Bildgeschichte

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Nifl
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Beitragvon Nifl » 10.02.2013, 13:20

Ich lade dich auf meine erste Vernissage ein. Würde mich freuen ... Blabla. Wir sprechen uns noch! :-)
Deine Nachbarin


Mein Kunstverständnis ist eher bescheiden, trotzdem gehe ich hin. Vielleicht, weil sie mir irgendwie leid tut. Dieses unwürdige Gestrampel der Hobbykünstler für ein bisschen Anerkennung. Vernissage, allein wie das Wort klingt. Jedenfalls nicht nach einer übergewichtigen Alleinerziehenden aus der Vorstadt, sondern nach Koks und goldenen Cocktailkleidern. Sie steht an einem runden Partytisch mit weißer Plastiktischdecke, die in gewellten Falten an den Seiten runterhängt. Um sie herum sind einige Gäste versammelt. Sie hat sich in einen schwarzen knielangen Rock gezwängt. Auf dem Tisch stehen einige Sektgläser und perlen vor sich hin. Sie ist nicht besonders groß und ihr Busen stößt an die Kante der Tischplatte. Sie wirkt aufgekratzt und gestikuliert mit den Armen, scheint sich blendend zu unterhalten. Ich werde sie auch später noch begrüßen können, gehe schnurstracks bis in den letzten Raum und bleibe vor der Wand stehen, als hätte ich dort den Notausgang erwartet und nicht ein Bild.
Es ist eine Bleistiftzeichnung eines Frauenkopfes. Das Gesicht ist nur zur Hälfte gezeichnet, als sei die Künstlerin nicht fertig geworden. Irgendwie fühle ich mich fehl am Platze, stecke die Hände in die Hosentaschen und biege die Arme durch. Was will ich nur hier. Wie lange kann man sich vor einem Bild rumdrücken, ohne dass es auffällt? Ich starre auf das Fischgrätenparkett, entdecke Schleifspuren, Pfuscher! Ob sie mich gesehen hat? Am besten ich verschwinde gleich wieder.

„Wie findest du denn dieses Bild?“
Ich hatte sie gar nicht bemerkt und zucke zusammen, als sei ich bei verbotenen Gedankengängen erwischt worden.
"Ich ä ich."
"Ja?"
Ich täusche Interesse vor und sehe das Bild an. Was will sie jetzt von mir hören? Dass hier offensichtlich jemand nicht fertig geworden ist und das Bild vermutlich durch ein Versehen ausgestellt wird? Ich kneife die Augen zusammen, als suchte ich etwas, was ich vorher übersehen hatte.
"Es sind keine Ecken oder Kanten auf dem Bild zu sehen, alles scheint einer einzigen Welle zu entspringen. Im ersten Augenblick könnte man denken, das Bild sei noch nicht fertig, aber es ist die Radierung, der Schliff der Welle, wenn sie sich vom Strand zurückzieht."
Eine radierende Welle, ich fasse es nicht!
Ich versuche abzulenken und frage: "Hast du schon mal was in den feuchten Sand geschrieben bevor die Welle kam?"
Sie schweigt.
"Ä, ja, jedenfalls ist die zweite Hälfte des Gesichtes das Meer. Das was man nicht zeigt, nicht zeigen kann. Die innere Hälfte sozusagen, die abgewandte Seite des Mondes. Insofern wäre ein vollständig gemaltes Gesicht nur ein halbes Gesicht. Ach was quatsche ich."
"Nein nein, erzähl bitte weiter."
Weiter? Was weiter? Jetzt habe ich den Salat. Doch fast wie von selbst flutschen mir weitere Worte über die Lippen.
"Manchmal schaut man in den Spiegel und meint sich ganz zu sehen. Dann streicht man sich über eine Gesichtshälfte, weil das nicht sein kann und bleibt mit den Fingerspitzen auf dem Augenlid liegen bis man wieder ganz halb ist und es im Augapfel blitzt."
Sie sagt nichts, aber irgendwie ist es ein verlangendes Nichts, also spinne ich weiter.
"Was verbergen wir? Kennt man sich jemals ganz?"
Sie legt eine Hand auf meine Schulter, als seien wir ein Paar. Ich bemerke, dass mich schon lange keiner mehr auf der Schulter berührt hat, überhaupt berührt hat. Es fühlt sich gut an. Ich bin am Ende mit meinem Latein. Aber bitte nicht die Hand wegnehmen.
"Die Auslassung ist eine Vielschichtigkeit. Es ist gut, dass dieses Bild keinen Rahmen hat, so reicht es über den Rand hinaus. Oder hat sie das halbe Gesicht verloren, weil es keinen Rahmen gab? Durch eine übergroße Offenheit, die einen einengt?"
Sie zieht die Hand wieder zurück. Scheiße.
"Nein, es ist Freiheit."
Nun legt sie von hinten ihre Arme um mich und schmiegt ihr Gesicht an mein Schulterblatt. Wie früher. Ich fühle ihre Lippen durch die Jacke und alles direkt auf meiner Haut.
"Mit wem sprichst du, Nachbar?" Schweißperlen glänzen auf ihrer Stirn. Mir ist, als sei ich vom Garagendach gesprungen und kann mich nicht genügend auf dem Boden der Realität abfedern.
Sie sieht mich an, als wäre ich ein ausgesetzter Hund und wir stehen eine Weile nur da bis sie sagt:
"Ja, das sieht ihr ähnlich" und hält mir ein Glas direkt vor die Nase.
Ich schüttele den Kopf.
"Danke für die Einladung."


Edit:
1)geduzte Erstfrage
2)keine Kleinkunst
Zuletzt geändert von Nifl am 16.02.2013, 18:08, insgesamt 5-mal geändert.
"Das bin ich. Ich bin Polygonum Polymorphum" (Wolfgang Oehme)

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 16.02.2013, 11:08

Nein, Nifl, das ist nicht schändlich (obwohl ich den Typen reichlich arrogant finde, wie er da über - nun - Hobbykünstler und übergewichtige Alleinerziehende schwadroniert).
Ich verstehe aber immer noch nicht, was ihn da eigentlich "läutert" oder zumindest umstimmt.

Was soll mir als Leserin mitgeteilt werden? "1. Es kommt alles anders 2. als man denkt" oder "wennde dir Mühe gibst, dann klappt das auch mit den Bildern, du wirst sehen (und dann kriegst du als Dreingabe noch ein paar Streicheleinheiten der Nachbarin)" - klingt irgendwie so nach Muttern; richtig. Anderes kann ich aber - noch - nicht herauslesen; der Grund, warum ich das Gefühl habe, das Wesentliche nicht kapiert zu haben.

Dass der Protagonist unsympathisch ist, stört mich erstmal gar nicht. Aber warum er plötzlich so zahm wird, das ist mein Problem!

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nera
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Beitragvon nera » 16.02.2013, 14:11

nifl, mir gehts wie amanita. dass der typ so ein typ ist, finde ich eher lustig.
wobei ich mich frage, wenn er selbst sagt, er habe keine ahnung von kunst, wie er dann beurteilen kann, ob etwas hpbbykunst ist oder nicht? gleichzeitig schwingt ja ganz schön viel angst mit in seinem urteil über vernissagen und seine charakterisierung der künstlerin ist ja nun wirklich der hit: übergewichtig, alleinerziehend, hat sich in einen (zu) engen rock gezwängt und fühlt sich auch noch wohl! ach du schreck!
wenn man so eine ablehnende grundhaltung hat, gegen die veranstaltung und die person, die veranstaltet, warum geht man da hin? und wie er dann an den leuten vorbei rennt, in die letzte ecke (den ausgang) und sagt es dann ja selbst, er fühlt sich fehl am platz. hält sich am parkett fest, eine sache bei der er sich sicher fühlt.
für mich bedeutet das, dass seine ganze ablehnung seiner unsicherheit geschuldet ist und ich nehme ihm nicht ab, dass er der nachbarin nur einen gefallen tun will.
dann fängt er (zu seiner eigenen überraschung ) an über das bild zu reden und ihm fällt dann doch recht viel ein (zu seiner eigenen überraschung!) und das alles vermischt sich mit seinen bedürfnissen...?
es scheint, als würde dieses bild ihn auf sich zurück werfen. (ist es das, was kunst ausmacht, etwas loszutreten im kopf, etwas bewußt zu machen?)
die schlußfolgerung : "nein, es ist freiheit " ist für mich ein schlüssel zu dem ganzen, ein bewußtwerden.
und das führt wohl zu einem gefühl der "bodenlosigkeit" beim protagonisten, während das DU ihn als "ausgesetzt" einschätzt. (ausgesetzt-liegengelassen, im stich gelassen, herrenlos, ausgeliefert)
am schluß bedankt er sich für die einladung, sich selbst zu begegnen....?

Nifl
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Beitragvon Nifl » 16.02.2013, 14:24

Hallo Ama,

danke fürs Dranbleiben.

(obwohl ich den Typen reichlich arrogant finde, wie er da über - nun - Hobbykünstler und übergewichtige Alleinerziehende schwadroniert).


Ja, vielleicht ist er das. Wobei ich ihn eher als Technokraten sehe, mindestens als Handwerker (->Schleifspuren) und ihm weniger niedrige Beweggründe/Absichten unterstelle, jedenfalls sollte er so angelegt sein. Er kennt aus seinem Desinteresse heraus Vernissagen nur aus dem ZDF und bemerkt für sich, dass das Klischee nicht zutrifft. Und diese Einstellung "brotloser Kunst" gegenüber ist, denke ich, auch (leider) der bürgerliche Durchschnittsfall und hat m.E. weniger eine arrogante Selbsterhöhung zur Ursache, als ein Unverständnis oder fehlenden Zugang oder eben mangelnde Erfahrung/Berührung.

Ich verstehe aber immer noch nicht, was ihn da eigentlich "läutert" oder zumindest umstimmt.


Ich glaube, er erkennt plötzlich (vielleicht nicht mal rational, sondern nur emotional), dass das Bild gar nicht unfertig ist, sondern genau so sein muss und "begreift" die Kunst (platt ausgedrückt) zum ersten Mal in seinem Leben? Dass es eben nicht nur ein ABbild sein soll...
Es gibt ja diesen psychologischen Effekt des von außen nach innen, eine Art Reaktanz oder die Wirkung der Autosuggestion.

Gruß
"Das bin ich. Ich bin Polygonum Polymorphum" (Wolfgang Oehme)

Nifl
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Beitragvon Nifl » 16.02.2013, 14:50

wobei ich mich frage, wenn er selbst sagt, er habe keine ahnung von kunst, wie er dann beurteilen kann, ob etwas hpbbykunst ist oder nicht?


naja, weil er weiß, dass sie hauptberuflich Krankenschwester, Erzieherin, Sekretärin, Anwältin, Architektin ä oder irgendwas ist?

gleichzeitig schwingt ja ganz schön viel angst mit in seinem urteil über vernissagen und seine charakterisierung der künstlerin ist ja nun wirklich der hit: übergewichtig, alleinerziehend, hat sich in einen (zu) engen rock gezwängt und fühlt sich auch noch wohl! ach du schreck!


ja, das stimmt, Angst spielt eine Rolle, sehe ich auch so. Aber auch seine Betrachtungsweise der Nachbarin gegenüber ist eher nüchtern rational geprägt, mit Charakterisierung hat das erstmal nichts zu tun. Ich glaube, er mag sie. Sonst wäre er sicher nicht hingegangen, auch die Formulierung der Einladung zeigt ja eine Vertrautheit/Freundschaft.

und wie er dann an den leuten vorbei rennt, in die letzte ecke (den ausgang) und sagt es dann ja selbst, er fühlt sich fehl am platz. hält sich am parkett fest, eine sache bei der er sich sicher fühlt.
für mich bedeutet das, dass seine ganze ablehnung seiner unsicherheit geschuldet ist

ja, aber diese Konsequenz verstehe ich nicht:
und ich nehme ihm nicht ab, dass er der nachbarin nur einen gefallen tun will.


dann fängt er (zu seiner eigenen überraschung ) an über das bild zu reden und ihm fällt dann doch recht viel ein (zu seiner eigenen überraschung!) und das alles vermischt sich mit seinen bedürfnissen...?
es scheint, als würde dieses bild ihn auf sich zurück werfen. (ist es das, was kunst ausmacht, etwas loszutreten im kopf, etwas bewußt zu machen?)
die schlußfolgerung : "nein, es ist freiheit " ist für mich ein schlüssel zu dem ganzen, ein bewußtwerden.
und das führt wohl zu einem gefühl der "bodenlosigkeit" beim protagonisten, während das DU ihn als "ausgesetzt" einschätzt. (ausgesetzt-liegengelassen, im stich gelassen, herrenlos, ausgeliefert)
am schluß bedankt er sich für die einladung, sich selbst zu begegnen....?


na, diese Gedanken, die mein Bild ä Text beim Betrachter ausgelöst haben, finde ich ja ganz wunderbar.
Danke dir nera, für das Teilhabenlassen.

Gruß
"Das bin ich. Ich bin Polygonum Polymorphum" (Wolfgang Oehme)

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nera
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Beitragvon nera » 16.02.2013, 15:46

ja aber nifl! wenn er sie mag, wie du glaubst (wen könnten wir denn mal fragen) und sie befreundet sind, wieso lässt er sich dann so arrogant über ihre kunst aus, ob nun hobby oder nicht? und dann einen solchen satz, von wegen unwürdiges gestrampel...? und würde man bei freundschaftlichen beziehungen wirklich so über seinen nachbar reden, den man mag, nur weil der etwas macht, was über den eigenen horizont geht? was hat denn übergewichtig und alleinerziehend damit zutun? das sind "spießerklischees" gewürzt mit machogehabe . es kommt da nicht rüber (für mich), dass er aus freundschaft hingeht. eher aus (voyeuristischer neugier gepaart mit mit dem bedürfniss, nicht mehr ganz so "ausgesetzt" zu sein.

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 16.02.2013, 16:21

Nera, mir geht es ganz ähnlich.

Nifl, sorry, ich habe schlampig gelesen, jetzt habe ich noch ein "Sie" gefunden - ich denke, das soll da auch nicht hin.


Was mir einfach nicht eingängig ist (jetzt sage ich ähnliches wie nera - aber es geht nicht anders): Der Typ interessiert sich weder für die Kunst noch für die Frau/ den Menschen/ die Künstlerin. Und dann, wie durch Zauberhand, für beides?
Das ist für mich so ein "Der Appetit kommt beim Essen", was - für mich - nach wie vor verbunden ist mit einer gewissen Verächtlichkeit.

Besonders diese Stelle Ich [...] gehe schnurstracks bis in den letzten Raum und bleibe vor der Wand stehen, als hätte ich dort den Notausgang erwartet und nicht ein Bild. ließ mich von Anfang an stutzen: Mag ja sein, dass er trotz aller Skepsis auf ein Bild "abfährt". Aber hier ist scheint es mir reiner Zufall zu sein, es hätte auch jedes andere sein können? Das ist für mich ganz wesentlich - bzw. trägt nach meinem Dafürhalten für (m)eine schiefe Sicht ganz entscheidend bei.

Nifl
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Beitragvon Nifl » 16.02.2013, 17:27

wenn er sie mag, wie du glaubst (wen könnten wir denn mal fragen) und sie befreundet sind, wieso lässt er sich dann so arrogant über ihre kunst aus, ob nun hobby oder nicht? und dann einen solchen satz, von wegen unwürdiges gestrampel...?


ja, aber nera, das bezieht sich doch nicht auf ihre Kunst, sondern auf die Wertschätzung der Kunst allgemein in der Gesellschaft, wie er sie wahrnimmt. Und da ist er mir gar nicht so unähnlich. Wenn ich zB. -auch hier im Forum- von kaum besuchten Lesungen erfahre, obwohl der Künstler sehr viel Energie und Leidenschaft für alles aufgewendet hat, oder über Lyrikbände, die kaum verkauft werden, obwohl sie hochwertig sind und tausende Stunden Arbeit eingeflossen sind ... dann denke ich auch oft, warum tun die sich das an, wenn das so wenig gewürdigt wird.
was hat denn übergewichtig und alleinerziehend damit zutun?

ä, nichts, nur dass seine Vorstellungswelt von Vernissagen auf den Kopf gestellt wird.

das sind "spießerklischees" gewürzt mit machogehabe .


hä, wieso ist eine übergewichtige Alleinerziehende ein Spießerklischee?
Das ist doch Blödsinn, habe jedenfalls noch nie was von gehört, dass man Übergewicht mit Alleinerziehenden in Verbindung setzt. Sie ist nun mal zufällig übergewichtig, und? Und dass er wahrnimmt, dass sie in ihren Rock gepresst aussieht, ist das Bemerken der Falschheit bzw. das Ungewohnte der Situation, so ähnlich, als würde ein Bauer plötzlich in Schlips und Kragen erscheinen und man bemerkt, dass das für ihn eigentlich nicht passt (also für diesen speziellen Beispielbauern) (ich beobachte das oft bei Bewerbern)

es kommt da nicht rüber (für mich), dass er aus freundschaft hingeht. eher aus (voyeuristischer neugier gepaart mit mit dem bedürfniss, nicht mehr ganz so "ausgesetzt" zu sein.


UrhG

Danke dir, ich glaube, ich verstehe langsam.

LG
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Beitragvon Nifl » 16.02.2013, 18:36

, jetzt habe ich noch ein "Sie" gefunden - ich denke, das soll da auch nicht hin

grr (danke)

besonders diese Stelle Ich [...] gehe schnurstracks bis in den letzten Raum und bleibe vor der Wand stehen, als hätte ich dort den Notausgang erwartet und nicht ein Bild. ließ mich von Anfang an stutzen: Mag ja sein, dass er trotz aller Skepsis auf ein Bild "abfährt"


Hm, kennst du das nicht, wenn du irgendwo dazu stößt und schon so eine aufgekratzte Stimmung (so ein Cheerleadergehabe) antriffst, dass du am liebsten gleich wieder flüchten (->Notausgang) möchtest? Ich denke das Bild ist tatsächlich Zufall? Manche glauben ja gar nicht an Zufälle?

Ich finde es wunderbar, wie ihr eure Probleme mit dem Text mitteilt, auch wenn meine Reaktionen vielleicht nach Abwehrverhalten klingen, mache ich mir doch so meine Gedanken.

LG
Nifl
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Lisa
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Beitragvon Lisa » 17.02.2013, 10:51

Hallo,

Flora,

in erster Linie wollte ich dem Faden etwas Lebendigkeit verleihen, ich fand, der Text stand irgendwie da, ohne dass jemand was dazu gesagt hat außer, dass irgendwo ein Komma fehle, oder dass die Szene vor dem Bild nicht verstanden würde. Ich kann mir vorstellen, dass einen als Einsteller frustriert. Ich hatte Lust, dass sich hier noch was bewegt. Geärgert hat mich der Prot tatsächlich, aber aufgebracht eigentlich nicht. Ich habe das ganze bewusst in einen idealistischen Ton gehoben, wenn ich ernsthaft wütend bin, kann ich so nicht sprechen. Warum ich mich dazu entschieden habe? Kommt gleich...

Du schreibst:

Ich glaube es gibt sehr viele Menschen, die über ihren Schatten springen, die andere nicht enttäuschen, nicht desillusionieren wollen und deshalb Dinge sagen, Dinge tun, von denen sie glauben, dass der andere sie "hören" oder "sehen" möchte, gerade, wenn es um Kunst geht.


Und wie soll das mit solch einer inneren Haltung gelingen?
Vielleicht, weil sie mir irgendwie leid tut. Dieses unwürdige Gestrampel der Hobbykünstler für ein bisschen Anerkennung. Vernissage, allein wie das Wort klingt. Jedenfalls nicht nach einer übergewichtigen Alleinerziehenden aus der Vorstadt, sondern nach Koks und goldenen Cocktailkleidern. Sie steht an einem runden Partytisch mit weißer Plastiktischdecke, die in gewellten Falten an den Seiten runterhängt. Um sie herum sind einige Gäste versammelt. Sie hat sich in einen schwarzen knielangen Rock gezwängt.


Ich sehe hier nichts von über den Schatten springen, sondern eine nicht ausgetragene schwache Umgangsweise, die den anderen herabwürdigt.
Und deshalb habe ich mich auch dazu entschieden, die Figur herabzuwürdigen. Nicht weil sie mich besonders aufgeregt hat, sondern weil sie das macht und ich ihr dann nicht geben will, was ihr dann doch noch geschehen soll. Dass sie sich dann einfach vor das Bild stellt und alles anders ist im esbleibtdochwieesist finde ich dem Innenleben zu sehr geschenkt, nicht erzähltechnisch motiviert. Wieso sollte der Protagonist in dem Moment sowas erleben? Es muss doch irgendeine innere Motivation geben. Ich leugne nicht, dass es genau solche Momente wirklich gibt. Abetr entweder betrügen sich die Menschen in solch einem Moment selbst oder sie erleben es echt, aber dann müsste es eben so erzählt werden, dass ich es mir vorstellen kann. Kann ich hier nicht. Für mich ist es entweder Kitsch oder eben willkürlich. Dann irgendetwas aus der Erinnerung hochzuholen und mit der Gegenwart zu vermischen und dann zu behaupten, dass es das irgendwie und doch wieder gut macht, finde ich einfach zu wenig erzählerisch angestrengt. Mir reicht das nicht.

Ein pädophiler Massenmörder (eine etwas kuriose Kombination, wenn ich mir sie vorstelle .-)) hätte mich wohl - du ahnst es schon - weniger geärgert; wenn es denn gut erzählt wäre.

Lieber Nilf,

das meiste habe ich ja schon verraten. Danke für deine Reaktion :-)
Ja, Texte, in denen die Protagonisten keine Sympathieträger sind, haben es schwer. Das ist ja eine schreibtechnische Nr.1 Grundregel und nur von richtig guten Schriftstellern umschiffbar.


Es kommt drauf an, was Sympathieträger meint. Ich habe durchaus eine Vorliebe für schwache, verletzende oder abgründige, ja auch abstoßende und fragwürdige Protagonisten, aber es muss doch ein Anlass da sein, warum man (mit-)erleben möchte, was in dem Buch geschieht. Das muss nicht im Protagonisten selbst stecken, klar, aber in irgendeiner Ebene schon. Oder? Welche so gestrickten Bücher fallen dir denn ein? Ich hätte Lust, darüber nachzudenken, vor allem, weil ich gerade selbst überlege, wie man so jemanden gestalten könnte.

liebe Grüße
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

pjesma

Beitragvon pjesma » 17.02.2013, 12:46

mir fällt die lolita vom nabokov ein, ein buch dass ich voller hass gelesen hab dem hauptdarsteller engegen...hat gar auf autor überfärbt...weil es so toll geschrieben ist, dass ich mutmasen musste es wäre nicht reine fiktion...
lg

pjesma

Beitragvon pjesma » 17.02.2013, 12:52

und als positive beispiele für "unsympathen" fallen mir manche figuren von wilhelm genazzino ("abschafel" zbsp)

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nera
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Beitragvon nera » 17.02.2013, 14:39

das kommt nicht rüber, zumindest für mich nicht, dass er die "mangelende wertschätzung" im visier hat.

zu den klischees- klar sind das klischees- es sind wertungen die direkt schubladen aufmachen (alleinerziehend-ihh, hat wohl keiner mit ihr ausgehalten, sexdefizit, emmanze/ übergewichtig- einsam, muss sich wohl glücklich futtern/ zu enger rock- ist wohl auf der suche, peinlich, kein geschmack) und ,ach, jesses noch hobbykünstlerin die verkrampft nach anerkennng sucht.

wenn ich mit jemand befreundet bin, denke ich doch nicht solche dinge, wenn ich ihm zu liebe etwas mache?

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nera
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Beitragvon nera » 17.02.2013, 14:42

ein buch mit unsympath-protagonist ist für mich "der kameramörder" von thomas glavinic. er schreibt tagebuchartig im rückblick die geschichte auf und macht das so pedantisch, dass er mir von anfang an widerlich ist.

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 17.02.2013, 14:43

Nera, so empfinde ich das auch. Oder es sollte wenigstens ein anderer Tonfall sein, wären die Aussagen einfach "realistisch"/ nicht-beschönigend.


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