3. Fassung
(inspiriert von Brecht/Weill, Bills Ballhaus in Bilbao aus Happy End und der Figur Seeräuber-Jenny aus Dreigroschenoper)
Der cremeweiße Hosenanzug mit glänzenden Satinrevers ist für die magere Gestalt zu weit, zu groß.
Ein heißer Windstoß fährt über den Platz. Jenny stemmt sich gegen die Böe, sie ist schwach und zart geworden in letzter Zeit.
„Irgendwie halte ich das nicht mehr gut aus ...“ Sie leckt über die ausgetrockneten Lippen. Etwas steif in den Beinen geht sie weiter. Es ist mehr ein Schlurfen, denn die weißen Satinpumps sitzen nicht richtig, auch sie sind zu locker geworden. Jenny muss sich sehr konzentrieren auf ihrem Weg über die Plaza Nueva, denn der Boden ist aus glatt polierten Quadern. Der weiße Strohhut rutscht bei dem nächsten Windstoß tief in ihr Gesicht.
„Sogar der Schädel fängt an zu verschwinden ...“, sagt sie und rückt ihn wieder zurecht.
Das Gebäude, auf das Jenny zustrebt, sticht aus dem gediegenen, gutbürgerlichen Ensemble rund um den Platz hervor. Verziert mit unzähligen Türmchen und Balkons, sieht es aus wie eine Hochzeitstorte mit rosarotem Zuckerguss. Jenny schüttelt den Kopf darüber. „Sehr alt sind wir in Wahrheit und müde, so müde ... wir sind maskiert, damit niemand es bemerken kann, was wir so alles erlebten, überlebten. Nur du und ich wissen noch, wie wir wirklich sind.“
Einer der Fensterläden aus Holz schlägt im Wind, Jenny grinst, auch wenn sie erschöpft ist. Sie hat eine lange und anstrengende Reise hinter sich. Dazu die Erregung, hierher zu kommen – zuletzt war sie vor fünfzig Jahren hier gewesen.
Im Moment wünscht sie sich nichts anderes, als in einem bequemen Fauteuil zu versinken und einen kühlen, sahnigen Cocktail Blue Hawaii zu schlürfen. Früher gab es hier in diesem Etablissement, das sie jetzt betritt, nur Rum oder billigen Brandy.
Der livrierte Portier hält Jenny die Tür mit einer Verbeugung auf. Nach der abendlichen Hitze, dem Wind, umfängt sie Kühle.
„Klimatisiert, oh du mein Gott“, sagt sie und betritt den Saal. Ihre Füße versinken im plüschigen weinroten Teppichboden. Jenny amüsiert sich über ihr eigenes Erstaunen. „Was ist“, sagt sie zu sich selbst, „dachtest du wirklich, es würde sein wie damals?“
Früher hieß der Laden Bills Ballhaus. „Tanzpalast, blödes Wort.“
Üppige Fauteuils anstatt der rauen Holzbänke, noble Wandleuchten haben die rußenden Petroleumlampen abgelöst.
Ja, das Klavier. Es steht noch dort, wo es immer schon gestanden hat, doch jetzt ist es ein eleganter, schwarz glänzender Flügel statt des alten Pianos.
„Das ist es schon. Eben anders.“ Jenny sucht sich einen Fauteuil nahe dem Klavier aus.
Mit einem Seufzen sinkt sie in den weichen Samt. Sogleich steht ein Kellner mit dem Bestellblock neben ihr.
Jenny lacht: „Hoppla, so etwas bin ich hier nicht gewöhnt!“
„Wie belieben?“, fragt der Kellner.
„Nichts, junger Mann. In meinem Alter neigt man zu Selbstgesprächen. Ich möchte einen Cocktail. Blue Hawaii. Haben Sie Zigarillos da?“
„Selbstverständlich.“
„Bringen Sie mir fünf Stück.“
Während sie auf die Bestellung wartet, schaut sie dem Pianisten zu, der lustlos langweilige Schlager klimpert. Auch er sieht müde aus und ist nicht mehr jung, aber um vieles jünger als Jenny.
Sie trinkt, legt dann den Strohhut ab und ordnet ihr hitzefeuchtes Haar.
Allmählich füllt sich der Tanzpalast mit Gästen. Diskrete Blicke streifen die alte Frau, die hustend ihren ersten Zigarillo nach vielen Jahren raucht.
Jenny ist zweiundachtzig Jahre alt und sieht aus wie hundert. Obwohl sie das weiß, hat sie die Lippen dunkelrot ausgemalt. Sie kramt einen kleinen Spiegel aus der Tasche und wirft einen Blick hinein. Der rauchgraue Lidschatten hat sich im Seidenpapiergeknitter um die Augen abgesetzt, sie tupft darauf herum. Auch wenn sich Jenny nicht für die mitleidigen, teils spöttischen Blicke der Leute interessiert, die in ihren Augen genau so langweilig sind wie der Rest dieses Etablissements, möchte sie so hübsch aussehen, wie es nur möglich ist. Für sich.
Nach dem dritten Cocktail, dem zweiten Zigarillo ohne Hustenanfall, fühlt sie sich soweit gestärkt, dass sie zum Klavier geht und den Pianisten um eine Rumba bittet. Sie stellt sich in die Mitte der noch leeren Tanzfläche und wartet darauf, dass der Klavierspieler beginnt.
„Rumba perfidia!“ Sie streift die Pumps mit dem ersten Tanzschritt ab, schließt die Augen. Dass der ganze Saal zusieht, stört sie nicht, denn nun schwebt sie in eine andere Zeit. Außer der Rumba dringt das besoffene Grölen, Gläserklirren von einst zu ihr, ja, sie riecht sogar den Staub, den Rauch.
Jemand klatscht, Jenny öffnet die Augen, merkt, dass sie sich immer noch wiegt, obwohl die Rumba längst verklungen ist. Sie steht in dem sterilen Tanzpalast, schlüpft in die Schuhe. Der ältere Herr applaudiert immer noch, Jenny nimmt ihn mit einem Zwinkern zur Kenntnis.
Sie wendet sich an den Pianisten: „Früher spielte hier Joe. Kennst du ihn?“
„Joe? Klar! Da war ich noch ein Kind. Es war uns streng verboten, nur die Zehenspitzen hier hereinzusetzen“, lacht er.
Sehr vorsichtig fragt Jenny: „Lebt er noch?“
„Er kommt nur noch selten hier vorbei – herein schon lange nicht mehr. Er starrt auf das Haus und dann fährt er wieder weg.“
„Ich möchte ihn noch einmal sehen ...“, sagt Jenny.
„Er wohnt nicht weit von hier ... soll ich ihn anrufen?“
„Bitte“, lächelt sie.
Als der Rollstuhl bei ihrem Tisch stoppt, grinst das ganze ledrige Gesicht Joes unter dem Panamahut: „Jenny, zum Teufel, Jenny ...“
„Joe, verdammt ...“
Jenny wischt die Tränen weg.
„Was warst du doch einst für eine hübsche Hure, Jenny. Meine Güte, bist du alt geworden.“
„Ja, Joe, lieber Joe, so wie du, du Komiker.“ Sie nimmt seine Hand und streichelt sie.
„Ach du Scheiße, Jenny, dieser Anzug ... ist es der von damals? Du hast ihn ja fast jede gottverdammte Nacht getragen!“
„Genau diesen Anzug, nur habe ich ihn gut ausgefüllt seinerzeit, was?“
„Jenny, ich fragte mich immer, wie du das geschafft hast damals, dass er so weiß bleiben konnte in dem Dreck hier?“
„Meerschaumpulver, Joe. Meerschaum draufgestreut am Morgen, dann schlief ich wie ein Murmeltier meinen Rausch aus. Abends ausbürsten, Flecken weg. Meerschaum saugt allen Dreck auf – jedenfalls aus Textilien ...“
Joe entzieht ihr die Hand, Jenny ahnt, was er wissen möchte. „Ich habe ihn geliebt. Er konnte nicht mehr heim ins Nazideutschland, wir lebten in Brasilien.“
„Der Doktor damals, er war ja verrückt nach dir ...“
„Und er hat mir das Brandysaufen abgewöhnt.“ Sie zieht einen Flunsch und Joe kichert.
Wieder greift sie nach seiner Hand, er überlässt sie ihr nun.
„Er war gut zu mir. Wir hatten es gut.“
„Er ...“
„... ist tot, ja.“
Minutenlang sehen sie einander an, erinnern sich schweigend an die Zeit vor Ewigkeiten.
Joe hustet. „Deswegen bist du so plötzlich verschwunden, Jenny. Niemand wusste etwas, als hätte dich der Teufel geholt. Was ja bei deinem Lebenswandel durchaus ...“
Jenny weiß, dass Joe sie geliebt hatte. Sie selbst fühlte immer nur Freundschaft. Ein paar Mal schliefen sie miteinander, er musste nicht bezahlen.
„Ach, Joe, das ist eine lange Geschichte. Ich erzähle sie dir morgen. Nein, es war nicht der Teufel. Er war mein Engel.“
Jenny sieht Joe in die Augen: „Ich bin zum Sterben zurück gekommen.“
„Ich weiß, Jenny. Aber es eilt ja nicht.“
Ihr Lachen, rau und verdorben, erfüllt den Tanzpalast.
Dann zwickt sie in Joes dünnen Schenkel.
„Joe? Mach die Musik von damals nach!“
Der alte Mann lächelt und rollt zum Klavier.
Vielen Dank für die Unterstützung von Wolfgang, Herby, Nicole, Trixie!
2. Fassung
Der cremeweiße Hosenanzug mit glänzenden Satinrevers ist für die magere Gestalt zu weit, zu groß.
Ein heißer Windstoß fährt über den weiten Platz. Jenny presst Jacke und Hose an ihren Leib, während sich ihre Rückseite aufplustert. Sie stemmt sich gegen die Böe, sie ist schwach und zart geworden in letzter Zeit.
„Irgendwie halte ich das nicht mehr gut aus ...“ Sie leckt über die ausgetrockneten Lippen. Etwas steif in den Beinen geht sie weiter. Es ist mehr ein Schlurfen, denn die weißen Satinpumps sitzen nicht richtig, auch sie sind zu weit, zu groß geworden. Jenny muss sich sehr konzentrieren auf ihrem Weg über die Plaza Nueva, denn der Boden ist aus glatt polierten Quadern. Der weiße Strohhut rutscht bei dem nächsten Windstoß tief in ihr Gesicht.
„Sogar der Schädel fängt an zu verschwinden ...“, sagt sie und rückt ihn wieder zurecht.
Das Gebäude, auf das Jenny zustrebt, sticht aus dem gediegenen, gutbürgerlichen Ensemble rund um den Platz hervor. Verziert mit unzähligen Türmchen und Balkons, sieht es aus wie eine Hochzeitstorte mit rosarotem Zuckerguss. Jenny schüttelt den Kopf darüber. „Sehr alt sind wir in Wahrheit und müde, so müde ... wir sind maskiert, damit niemand es bemerken kann, was wir so alles erlebten, überlebten. Nur du und ich wissen noch, wie wir wirklich sind.“
Einer der Fensterläden aus Holz schlägt im Wind, Jenny grinst, auch wenn sie erschöpft ist. Sie hat eine lange und anstrengende Reise hinter sich. Dazu die Erregung, hierher zu kommen – zuletzt war sie vor fünfzig Jahren hier gewesen.
Im Moment wünscht sie sich nichts anderes, als in einem bequemen Fauteuil zu versinken und einen kühlen, sahnigen Cocktail Blue Hawaii zu schlürfen. Früher gab es hier in diesem Etablissement, das sie jetzt betritt, nur Rum oder billigen Brandy.
Der livrierte Portier hält Jenny die Tür mit einer Verbeugung auf. Nach der abendlichen Hitze, dem Wind, umfängt sie Kühle.
„Klimatisiert, oh du mein Gott“, sagt sie und betritt den Saal. Ihre Füße versinken im plüschigen weinroten Teppichboden. Jenny amüsiert sich über ihr eigenes Erstaunen. „Was ist“, sagt sie zu sich selbst, „dachtest du wirklich, es würde sein wie damals?“
Früher hieß der Laden Bills Ballhaus. „Tanzpalast, blödes Wort.“
Üppige Fauteuils anstatt der rauen Holzbänke, noble Wandleuchten haben die rußenden Petroleumlampen abgelöst.
Ja, das Klavier. Es steht noch dort, wo es immer schon gestanden hat, doch jetzt ist es ein eleganter, schwarz glänzender Flügel statt des alten Pianos.
„Das ist es schon. Eben anders.“ Jenny sucht sich einen Fauteuil nahe dem Klavier aus.
Mit einem Seufzen sinkt sie in den weichen Samt. Sogleich steht ein Kellner mit dem Bestellblock neben ihr.
Jenny lacht: „Hoppla, so etwas bin ich hier nicht gewöhnt!“
„Wie belieben?“, fragt der Kellner.
„Nichts, junger Mann. In meinem Alter neigt man zu Selbstgesprächen. Ich möchte einen Cocktail. Blue Hawaii. Haben Sie Zigarillos da?“
„Selbstverständlich.“
„Bringen Sie mir fünf Stück.“
Während sie auf die Bestellung wartet, schaut sie dem Pianisten zu, der lustlos langweilige Schlager klimpert. Auch er sieht müde aus und ist nicht mehr jung, aber um vieles jünger als Jenny.
Sie trinkt, legt dann den Strohhut ab und ordnet ihr hitzefeuchtes Haar.
Allmählich füllt sich der Tanzpalast mit Gästen. Diskrete Blicke streifen die alte Frau, die hustend ihren ersten Zigarillo nach vielen Jahren raucht.
Jenny ist zweiundachtzig Jahre alt und sieht aus wie hundert. Obwohl sie das weiß, hat sie die Lippen dunkelrot ausgemalt. Sie kramt einen kleinen Spiegel aus der Tasche und wirft einen Blick hinein. Der rauchgraue Lidschatten hat sich im Seidenpapiergeknitter um die Augen abgesetzt, sie tupft darauf herum. Auch wenn sich Jenny nicht für die mitleidigen, teils spöttischen Blicke der Leute interessiert, die in ihren Augen genau so langweilig sind wie der Rest dieses Etablissements, möchte sie so hübsch aussehen, wie es nur möglich ist. Für sich.
Nach dem dritten Cocktail, dem zweiten Zigarillo ohne Hustenanfall, fühlt sie sich soweit gestärkt, dass sie zum Klavier geht und den Pianisten um eine Rumba bittet. Sie stellt sich in die Mitte der noch leeren Tanzfläche und wartet darauf, dass der Klavierspieler beginnt. Jenny hebt die Arme und legt sie um den Nacken ihres imaginären Partners.
„Rumba perfidia!“ Sie streift die Pumps mit dem ersten Tanzschritt ab, schließt die Augen. Dass der ganze Saal zusieht, stört sie nicht, denn nun schwebt sie in eine andere Zeit. Außer der Melodie dringt das besoffene Grölen, Gläserklirren von einst zu ihr, ja, sie riecht sogar den Staub, den Rauch.
Jemand klatscht, Jenny öffnet die Augen, merkt, dass sie sich immer noch wiegt, obwohl die Rumba längst verklungen ist. Sie steht in dem sterilen Tanzpalast, schlüpft in die Schuhe. Der ältere Herr applaudiert immer noch, Jenny nimmt ihn mit einem Zwinkern zur Kenntnis.
Sie wendet sich an den Pianisten: „Früher spielte hier Joe. Kennst du ihn?“
„Joe? Klar! Da war ich noch ein Kind. Es war uns streng verboten, nur die Zehenspitzen hier hereinzusetzen“, lacht er.
Sehr vorsichtig fragt Jenny: „Lebt er noch?“
„Er kommt nur noch selten hier vorbei – herein schon lange nicht mehr. Er starrt auf das Haus und dann fährt er wieder weg.“
„Ich möchte ihn noch einmal sehen ...“, sagt Jenny.
„Er wohnt nicht weit von hier ... soll ich ihn anrufen?“
„Bitte“, lächelt sie.
Als der Rollstuhl bei ihrem Tisch stoppt, grinst das ganze ledrige Gesicht Joes unter dem Panamahut: „Jenny, zum Teufel, Jenny ...“
„Joe, verdammt ...“
Jenny wischt die Tränen weg.
„Was warst du doch einst für eine hübsche Hure, Jenny. Meine Güte, bist du alt geworden.“
„Ja, Joe, lieber Joe, so wie du, du Komiker.“ Sie nimmt seine Hand und streichelt sie.
„Ach du Scheiße, Jenny, dieser Anzug ... ist es der von damals? Du hast ihn ja fast jede gottverdammte Nacht getragen!“
„Genau diesen Anzug, nur habe ich ihn gut ausgefüllt seinerzeit, was?“
„Jenny, ich fragte mich immer, wie du das geschafft hast damals, dass er so weiß bleiben konnte in dem Dreck hier?“
„Meerschaumpulver, Joe. Meerschaum draufgestreut am Morgen, dann schlief ich wie ein Murmeltier meinen Rausch aus. Abends ausbürsten, Flecken weg. Meerschaum saugt allen Dreck auf – jedenfalls aus Textilien ...“
Joe entzieht ihr die Hand, Jenny ahnt, was er wissen möchte. „Ich habe ihn geliebt. Er konnte nicht mehr heim ins Nazideutschland, wir lebten in Brasilien.“
„Der Doktor damals, er war ja verrückt nach dir ...“
„Und er hat mir das Brandysaufen abgewöhnt.“ Sie zieht einen Flunsch und Joe kichert.
Wieder greift sie nach seiner Hand, er überlässt sie ihr nun.
„Er war gut zu mir. Wir hatten es gut.“
„Er ...“
„... ist tot, ja.“
Minutenlang sehen sie einander an, erinnern sich schweigend an die Zeit vor Ewigkeiten.
Joe hustet. „Deswegen bist du so plötzlich verschwunden, Jenny. Niemand wusste etwas, als hätte dich der Teufel geholt. Was ja bei deinem Lebenswandel durchaus ...“
Jenny weiß, dass Joe sie geliebt hatte. Sie selbst fühlte immer nur Freundschaft. Ein paar Mal schliefen sie miteinander, er musste nicht bezahlen.
„Ach, Joe, das ist eine lange Geschichte. Ich erzähle sie dir morgen. Nein, es war nicht der Teufel. Er war mein Engel.“
Jenny sieht Joe in die Augen: „Ich bin zum Sterben zurück gekommen.“
„Ich weiß, Jenny. Aber es eilt ja nicht.“
Ihr Lachen, rau und verdorben, erfüllt den Tanzpalast.
Dann zwickt sie in Joes dünnen Schenkel.
„Joe? Mach die Musik von damals nach!“
Der alte Mann lächelt und rollt zum Klavier.
1. Fassung
Der cremeweiße Hosenanzug mit glänzenden Satinrevers ist für die magere Gestalt zu weit, zu groß.
Ein heißer Windstoß fährt über den weiten Platz. Jenny presst Jacke und Hose an ihren Leib, während sich ihre Rückseite aufplustert. Sie stemmt sich gegen die Böe, sie ist schwach und zart geworden in letzter Zeit.
„Irgendwie halte ich das nicht mehr gut aus ...“ Sie leckt über die ausgetrockneten Lippen. Etwas steif in den Beinen geht sie weiter. Es ist mehr ein Schlurfen, denn die weißen Satinpumps sitzen nicht richtig, auch sie sind zu weit, zu groß geworden. Jenny muss sich sehr konzentrieren auf ihrem Weg über die Plaza Nueva, denn der Boden ist aus glatt polierten Quadern. Der weiße Strohhut rutscht bei dem nächsten Windstoß tief in ihr Gesicht.
„Sogar der Schädel fängt an zu verschwinden ...“, sagt sie und rückt ihn wieder zurecht.
Das Gebäude, auf das Jenny zustrebt, sticht aus dem gediegenen, gutbürgerlichen Ensemble rund um den Platz hervor. Verziert mit unzähligen Türmchen und Balkons, sieht es aus wie eine Hochzeitstorte mit rosarotem Zuckerguss. Jenny schüttelt den Kopf darüber. „Sehr alt sind wir in Wahrheit und müde, so müde ... wir sind maskiert, damit niemand es bemerken kann, was wir so alles erlebten, überlebten. Nur du und ich wissen noch, wie wir wirklich sind.“
Einer der Fensterläden aus Holz schlägt im Wind, Jenny grinst, auch wenn sie erschöpft ist. Sie hat eine lange und anstrengende Reise hinter sich. Dazu die Erregung, hierher zu kommen – zuletzt war sie vor sechzig Jahren hier gewesen.
Im Moment wünscht sie sich nichts anderes, als in einem bequemen Fauteuil zu versinken und einen kühlen, sahnigen Cocktail Blue Hawaii zu schlürfen. Früher gab es hier in diesem Etablissement, das sie jetzt betritt, nur Rum oder billigen Brandy.
Die vergangenen Jahrzehnte hat sie in Brasilien als Ehefrau eines Lungenarztes verbracht, der aus dem Nazideutschland emigriert war. Sie hatte ihn damals hier kennen und lieben gelernt. Ihm zuliebe verzichtete sie auf den Brandy und lernte Cocktails schätzen. Auch das Rauchen gab sie für ihn auf; sie hatte ihn so sehr geliebt; er kannte ihre Geschichte und hatte sie trotzdem geheiratet.
Seit drei Wochen ist er tot. Nach dem Begräbnis reiste sie an ihre Geburtsstätte hier in Bilbao.
Der livrierte Portier hält Jenny die Tür mit einer Verbeugung auf. Nach der abendlichen Hitze, dem Wind, umfängt sie Kühle.
„Klimatisiert, oh du mein Gott“, sagt sie und betritt den Saal. Ihre Füße versinken im plüschigen weinroten Teppichboden. Jenny amüsiert sich über ihr eigenes Erstaunen. „Was ist“, sagt sie zu sich selbst, „dachtest du wirklich, es würde sein wie damals?“
Früher hieß der Laden Bills Ballhaus. „Tanzpalast, blödes Wort.“
Üppige Fauteuils anstatt der rauen Holzbänke, noble Wandleuchten haben die rußenden Petroleumlampen abgelöst.
Ja, das Klavier. Es steht noch dort, wo es immer schon gestanden hat, doch jetzt ist es ein eleganter, schwarz glänzender Flügel statt des alten Pianos.
„Das ist es schon. Eben anders.“ Jenny sucht sich einen Fauteuil nahe dem Klavier aus.
Mit einem Seufzen sinkt sie in den weichen Samt. Sogleich steht ein Kellner mit dem Bestellblock neben ihr.
Jenny lacht: „Hoppla, so etwas bin ich hier nicht gewöhnt!“
„Wie belieben?“, fragt der Kellner.
„Nichts, junger Mann. In meinem Alter neigt man zu Selbstgesprächen. Ich möchte einen Cocktail. Blue Hawaii. Haben Sie Zigarillos da?“
„Selbstverständlich.“
„Bringen Sie mir fünf Stück.“
Während sie auf die Bestellung wartet, schaut sie dem Pianisten zu, der lustlos langweilige Schlager klimpert. Auch er sieht müde aus und ist nicht mehr jung, aber um vieles jünger als Jenny.
Sie trinkt, legt dann den Strohhut ab und ordnet ihr hitzefeuchtes Haar.
Allmählich füllt sich der Tanzpalast mit Gästen. Diskrete Blicke streifen die alte Frau, die hustend ihren ersten Zigarillo nach vielen Jahren raucht.
Jenny ist zweiundachtzig Jahre alt und sieht aus wie hundert. Obwohl sie das weiß, hat sie die Lippen dunkelrot ausgemalt. Sie kramt einen kleinen Spiegel aus der Tasche und wirft einen Blick hinein. Der rauchgraue Lidschatten hat sich im Seidenpapiergeknitter um die Augen abgesetzt, sie tupft darauf herum. Auch wenn sich Jenny nicht für die mitleidigen, teils spöttischen Blicke der Leute interessiert, die in ihren Augen genau so langweilig sind wie der Rest dieses Etablissements, möchte sie so hübsch aussehen, wie es nur möglich ist. Für sich.
Nach dem dritten Cocktail, dem zweiten Zigarillo ohne Hustenanfall, fühlt sie sich soweit gestärkt, dass sie zum Klavier geht und den Pianisten um eine Rumba bittet. Sie stellt sich in die Mitte der noch leeren Tanzfläche und wartet darauf, dass der Klavierspieler beginnt. Jenny tanzt anmutig mit ihrem imaginären Partner, der ganze Saal sieht zu.
Als die Rumba vorbei ist, gibt es Applaus von einem älteren Herrn, den Jenny mit einem Zwinkern zur Kenntnis nimmt. Sie wendet sich an den Klavierspieler. „Früher spielte hier Joe. Er ist noch ein paar Jahre älter als ich. Kennst du ihn?“
„Joe? Klar! Der spielte hier, da war ich noch ein Kind. Es war uns streng verboten, nur die Zehenspitzen hier hereinzusetzen“, lacht er.
Sehr vorsichtig fragt Jenny: „Lebt er noch?“
Der Klavierspieler nickt. „Er kommt nur noch selten hier vorbei – herein schon lange nicht mehr. Er starrt auf das Haus und dann fährt er wieder weg.“
„Ich möchte ihn noch einmal sehen ...“, sagt Jenny.
„Er wohnt nicht weit von hier ... soll ich ihn anrufen?“
„Bitte“, lächelt sie.
Als der Rollstuhl bei ihrem Tisch stoppt, grinst das ganze ledrige Gesicht Joes unter dem Panamahut: „Jenny, zum Teufel, Jenny ...“
„Joe, verdammt ...“
Jenny wischt die Tränen weg.
„Was warst du doch einst für eine hübsche Hure, Jenny. Meine Güte, bist du alt geworden.“
„Ja, Joe, lieber Joe, so wie du, du Komiker.“ Sie nimmt seine Hand und streichelt sie.
„Ach du Scheiße, Jenny, dieser Anzug ... ist es der von damals? Du hast ihn ja fast jede gottverdammte Nacht getragen!“
„Genau diesen Anzug, nur habe ich ihn gut ausgefüllt seinerzeit, was?“
„Jenny, ich fragte mich immer, wie du das geschafft hast damals, dass er so weiß bleiben konnte in dem Dreck hier?“
„Meerschaumpulver, Joe. Meerschaum draufgestreut am Morgen, dann schlief ich wie ein Murmeltier meinen Rausch aus. Abends ausbürsten, Flecken weg. Meerschaum saugt allen Dreck auf – jedenfalls aus Textilien ...“
Minutenlang sehen sie einander an, erinnern sich schweigend an die Zeit vor Ewigkeiten.
Joe hustet. „Wohin bist du nur so plötzlich verschwunden, Jenny? Niemand wusste etwas, als hätte dich der Teufel geholt. Was ja bei deinem Lebenswandel durchaus hätte möglich sein können.“
Jenny weiß, dass er sie geliebt hatte. Sie selbst fühlte immer nur Freundschaft. Ein paar Mal schliefen sie miteinander, er musste nicht zahlen dafür.
„Ach, Joe, das ist eine lange Geschichte. Ich erzähle sie dir morgen. Nein, es war nicht der Teufel. Er war mein Engel.“
Jenny sieht Joe in die Augen: „Ich bin zum Sterben zurück gekommen.“
„Ich weiß, Jenny. Aber es eilt ja nicht.“
Ihr Lachen, rau und verdorben, erfüllt den Tanzpalast.
Dann zwickt sie in Joes dünnen Schenkel.
„Joe? Mach die Musik von damals nach!“
Der alte Mann lächelt und rollt zum Klavier.
(c)ELsa Rieger
Der Tanzpalast
Liebe Nicole,
was für eine schöne Einschätzung, danke dafür. Dieser Beginn, ja, da hast du wohl recht, ich werde noch dran puzzeln.
Liebe Trixie,
Danke auch dir fürs Lesen und Überlegen. Du fragst, ob Altsein so ist. Nicht für alle wohl. Für meine Großmutter war es so (also nicht die Story), aber die Art, wie sie damit umging.
Ebenfalls von dir vor allem Aufzeigen der Schwächen am Textbeginn. Ich probier's mal.
Die Rumba perfidia (ich hab's zum Anhören in der Antwort an Herby verlinkt) dauert 2:46 Minuten. Und sie ist sehr getragen. Die Cocktails haben Jenny erfrischt, illuminiert. Aber das mit den erhobenen Armen, ja, das ist in der Tat wohl zu anstrengend für die alte Dame.gif)
Und natürlich: Play it once, hach, verwexelt.
Vielen lieben Dank euch, die Korrekturen folgen bald.
Sonnige Frühlingsgrüße,
Elsa
was für eine schöne Einschätzung, danke dafür. Dieser Beginn, ja, da hast du wohl recht, ich werde noch dran puzzeln.
Liebe Trixie,
Danke auch dir fürs Lesen und Überlegen. Du fragst, ob Altsein so ist. Nicht für alle wohl. Für meine Großmutter war es so (also nicht die Story), aber die Art, wie sie damit umging.
Ebenfalls von dir vor allem Aufzeigen der Schwächen am Textbeginn. Ich probier's mal.
Die Rumba perfidia (ich hab's zum Anhören in der Antwort an Herby verlinkt) dauert 2:46 Minuten. Und sie ist sehr getragen. Die Cocktails haben Jenny erfrischt, illuminiert. Aber das mit den erhobenen Armen, ja, das ist in der Tat wohl zu anstrengend für die alte Dame
.gif)
Und natürlich: Play it once, hach, verwexelt.
Vielen lieben Dank euch, die Korrekturen folgen bald.
Sonnige Frühlingsgrüße,
Elsa
Schreiben ist atmen
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