Überarbeitete Version:
Die Kalifornierin
Our passion is just as great as the power you have to do us harm.
Do to us whatever you want; we will love you all the same.
Martin Luther King
Die Nekropole von Populonia am Golf von Baratti war der Schauplatz der nachfolgend berichteten Ereignisse, die mich ins Gefängnis von Volterra gebracht haben – ob verdienter- oder unverdientermaßen, wage ich nicht zu entscheiden. Dankenswerter Weise verweigert man mir nun, wo ich freigestellt bin von der Arbeit in den Wäldern des Appenin, nicht Block und Bleistift. Und auf die Gefahr hin, als einer der vielen zu erscheinen, die sich darüber beklagen, sie säßen zu Unrecht ein, will ich, nachdem ich hier ein halbes Menschenleben verbrachte, aufzeichnen, was sich damals zutrug.
Ich war nach Populonia mit einem Mädchen geflohen, das ich in Florenz kennen- und lieben gelernt hatte. Taliyah fühlte sich bedroht von ihrem Mann, der ihr aus den Staaten nachgereist war und beobachtet hatte, dass sie zu Dario, einem Studenten, der in den Straßen zur Gitarre sang, in einem zärtlichen Verhältnis stand. „Dario sprach kein Wort englisch, ich kein Wort Italienisch, das war die ideale Grundlage für eine Sommerliebschaft,“ erklärte sie mir. Warum sie nicht mit ihm geflohen sei? Sie habe ihm ihr Problem nicht mitteilen können, und obgleich er die Angst, mit der sie das Auftauchen Earls im Kreis der Fans wahrnahm, kaum übersehen konnte, schien er Komplikationen aus dem Weg gehen zu wollen und freundete sich mit einer deutschen Kunstgeschichtsstudentin an.
Ich benutzte einen Trick, ich behauptete, ich könne meinen Citroen nicht wiederfinden. Ich hätte ihn in einer Seitengasse nicht weit von San Lorenzo abgestellt. Dabei stand er nicht weit vom Bahnhof, aber dort suchend hätten wir ihn viel zu schnell gefunden. So durchkämmten wir stundenlang die Altstadt, entdeckten hunderterlei verborgene Schönheiten, und ich sah mich nicht satt, sondern immer hungriger an der braun gebrannten Malibu-Schönheit meiner kalifornischen Begleiterin. Da sie es nicht wagte, in ihr Hotel zurückzukehren, wo Earl sich bereits eingenistet hatte, war sie dankbar, mit zu mir kommen zu können ins Cinque Arance, das zwischen spitzwinklig zusammenlaufenden Gassen lag, durch die die Moto Guzzi nächtlicher Kavaliere donnerten. Wir gossen Wasser auf den Fliesenboden, schliefen in getrennten Betten in der beunruhigenden Gewissheit, mehr zu einander zu gehören, als es sich für eine Ferienliebe geziemt.
Am Morgen gestand ich Taliyah die Täuschung. Sie lächelte, schüttelte den Kopf und sagte, sie habe sich sowas schon gedacht, sei aber durch meine nachts bewiesene Zurückhaltung so von mir angetan, dass sie mit mir zusammen bleiben wolle. Ob wir Florenz nicht verlassen und Orte aufsuchen könnten, an denen sie vor Earl sicherer sei. Als ich ihr die vernarbten Lausbubenknie küsste und einwilligte, gab sie mir die Adresse ihres Hotels und den Zimmerschlüssel, ich ging hin, packte ihre Wäsche, ihre Blusen und Jeans und ihr Waschzeug zusammen, presste mein Gesicht in eins ihrer Hemden, beglich die Hotelrechnung, und unsere Reise ging los. Wir verließen Florenz in westlicher Richtung über Prato, wo wir die stattlichen Überreste einer Burg bestiegen und aus der Höhe auf die Silhouette der Stadt zurückblickten, die uns zusammengeführt hatte.
In Lucca bestiegen wir einen Turm, auf dem ein Wäldchen von Steineichen den Betrachtern der rotgeziegelten Dächer Schatten bietet. Für uns zwei Zusammengeworfene war es ein Blick auf die Landkarte unserer Zukunft, wir sogen uns voll mit der Fülle des Möglichen, vertrauensvoll lag Taliyahs Kopf an meiner Schulter, sie sah mich glücklich an, ihre dunklen Augen mit den blauen Einsprengseln („My mother was Danish“) lachten, ihre Lippen lösten sich von einander und gaben den Glanz der Verheißung frei.
Bei Tirrenia gelangten wir ans Meer; Taliyah hatte sich durch den Namen angezogen gefühlt, aber wir mussten feststellen, dass es sich um einen Fall von vergangener Pracht handelte: Leer stehende Hotels, verödete Baustellen und ein von Felsen versperrter Strand waren nicht dazu angetan, uns zu fesseln. Wir fuhren südwärts in die Nähe von Piombino, wo wir im Albergo Etruria ein schlichtes und familiäres Quartier fanden. Großvater und Großmutter hüteten einen rotzfrechen Vierjährigen, an der Wand im Wohnzimmer hing eine feuerrote Moto Guzzi Falcone, und vom Frühstücksplatz aus überblickte man den lachenden Golf von Baratti.
Das Essen war gut im Albergo Etruria, aber nachdem wir zweimal dort gegessen hatten, sehnten wir uns nach Abwechslung und erhielten die Adresse eines Freundes von Emilio, der Gäste zu einem privaten Abendessen bewillkommnete. Es gab weder Karte noch Rechnung, aber einen vorzüglichen Brotsalat, delikate Lammleber mit Salbei und Minze und Mandelplätzchen, in Abendmahlswein zu stippen. Alles hätte wunderschön sein können – wenn nicht Taliyah plötzlich die Hand auf den Mund gepresst hätte, um einen Aufschrei zu ersticken. In einer Gruppe neuer Gäste hatte sie Earl entdeckt, der mit weit ausholenden Bewegungen seiner schlanken Hände dozierte. Ich beobachtete ihn, aber er schaute nicht zu uns herüber. Wir legten Geld auf den Tisch und verließen den Garten so, dass wir das Blickfeld der lachend um ein dickes Baby und seine madonnenhafte Mutter sich scharenden Gruppe vermieden.
„Warum hast du solche Angst vor Earl?“ Diese Frage stellte ich ich ihr, und sie begann zu erzählen. Sie entrollte das Panorama einer leidenschaftlichen Liebe, die nach drei Jahren in Hass umgeschlagen war. „Ich studierte noch in Yale und habe ihn bewundert, wie er uns mitriss in einer Rede, die den Burgfrieden mit den Weißen endgültig aufkündigte und die sogar Martin Luther King als uncle Tom verächtlich machte, aber ich habe ihn auch begehrt – am meisten wegen seiner Hände, du hast sie gesehen. Ich meldete mich für einen von ihm geleiteten Kurs, war dort die einzige Kaukasierin, er wollte meine Motive kennenlernen, behielt mich nach dem Unterricht da – und lernte sie kennen. Es war eine Leidenschaft, wie sie wohl nur zwischen so unterschiedlichen Menschen entbrennen kann, wir glaubten, sie durch die Ehe bändigen und kanalisieren zu können, aber dieser äußere Zwang hatte nur eine Folge: Dass wir einander zu hassen begannen, und das mit derselben Inbrunst, mit der wir einander vorher liebten. Hast du schon erlebt, dass Hass die Grundlage sexueller Vereinigung werden kann? Ich habe es nicht einmal, ich habe es hundertmal erlebt und bin aus dieser Hölle schließlich hierher geflohen in der Hoffnung, Abstand zu gewinnen und loszukommen von ihm.“
Wir durchwanderten die etruskische Gräberstätte von San Cerbone und betraten die tomba dei carri, die nach bronzenen Kampfwagen heißt, die hier als Grabbeigaben gefunden wurden. Taliyah erfüllte der Tuffsockel, auf dem der zu Bestattende einst abgelegt worden war, mit makabrer Sehnsucht: Hier würde auch sie gern ausruhen wollen, murmelte sie. Hinaustretend bestaunten wir die von den alten Etruskern gefügten Steinmauern, die Taliyah an peruanisches Mauerwerk erinnerten, wie sie es in den Anden gesehen hatte: Die Steine waren mit ähnlicher Präzision lückenlos und unvermörtelt miteinander verfugt. „Was war der Grund für euern Hass?“ „Es war nicht unserer, es war vor allem seiner, aber wie in Notwehr erwachte auch meiner. Er behauptete, mein Urgroßvater, der bis zum Ende der dänischen Herrschaft eine Zuckerplantage auf Saint Croix besaß, sei Sklavenhalter gewesen. Von dort stammten auch seine, Earls, Vorfahren, und alles Unrecht, das die weiße Rasse der schwarzen angetan hat, schien sich wie durch ein Brennglas für ihn auf mich zu bündeln, an mir, seiner Geliebten, wollte er das Unsägliche rächen, das ihm und seinen Vorfahren angetan worden war, besonders einer Urgroßmutter: Sie war wegen einer Bagatelle ausgepeitscht worden, bis sie ihre Leibesfrucht verlor, und die hatte man den Hunden vorgeworfen. An mir war es, diese Rache zuzulassen, damit sie nicht andere traf – und um ihn durch das Übermaß der mir zugefügten Qualen ins Unrecht zu setzen.“
Ich begriff nicht, warum eine solche Rache an einem Menschen vollzogen werden muss, den man liebt; aber ich wagte danach nicht zu fragen, allzu tief war ich in Taliyahs Lebensschicksal nun schon eingedrungen, es erschien mir indiskret, mehr wissen zu wollen, und ich wollte auch den Anschein jener lächerlichen Eifersucht vermeiden, die sich auf längst Vergangenes bezieht. Sie aber las mir meine Fragen an den Augen ab, und dass ich sie nicht aussprach, rührte sie, wir küssten uns, unsere Zungen taten Sinnvolleres als reden, wir verzogen uns in den Schatten des Mimosengebüschs, sie genoss das Entzücken, das sie in mir auslöste, ich delirierte im krausen Kastaniengewölk ihrer aus Schläfen und Nacken mit Urgewalt hervorbrechenden Locken und wurde ihr Mann ohne Priester und Standesamt.
„Vieles, was wir mit den Römern in Verbindung bringen,“ erklärte uns tags darauf eine deutsche Kunstgeschichtsstudentin, „die Vogelschau der haruspices, die Betrachtung und Ausdeutung der Leber des Opfertiers, das Umwinden der Äxte mit fasces, Reisern, sind Übernahmen etruskischen Brauchtums, wobei auch die Etrusker es nicht erfunden haben müssen, stammen sie doch ursprünglich aus dem Orient und waren dort mannigfachen Beeinflussungen ausgesetzt, so der babylonischen. Die Sehnsucht danach, für politisches Verhalten eine wissenschaftliche Grundlage zu finden, ist uralt und auch heute noch lebendig, denken Sie nur an den wissenschaftlichen Sozialismus, der seine Politik für dialektisch-marxistisch abgesichert hält.“
Hier zwinkerte sie mir auf eine Weise zu, die offen ließ, ob ihre Worte als Kritik oder als Propaganda zu verstehen waren. Ich bemerkte Taliyahs fassungslosen Blick, und als sie sich kurz darauf entschuldigte, die niederkeulende Sonne sei ihr trotz des Strohhuts zu heiß, sie wolle sich hinlegen, fand ich den Vortrag unserer Führerin zu interessant, um sie zu begleiten. Nach einer Stunde zurückkehrend, hörte ich Taliyah schon durch die Zimmertür weinen. „Was musst du dieses Mädchen anschmachten wie ein Schuljunge?“, schrie sie mich an, als ich hereinkam. „Du bist auch nicht besser als Dario, der sich in Brunilda mit ihren schwarzen Zähnen verknallt, ich hasse dich und es ekelt mich vor dir schon jetzt, denn ich weiß genau, du willst mich nur erniedrigen, und bitte, bitte, so tu’s doch, glaubst du etwa, mir macht’s was aus?“ Und ruhte nicht, bis sie mich in die Rolle des hassenden und zerstörerischen Liebhabers gedrängt hatte, bis ich vollzog, wofür ich mich von ihr verachtet wusste. Verwirrt und gedemütigt meinerseits floh ich aus dem Albergo Etruria.
Ich irrte die Nacht über durch den Pinienwald an der Küste, versuchte Schlaf zu finden, aber die diamantenen Sterne durchstachen mir die Augenlider. Morgens kehrte ich ins Hotel zurück – und fand Taliyah blutüberstömt auf ihrem Bett, den Leib mit einem langen Schnitt geöffnet, tot. Völlig verstört hob ich sie auf die Arme, trug sie, von der gelähmt mich anstarrenden Wirtsfamilie unbehindert, an der feuerroten Moto Guzzi Falcone vorbei hinüber nach San Cerbone und legte sie auf den Tuffsockel in der tomba dei carri.
Hier blieb ich, bis ich verhaftet wurde.
Jeder angehende Jurist lernt im ersten Semester, dass ein Geständnis kein Beweis ist. Aber in einem Land, das so auf Tourismus angewiesen ist wie Italien, werden Verbrechen an Touristen schnell und drakonisch bestraft. Der Staatsanwalt war froh, in mir einen geständigen Täter zu haben, und als ich zu Lebenslänglich verurteilt wurde, erfüllte mich tiefe Befriedigung, denn ich vollzog ein Vermächtnis Taliyahs: Es war jetzt an mir, die Rache zuzulassen, damit sie nicht andere traf, und den Rächer zu decken. Ein Detail wurde von der Boulevardpresse ungebührlich aufgebauscht: Der Toten war die Leber entnommen worden. Sie wurde erst Wochen nach dem Verbrechen in der tomba dei carri gefunden, verfärbt und geschrumpft zu einer schwarzen Faust.
Nachtragen will ich noch, dass mir ein gutes Dutzend Jahre später der Besuch eines Mannes mit Namen Yusuf al-Nadim angekündigt wurde. Da ich ihn nicht kannte, befürchtete ich, es könnte ein Klatschreporter unter diesem Namen sich an mich heranpirschen wollen – dann überwog aber doch die Neugier, und schon wenige Minuten später umschloss eine schlanke Hand die meine. Er sei gekommen, um mir seinen Dank und seine Hochachtung auszusprechen. Bevor wir auseinander gingen, umarmten wir uns.
Erstfassung:
Die Nekropole von Populonia am Golf von Baratti war der Schauplatz der nachfolgend berichteten Ereignisse, die mich in die Mediceerfestung von Volterra gebracht haben – ob verdienter- oder unverdientermaßen, wage ich nicht zu entscheiden. Dankenswerter Weise verweigert man mir nicht Block und Bleistift. Und auf die Gefahr hin, als einer der vielen zu erscheinen, die sich darüber beklagen, sie säßen zu Unrecht ein, will ich, nachdem ich hier ein halbes Menschenleben verbrachte, aufzeichnen, was sich damals zutrug.
Ich war nach Populonia mit einem Mädchen geflohen, das ich in Florenz wenige Jahre nach dem verheerenden Arnohochwasser im Schatten des Barghello kennen- und lieben lernte. Taliyah fühlte sich bedroht von ihrem Mann, der ihr aus den Staaten nachgereist war und beobachtet hatte, dass sie zu Dario, einem Studenten, der in den Straßen zur Gitarre sang, in einem zärtlichen Verhältnis stand. „Dario sprach kein Wort englisch, ich kein Wort Italienisch, das war die ideale Grundlage für eine Sommerliebschaft,“ erklärte sie mir. Warum sie nicht mit ihm geflohen sei? Sie habe ihm ihr Problem nicht mitteilen können, und obgleich er die Angst, mit der sie das Auftauchen Earls im Kreis der Fans wahrnahm, kaum übersehen konnte, schien er Komplikationen aus dem Weg gehen zu wollen und freundete sich mit einer Deutschen an.
Ich benutzte einen Trick, dessen ich mich alsbald schämte. Ich eröffnete Taliyah, ich könne meinen Citroen nicht wiederfinden. Ich hätte ihn in einer Seitengasse nicht weit von San Lorenzo abgestellt. Dabei stand er nicht weit vom Bahnhof, aber dort suchend hätten wir ihn viel zu schnell gefunden. So durchkämmten wir stundenlang die Altstadt, entdeckten hunderterlei verborgene Schönheiten, die in keinem Touristenführer stehen, und ich sah mich nicht satt, sondern immer hungriger an der braun gebrannten Malibu-Schönheit meiner kalifornischen Begleiterin. Da sie es nicht wagte, in ihr Hotel zurückzukehren, wo Earl sich bereits eingenistet hatte, war sie dankbar, mit zu mir kommen zu können ins Cinque Arance, das zwischen spitzwinklig zusammenlaufenden Gassen lag, durch die die Moto Guzzi nächtlicher Kavaliere donnerten. Wir gossen Wasser auf den Fliesenboden, damit seine Verdunstung den Raum ein wenig kühlte, schliefen in getrennten Betten in der beunruhigenden Gewissheit, mehr zu einander zu gehören, als es sich für eine Ferienliebe geziemt.
Am Morgen gestand ich Taliyah die Täuschung. Sie lächelte, schüttelte den Kopf und sagte, sie habe sich sowas schon gedacht, sei aber durch meine nachts bewiesene Zurückhaltung so von mir angetan, dass sie mit mir zusammen bleiben wolle. Ob wir Florenz nicht verlassen und Orte aufsuchen könnten, an denen sie vor Earl sicherer sei. Als ich ihr die vernarbten Lausbubenknie küsste und einwilligte, gab sie mir die Adresse ihres Hotels und den Zimmerschlüssel, ich ging hin, packte ihre Wäsche, ihre Blusen und Hosen und ihr Waschzeug zusammen (ich gestehe, ich habe mein Gesicht in eins ihrer Hemden gepresst), beglich die Hotelrechnung, und unsere Reise ging los. Wir verließen Florenz gen Westen über die alte Textilstadt Prato, wo wir die stattlichen Überreste der Stauferburg mit ihren ghibellinischen Zinnen bestiegen und aus der Höhe auf die Silhouette der Mediceermetropole zurückblickten, die uns zusammengeführt hatte.
In Lucca bestiegen wir den Torre Guinigi, auf dem ein Wäldchen von Steineichen den Betrachtern der rotgeziegelten Dächer denselben Schatten bietet wie einst Castruccio Castracani, dem grausamen Herrscher der Stadt. Für uns zwei Zusammengeworfene war es ein Blick auf die Landkarte unserer Zukunft, wir sogen uns voll mit der Fülle des Möglichen, vertrauensvoll lag Taliyahs Kopf an meiner Schulter, sie sah mich glücklich an, ihre dunklen Augen mit den blauen Einsprengseln („My mother was Danish“) lachten, ihre Lippen lösten sich von einander und gaben den Glanz der Verheißung frei.
Bei Tirrenia gelangten wir ans Meer; Taliyah hatte sich durch den Namen und durch die Nähe zu den Marmorbrüchen von Carrara angezogen gefühlt, aber wir mussten feststellen, dass es sich um einen Fall von vergangener Pracht handelte: Leer stehende Hotels, verödete Baustellen und ein von Felsen versperrter Strand waren nicht dazu angetan, uns zu fesseln. Bei einem Paar, bleich und düster wie Herbergsvater und –mutter einer Hadesabsteige, fanden wir ein entsprechend nüchternes Zimmer, in dem nur für das Nötigste gesorgt war. Beklommen lagen wir auf den Betten, betrachteten die magermilchblaue Zimmerdecke, erforschten erneut das Mögliche und fanden es auf unerträgliche Weise eingeschränkt. An den Wänden entdeckten wir die Schatten und Haken abgehängter Bilder. „Nein, hier bleiben wir nicht!“, fanden wir mit fröhlicher Gleichzeitigkeit heraus, gaben Schlüssel und Handtücher an Hades und Persephone zurück und fuhren südwärts bis in die Nähe der Erzstadt Piombino, wo wir im Albergo Etruria ein schlichtes und familiäres Quartier fanden. Großvater und Großmutter hüteten einen rotzfrechen Vierjährigen, an der Wand im Wohnzimmer hing als Devotionalie eine feuerrote Moto Guzzi Falcone und harrte der Anbetung, und vom Frühstücksplatz aus überblickte man den lachenden Golf von Baratti.
Das Essen war gut im Albergo Etruria, rührend besorgt präsentierte uns Emilio, der Wirt, eine Flasche Triestiner Bier wie eine Weinflasche zur Begutachtung von Jahrgang und Wachstum. Aber nachdem wir zweimal dort gegessen hatten, sehnten wir uns nach Abwechslung und erhielten die Adresse eines Freundes von Emilio, der Gäste zu einem privaten Abendessen bewillkommnete. Es gab weder Karte noch Rechnung, aber panzanella, einen vorzüglichen Brotsalat, delikaten fegato alla Toscana mit Salbei und Minze und cantuccini, Mandelplätzchen, in vino santo, Abendmahlswein, zu stippen, zum Abschluss. Alles hätte wunderschön sein können – wenn nicht Taliyah plötzlich die Hand auf den Mund gepresst hätte, um einen Aufschrei zu ersticken. In einer Gruppe neuer Gäste hatte sie Earl entdeckt, der mit weit ausholenden Bewegungen seiner überschlanken Hände dozierte. Ich beobachtete ihn, aber er schaute nicht zu uns herüber. Wir legten Geld auf den Tisch und verließen den Garten so, dass wir das Blickfeld der lachend um ein dickes Baby und seine madonnenhafte Mutter sich scharenden Gruppe vermieden.
„Warum hast du solche Angst vor Earl?“ Diese Frage stellte ich ich ihr, und sie begann zu erzählen. Sie entrollte das Panorama einer leidenschaftlichen Liebe, die nach drei Jahren in Hass umgeschlagen war. „Ich studierte noch in Yale und habe ihn bewundert, wie er uns mitriss in einer Rede, die den Burgfrieden mit den Weißen endgültig aufkündigte und die sogar den großen Martin Luther King als uncle Tom verächtlich machte, aber ich habe ihn auch begehrt – am meisten wegen seiner überschlanken Hände, du hast sie gesehen. Ich meldete mich für einen von ihm geleiteten Kurs, war dort die einzige Kaukasierin, er wollte meine Motive kennenlernen, behielt mich nach dem Unterricht da – und lernte sie kennen. Es war eine Leidenschaft, wie sie wohl nur zwischen so unterschiedlichen Menschen entbrennen kann, wir glaubten sie durch die Ehe bändigen und kanalisieren zu können, aber dieser äußere Zwang hatte nur eine Folge: Dass wir einander zu hassen begannen, und das mit derselben Inbrunst, mit der wir einander vorher liebten. Hast du schon erlebt, dass Hass die Grundlage sexueller Vereinigung werden kann? Ich habe es nicht einmal, ich habe es hundertmal erlebt und bin aus dieser Hölle schließlich hierher geflohen in der Hoffnung, Abstand zu gewinnen und loszukommen von ihm.“
Wir durchwanderten die Nekropole von San Cerbone und betraten die tomba dei carri, die nach den bronzenen Kampfwagen heißt, die hier als Grabbeigaben gefunden wurden. Taliyah erfüllte der Tuffsockel, auf dem der zu Bestattende einst abgelegt worden war, mit makabrer Sehnsucht: Hier würde auch sie gern ausruhen wollen, murmelte sie. Hinaustretend bestaunten wir die wundersam von den alten Etruskern gefügten Steinmauern, die Taliyah an peruanisches Inkamauerwerk erinnerten, wie sie es in Cuzco hoch in den Anden zu bewundern Gelegenheit gehabt hatte: Die Steine waren mit ähnlicher Präzision lückenlos und unvermörtelt miteinander verfugt. „Was war der Grund für euern Hass?“ „Es war nicht unserer, es war vor allem seiner, aber wie in Notwehr entbrannte auch der meine. Er behauptete, mein Urgroßvater, der bis zum Ende der dänischen Herrschaft eine Zuckerplantage auf Saint Croix besaß, sei Sklavenhalter gewesen. Von dort stammten auch seine, Earls, Vorfahren, und alles Unrecht, das die weiße Rasse der schwarzen angetan hat, schien sich wie durch ein Brennglas für ihn auf mich zu bündeln, an mir, seiner Geliebten, wollte er das Unsägliche rächen, das ihm und seinen Vorfahren angetan worden war, besonders einer Urgroßmutter, die ausgepeitscht worden war, bis sie ihre Leibesfrucht verlor, die man den Hunden vorwarf. An mir war es, diese Rache zuzulassen, damit sie nicht andere traf – und um ihn durch das Übermaß der mir zugefügten Qualen ins Unrecht zu setzen.“
Ich begriff nicht, warum eine solche Rache an einem Menschen vollzogen werden muss, den man liebt; aber ich wagte danach nicht zu fragen, allzu tief war ich in Taliyahs Lebensschicksal nun schon eingedrungen, und es erschien mir indiskret, ja, mit dem Anschein jener lächerlichen Eifersucht, die sich auf längst Vergangenes bezieht, behaftet, mehr wissen zu wollen. Sie aber las mir meine Fragen an den Augen ab, und dass ich sie nicht aussprach, rührte sie, wir küssten uns, unsere Zungen taten Sinnvolleres als reden, wir verzogen uns in den Schatten des gelb blühenden Mimosengebüschs, sie genoss das Entzücken, das ihre braun gebrannte Malibu-Schönheit in mir auslöste, ich delirierte im krausen Kastaniengewölk ihrer aus Schläfen und Nacken mit Urgewalt hervorbrechenden Locken und wurde ihr Mann ohne Priester und Standesamt.
„Vieles, was wir mit den Römern in Verbindung bringen,“ erklärte uns tags darauf die glutäugige Führerin der Touristengruppe durch die Nekropole, „die Vogelschau der haruspices, die Betrachtung und Ausdeutung der Leber des Opfertiers, das Umwinden der Äxte mit fasces, Reisern, sind Übernahmen etruskischen Brauchtums, wobei auch die Etrusker es nicht erfunden haben müssen, stammen sie doch ursprünglich aus dem Orient und waren dort mannigfachen Beeinflussungen ausgesetzt, so der babylonischen. Die Sehnsucht danach, für politisches Verhalten eine wissenschaftliche Grundlage zu finden, ist uralt und auch heute noch lebendig, denken Sie nur an den wissenschaftlichen Sozialismus, der seine Politik für dialektisch-marxistisch abgesichert hält.“
Hier zwinkerte und lächelte sie mir mit ihren Kohleaugen auf eine Weise zu, die offen ließ, ob ihre Worte als Kritik oder als Propaganda zu verstehen waren. Ich bemerkte Taliyahs fassungslosen Blick, und als sie sich kurz darauf entschuldigte, die niederkeulende Sonne sei ihr trotz des Strohhuts zu heiß, sie wolle sich hinlegen, fand ich den Vortrag unserer Führerin zu interessant, um sie zu begleiten. Nach einer Stunde zurückkehrend, hörte ich Taliyah schon durch die Zimmertür weinen. „Was musst du diese italienische Geierin anschmachten wie ein Schuljunge?“, schrie sie mich an, als ich hereinkam. „Du bist auch nicht besser als Dario, der sich ausgerechnet in Brunilda, this kraut bimbo, mit ihren schwarzen Zähnen verknallt, ich hasse dich und es ekelt mich vor dir schon jetzt, denn ich weiß genau, du willst mich nur erniedrigen, und bitte, bitte, so tu’s doch, glaubst du etwa, mir macht’s was aus?“ Und ruhte nicht, bis sie mich in die Rolle des hassenden und zerstörerischen Liebhabers gedrängt hatte, bis ich vollzog, wofür ich mich von ihr verachtet wusste. Verwirrt und gedemütigt nun meinerseits floh ich aus dem Albergo Etruria.
Ich irrte die Nacht über durch die pineta an der Küste, versuchte Schlaf zu finden, aber die diamantenen Sterne durchstachen mir die Augenlider. Morgens kehrte ich ins Hotel zurück – und fand Taliyah blutüberstömt auf ihrem Bett, den Leib mit einem langen Schnitt geöffnet, tot. Fast wahnsinnig vor Entsetzen hob ich sie auf die Arme, trug sie, von der gelähmt mich anstarrenden Wirtsfamilie unbehindert, an der feuerroten Moto Guzzi Falcone vorbei hinüber nach San Cerbone und legte sie ab auf dem Katafalk aus Tuffstein in der tomba dei carri.
Hier blieb ich fassungslos vor ihr knien, bis ich verhaftet wurde.
Jeder angehende Jurist lernt im ersten Semester, dass ein Geständnis kein Beweis ist. Aber in einem Land, das so auf Tourismus angewiesen ist wie Italien, werden Verbrechen an Touristen schnell und drakonisch bestraft. Der procuratore war froh, in mir einen geständigen Täter zu haben, und als ich a vita verurteilt wurde, erfüllte mich tiefe Befriedigung, denn ich vollzog ein Vermächtnis Taliyahs: Es war jetzt an mir, die Rache zuzulassen, damit sie nicht andere traf, und den Rächer zu decken. Ein düsteres Detail wurde von der Boulevardpresse ungebührlich aufgebauscht: Der Toten war die Leber entnommen worden. Sie wurde erst Wochen nach dem Verbrechen in der tomba dei carri gefunden, verfärbt und geschrumpft zu einer schwarzen Faust.
Nachtragen will ich noch, dass mir ein gutes Dutzend Jahre später der Besuch eines Mannes mit Namen Yusuf al-Nadim angekündigt wurde. Da ich ihn nicht kannte, befürchtete ich, es könnte ein Klatschreporter unter diesem Namen sich an mich heranpirschen wollen – dann überwog aber doch die Neugier, und schon wenige Minuten später umschloss eine wundervoll schlanke Hand die meine. Er sei gekommen, um mir seinen Dank und seine Hochachtung auszusprechen. Und dann verriet er mir das Kennwort derer, denen die Zukunft gehört.
1. Änderung: "Romantische Flucht" gestrichen, Schreibfehler verbessert.
2. Änderung: Neufassung eingestellt
Die Kalifornierin
Hallo Zakkinen,
habe den Text noch mal in die Werkstatt genommen und entschlackt, wodurch er auch um 10 % kürzer wurde. Mit Dank an Dich, Ferdi, Sam, Nifl, Allerleihrauh und Arne - ich hoffe, er ist besser geworden, auch durch zwei inhaltliche Änderungen am Schluss.
Gruß
Quoth
habe den Text noch mal in die Werkstatt genommen und entschlackt, wodurch er auch um 10 % kürzer wurde. Mit Dank an Dich, Ferdi, Sam, Nifl, Allerleihrauh und Arne - ich hoffe, er ist besser geworden, auch durch zwei inhaltliche Änderungen am Schluss.
Gruß
Quoth
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.
Hallo Quoth, Deine neue Bearbeitung wirkt zwar schlichter und läßt sich besser lesen, aber den Eindruck eines motivischen Setzkastens habe ich immer noch.
Dabei gelingt es Dir in beiden Fassungen durchaus, Kulisse, Spannung und Dramatik aufzubauen und damit zu beeindrucken.
Vielleicht ist es ja die männliche, fast schon patriarchale Erzählhaltung, die den ohnehin symbolisch überfrachteten Text unfreiwillig persifliert. Werde vllt. mal versuchen, eine eigene Bearbeitung als Diskussionsbasis davon zu erstellen ... .
Bis dahin erst mal viele Grüße und schöne Weihnachtstage !
Dabei gelingt es Dir in beiden Fassungen durchaus, Kulisse, Spannung und Dramatik aufzubauen und damit zu beeindrucken.
Vielleicht ist es ja die männliche, fast schon patriarchale Erzählhaltung, die den ohnehin symbolisch überfrachteten Text unfreiwillig persifliert. Werde vllt. mal versuchen, eine eigene Bearbeitung als Diskussionsbasis davon zu erstellen ... .
Bis dahin erst mal viele Grüße und schöne Weihnachtstage !
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