Cora, abgelaufen

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 11.11.2009, 23:35

Da liegt es, vor ihrer Tür. Kaum zu sehen unter dem Haufen welker Blätter, die der nächtliche Wind in den Eingang geblasen hat.
Cora hebt das Päckchen auf und schubst das Herbstlaub in den Rinnstein. Das, was vom Rinnstein übrig ist. In ihren Laden zu kommen, gleicht einem Hindernisrennen. Zuerst die Absperrungen: Es gibt keine Parkplätze, die Straße ist nur noch einspurig befahrbar. Wer von der falschen Seite kommt, hat das Nachsehen. Ein Schild »Fußgänger andere Straßenseite benutzen« scheucht jeden potentiellen Kunden vom Schaufenster weg.
Wer trotzdem etwas bei Cora kaufen will, muss sich seinen Weg über einen wackligen Brettersteg suchen. Darunter gähnt ein Abgrund von Schotter und Matsch. Das geht so seit Wochen.
Irgendwann hat sich Cora eine Flasche Sekt unter die Theke gestellt für eine besondere Gelegenheit, etwa wenn eine Kundin für einen Hunderter einkaufen sollte. Der Sekt steht schon sehr lange da und das Haltbarkeitsdatum ist längst überschritten. Wie auch das ihres Warenangebots. Kürbiswindlichter, Filzfledermäuse, Blumenstecker in Vogelscheuchenform, aus Pfeifenputzerdraht gebastelte Hexlein fürs Fenster. Inzwischen ist es schon November; keiner wird mehr Kürbiswindlichter kaufen und neue Ware (diesmal in Gestalt von Adventskalendern, Holznikoläusen und Papp-Engelchen) mag sie gar nicht erst bestellen.
Schräg gegenüber von ihrem Laden steht der Imbisswagen der Bauarbeiter. Es sind entweder jeden Tag andere oder sehr viele, jedenfalls sieht Cora immer neue Gesichter. Bei der Größe der Baustelle wäre denkbar, dass Dutzende von gelb behelmten Männern am Werk sind. Voran geht es trotzdem nicht. Im Gegenteil, die Absperrungen und Engstellen werden immer mehr. Die Baustelle erstreckt sich schon durch die halbe Innenstadt wie eine eklige Hautkrankheit, die immer neue Körperpartien befällt.
Im Laden knipst Cora die beiden Salzsteinlampen an, die das Schaufenster flankieren, und öffnet das Päckchen. Es enthält eine hölzerne Haarspange in Form eines Ahornblatts. Die angehängte Karte wünscht in linkslastiger Handschrift: »Einen fröhlichen Tag!«
Cora lächelt. Fast jeder zweite Tag bringt eine neue Überraschung. Die beiden Pikkolos vorgestern, eine gute Sorte. Die Tüte feinstes Magenbrot letzte Woche mit dem schwerhändig gekrakelten »Guten Appetit!« war auch nicht schlecht. Der hellblaue Viskoseschal – nichts Teures, aber mit Geschmack ausgesucht und genau zu ihrem blauen Mantel passend. Die anhängende Grußkarte war ebenfalls blau und mit einem eleganten blauen Zweizeiler versehen. Und das kleine silberne Ginkgoblatt an einer dünnen Kette liebt sie ganz besonders. Es waren Grüße dabei in drei verschiedenen Handschriften. Cora trägt das Blättchen jeden Tag.
Draußen ist es noch winterlich dunkel. Cora tritt in ihr Schaufenster zwischen die beiden Salzsteinleuchten.
Ganz langsam knöpft sie ihren Mantel auf, streift ihn von den Schultern und lässt ihn zu Boden fallen. Der hellblaue Schal flattert hinterher. Cora tastet nach dem Haarknoten in ihrem Nacken und zieht die Nadeln heraus. Ihr Haar ist Coras Stolz; noch immer fällt es lang und dicht wie ein schwarzer Vorhang. Sie schüttelt es kräftig aus, lächelt hinaus ins Dunkel und hebt die Hand zu einem flüchtigen Winken.
Am Abend findet sie neben der Ladentür eine rote Baustellenlampe, sorgfältig auf Hochglanz gebracht. Cora stellt sie auf das Regal im Schaufenster, zwischen die beiden Salzsteinleuchten, die Kürbisse, die Fledermäuse und Vogelscheuchenmännchen, die ganze abgelaufene Ware.
Morgen wird sie etwas Besonderes anziehen.


©Anna Rinn-Schad

12.11.: Tippfehler editiert dank aram.
Zuletzt geändert von Zefira am 13.11.2009, 00:05, insgesamt 3-mal geändert.

Mucki
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Beitragvon Mucki » 18.11.2009, 17:34

Hi Zefi,
Das scheint mir überhaupt das Oberthema aller Cora-Geschichten zu sein - wie sie mit dem Alleinsein umgeht ...

ein sehr interessantes Oberthema, finde ich. Gerne würde ich alle Cora-Geschichten lesen.

Saludos
Mucki


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