne stehend, höchst erstaunt war, als er mich anhamburgerte: "Du glaubst doch wohl nicht, dass das der Rest ist?" Und sogleich unter heftigem Gejohle des Publikums eine zweite Flasche unter dem Tisch hervorzauberte. Ich hätte es absehen können. Irgendwie hatte ich es auch geahnt.
Ich beschloss augenblicklich, meine leichte Übermotivation demnächst in der Männergruppe zu besprechen, nahm leicht eingesemmelt wieder Platz und beschloss, trotz des fortgeschrittenen und alkoholindiziierten Sprech- und Tatendrangs einfach ab jetzt mal die Klappe zu halten und mich fortan nicht mehr von meinem Stuhl zu bewegen.
Was jedoch bei den Lesungen von Herrn Rowohlt nicht so einfach ist. Denn der gute Mann macht keinerlei erkennbare Pausen, die auch im Übrigen gar nicht nötig wären, weil er a) darauf besteht, dass der Ausschank im Saal während seines Vortrages nicht geschlossen wird, wie es sonst bei Veranstaltungen üblich ist, und es ihn b) nicht stört, wenn eine ständige Fluktuation Richtung Getränkerückgabezelle im Gange ist, so denn die Saaltüre ebenso geöffnet bliebe, und nicht durch ihr ständiges Zuschlagen seinen Vortrag zerklapperte. Was es nicht einfacher macht ist die Tatsache, dass seine Lesungen schon mal so an die vier Stunden dauern können.
So hatte ich mich also lange vor Beginn - in Ermangelung eines brauchbaren Schankbieres - mit einigen, kleinen Flaschenbieren ausgestattet, die im Fußraum meines Gestühls der letzten Ölung harrten, und da meine Harnblase in der glücklichen Lage ist, sich ohne jeglichen Drang während der ersten paar Stunden des Alkoholkonsums klaglos auszudehnen, war ich für ein nahezu meditatives Verharren für die gesamte Dauer der Segnung gewappnet.
Er gab uns was von Flann O´ Brien, dann wieder erzählte er frei von seiner Zeit als Volontär bei diversen Verlagen und Redaktionen in seiner Jugend, der Märchenonkel von der Waterkant, hier und da eine Kolumne aus Puuh, der Bär, dann wieder spontane Einwürfe zum Tagesgeschehen oder Publikumsverhalten, und aufgrund eines Zurufs eines schlecht informierten Fernsehguckers musste er natürlich wieder mal wider Willens aus dem Nähkästchen der Lindenstraße plaudern, wo er den intellektuellen Penner gibt. Dann wieder erzählt er, wie sie ihn einmal in Gelsenkirchen des Nachts nicht in sein Hotel einlassen wollten, weil er vollschtratze mit Kanne im Anschlag und schlurfendem Mantel dieser Rolle im normalen Leben allzu gerecht wurde und sie ihn für einen Randalebruder hielten. Der Herr muss übrigens über einen ähnlichen Überdruckbehälter wie meine Wenigkeit verfügen. Ein Vollblut-Triathlet der Literatur, der ohne Unterlass über jede Distanz geht. Ein Sprachgott der Erzählung, dessen sonore Stimme und gebrummte Melodie vermutlich sogar in der Lage wäre, selbst Eisensbahnfahrplänen der oberen Rhön aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert zu klassischer Dichtung und spannungsreichem Vortrag zu verhelfen.
Ich versank.
Es wurde spät.
Die Reihen vor mir lichteten sich zusehens, aber Harry erzählte immer weiter. Bis ich jäh aus meiner Versunkenheit emporfuhr, als er unvermittelt und ohne Mikrofon von der Bühne aus verkündete: "Tja, dann können wir den Rest wohl an der Theke besprechen. Mein Bier ist leergegangen."
Ich schrock hoch, wandte instinktiv den Blick nach hinten, aber da saß niemand mehr. Niemand. Vor mir auch nicht. Er hatte mal eben den Saal leergelesen. Und so geschah es, dass er sich behäbig von seinem Stuhl abflanschte und die Bühne hinunterstieg, und ich ebenso aufstand, um mit ihm gleichzeitig am Tresen einzutreffen.
Da standen wir nun, allein mit dem müden Personal, und zogen ein Bier nach dem anderen. Sie konnten ja schlecht den Künstler rausschmeißen. So gerade eben konnte ich mir noch den Ausspruch verkneifen, dass ich ja auch schröbe - so-was sagt man einem solchem Mann einfach nicht - und fing stattdessen in freier Rede an, eins meiner stümperhaften Gedichte in die Pilstulpe zu murmeln, worauf Harry aufmerksamst zuhörte und am Ende sagte: "Du hast sie auch nicht alle, nö?" Und breit dazu grinste. Es wurde nett.
Schnaps für mich und meinen Freund Harry!!! Wirtschaft!!!
Bringe er Likör!!! Falls er seine Hände sucht, die hat er in
den Taschen!!!
"Harry, wieso trägst du diese Schlappen?"
"Das sind keine Schlappen, das sind Flip-Flops!"
"Wieso Flip-Flops?"
"Weil das die einzigen Schuhe sind, die ihren Namen sagen können."
Ne, klar.
"Aba, Mensch Harry, wieso´n Lindenstraße?"
"Och weißu, da lauf ich einfach nur rum wie zuhause auch und krich da Knete für. Würdesßu auch machen."
Und dann kommt er irgendwann, der Aufnehmer, der Nasse, der Unvermeidliche und Engültige. Eine asiatische Fee nassfeudelt gelassen um unsere Knöchel herum, und es stört sie nicht im Geringsten, dass wir dabei feucht werden untenrum, also am Saum der Hose, und wir schauen uns an, und wissen, dass es das war.
Als wir an die Luft treten, liegt die erste Ahnung von Amseln in der Luft. Wir halten uns gegenseitig für körperlich stabil. Ich fummle das Mobile aus der Hose und bestelle zwei Droschken, er sagt "dreh´ mir mal eine", und ich drehe, und er pellt seine zweite Paddy-Pulle, in der noch ein spärlicher Rest ist, aus der schiefhängenden Garderobe, schraubt sie gelassen auf, und hält mir das Ding unter die Nase. "Nimma, im Hotel habichnoch."
Es läuft in mich rein wie Saft. Scharfer Saft. "Harry, dasschaffichnich alleine. Nimm aunomma." Und wir rauchen, und blasen dicke Kringel in die Luft, und unsere Limousinen fahren gleichzeitig vor, und er ergreift mein Haupt, zieht mich zu sich ran, küsst mit seinem feuchten Gesichtsflokati meine Stirn, schaut mir in die Augen und sagt noch irgendwas Nettes, was ich leider vergessen habe, und wir torkeln wild gestikulierend aber wortlos auseinander, einmal nach Hause, Kutscher, fahre er zu!
Und schreiben beide einfach weiter.[/align]
zur Biografie / Werkliste
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- Thomas Milser
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...und es ist wohl so, dass man selbst ganz schön einen im Timpen haben muss, um sich genügend fallenlassen zu können, und das Gefühl für Raum und Zeit verliert...
Menschheit, Du hattest von Anfang an nicht das Zeug dazu... (Charles Bukowski)
hihi, schönes Bild und harry hat recht...man müsste nun nur noch den Hintergrund der Lindenstraße reinschneiden und die Szene steht
. Herrlich!

Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.
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Da es hier anscheinend eine große Fan-Gemeinde von Harry gibt, könnte man doch erwägen, sich am 2.11. in Bochum zu treffen, so auf Nachmittag, und in einer netten Kneipe ein bisschen abklönen, und anschließend zum Bahnhof Langendreer Harry gucken. Wäre das was? Ich setze mal einen Link in den 'Treffen' Thread.
Menschheit, Du hattest von Anfang an nicht das Zeug dazu... (Charles Bukowski)
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Aus aktuellem Anlass nochmal hochgeholt.
In einem Brief aus 2006 schrieb Harry (mit Schreibmaschine und Tipp-Ex) an mich:
"... ich habe zwei Mittagsschläfe gemacht, und die fühlen sich immer noch an wie einer zuwenig."
Ich kann's gar nicht glauben, dass du nicht mehr da bist.
Prost, Mann!
In einem Brief aus 2006 schrieb Harry (mit Schreibmaschine und Tipp-Ex) an mich:
"... ich habe zwei Mittagsschläfe gemacht, und die fühlen sich immer noch an wie einer zuwenig."
Ich kann's gar nicht glauben, dass du nicht mehr da bist.
Prost, Mann!
Menschheit, Du hattest von Anfang an nicht das Zeug dazu... (Charles Bukowski)
oh, er scheint ein echtes unikum gewesen zu sein.
das hab ich jetzt in einem rutsch gelesen; ein herrlicher text, super geschrieben, tom.
hätt ihn auch gern mal erlebt. (wobei ich nicht weiß, ob ich bis zum ende durchgehalten hätte ;))
verdammt schade, dass er schon "die bühne verlassen" musste.
prost, harry!
das hab ich jetzt in einem rutsch gelesen; ein herrlicher text, super geschrieben, tom.
hätt ihn auch gern mal erlebt. (wobei ich nicht weiß, ob ich bis zum ende durchgehalten hätte ;))
verdammt schade, dass er schon "die bühne verlassen" musste.
prost, harry!
- Thomas Milser
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Moin Eule,
ja, könnte ich. Das setzte aber voraus, dass ich etwas geschrieben hätte, nech?
Habbichabanich.
Das hier ist ja auch nur aus den Tiefen des Forum-Archivs wieder ausgebaggert. Ich scheue mich etwas, dies mittels reihenweiser Eigenkommentare jetzt bei all meinen 537 Texten. die ebendort zu finden sind, zu machen. Das überließe ich dann ggf. gerne dem geneigten Leser :o)
Ne, im Ernst: Hab seit geraumer Zeit Schreibschwäche. Kommt nix Neues. So ist das halt in den Jahren, in denen man in sich dem großen, finalen Weltroman eine schöpferische Leere einräumt und ihm somit Zeit und Raum zum Aufsteigen lässt ... :o)
ja, könnte ich. Das setzte aber voraus, dass ich etwas geschrieben hätte, nech?
Habbichabanich.
Das hier ist ja auch nur aus den Tiefen des Forum-Archivs wieder ausgebaggert. Ich scheue mich etwas, dies mittels reihenweiser Eigenkommentare jetzt bei all meinen 537 Texten. die ebendort zu finden sind, zu machen. Das überließe ich dann ggf. gerne dem geneigten Leser :o)
Ne, im Ernst: Hab seit geraumer Zeit Schreibschwäche. Kommt nix Neues. So ist das halt in den Jahren, in denen man in sich dem großen, finalen Weltroman eine schöpferische Leere einräumt und ihm somit Zeit und Raum zum Aufsteigen lässt ... :o)
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