Ich gehe raus in den Garten unseres kleinen Reihenhauses. Es gehört Johannes Vater, vielmehr gehörte, denn der ist letztes Jahr gestorben. Seit dem wohnen wir in diesem tristen Chic der frühen Sechziger. Endlose Reihen Bungalows, die fast wie ein umgekipptes Hochhaus wirken. Ich wohne in einem Hochhaus, das auf der Seite liegt. Jeder kennt jeden und weiß alles. Dieses Vorstadtidyll kotzt mich an. Ich brauche keine Nachbarn, die an meiner Haustür klingeln, wenn sie mich mal zwei Tage nicht gesehen haben, aus Angst ich könnte bereits verstorben sein und jemand würde es vor ihnen entdecken. Ich habe auch nicht vor bei denen nachzusehen. Ich wäre viel lieber in der Stadt, aber Johannes will das Haus nicht verkaufen, weil er hier aufgewachsen ist. Mein Elternhaus werde ich veräußern, sobald ich kann, aber meine Eltern leben noch. Johannes ist schon in unserem Garten, der wie ein riesiger Schlauch wirkt. Die grünen Loorbeerhecken an jeder Seite schützen zwar vor der nachbarschaftlichen Neugier, drücken das Bild jedoch noch mehr. Johannes kommt auf mich zugestürmt.
„Ich habe uns ein Sonnensegel gekauft.“.
Na toll, denke ich, wieder so ein Projekt. Da kann ich den ganzen Samstag vergessen.
„Du, ich schaff das allein..“
Das sagt er, weil er gesehen hat, wie ich die Augen verdrehe.
„Setz dich ruhig hin und lies.“ Das war der Gnadenstoß. Einer seiner gekonnt getarnten Vorwürfe, dass er etwas für uns tut, und ich mich entspanne.
Ich brumme. Dann setze ich mich auf die Terasse unter die Markise, die mir als Schattenspender in unserem Garten immer als ausreichend erschien - aber ihm nicht. Er wollte ja auch mal auf der Wiese sitzen, oder die Kinder, wenn die da spielen, ja, wenn wir Kinder hätten.
Ich höre ihn. Er steht neben dem auf der Wiese ausgebreiteten Sonnensegel, nuschelt irgendwas vor sich hin, geht eine Runde um das Segel, schaut zu mir, lächelt etwas gequält und wendet sich schließlich wieder dem Segel zu. Na prima! Jetzt hat er meine Aufmerksamkeit. Er sieht irgendwie verwirrt aus.
Ich versteh' das nicht...“, er schüttelt den Kopf. Irgendwas passt wieder nicht in sein Weltbild und, um festzustellen, was ihn da so erschüttert und mit einer guten Portion Schadenfreude schlendere ich rüber zu ihm. Der Herr Informatiker steht vor einem Phänomen. Er bemerkt mich nichtmal- erst als ich mich räuspere.
„Ach...“, sagt er - halb überrascht, halb gleichgültig.
„Findest du, das sieht aus wie drei Meter? Ich hatte mir drei Meter irgendwie anders vorgestellt.“
Ich überlege, wie man sich drei Meter noch vorstellen kann. Was hat er sich gedacht, als er die Größenangabe auf dem Sonnensegel las? Waren die drei Meter irgendwie gelber, oder welliger, als sie jetzt wirken?
„Ich hatte gedacht, es wäre mehr. Also, länger. Es sieht so kurz aus.“
Als ich das Segel betrachte, wirkt es nicht sehr anders als ein Sonnensegel von drei Metern aussehen kann. Aber ich ahne schon, was jetzt kommt.
„Warte hier!“ - als ob ich das Segel bewachen müsste. Was soll schon passieren? Ein schwarzes Loch könnte ich sicherlich auch nicht aufhalten, aber wer weiß, welche Gefahren er da auf uns zukommen sieht? Nach vier unendlichen Minuten in der Mittagshitze frage ich mich, warum ich seiner Aufforderung überhaupt nachkomme und mich nicht stattdessen wieder auf die Terasse setze, aber da erscheint er auch schon auf Selbiger, von der Markise ganz in oranges Licht getaucht, und winkt mir triumphierend mit dem Zollstock zu. Ich ahne, dass es ab jetzt nur noch komplizierter werden kann und sehne mich nach einer Welt ohne Sonnensegel und Zollstöcke, einer Welt ganz ohne Physik und Mathematik, in der ich jetzt gemütlich auf der Terasse sitzen, einen Kaffee trinken und mein Buch lesen würde. Aber ich lebe in der gleichen Welt wie er und in der gibt es nunmal diesen Mittag, den ich mit seinem schlechten Augenmaß verbringen muss.
Er nimmt Maß. Schaut mich an. Nimmt erneut Maß. Ich seufze und bewege mich vom Unfallort in Richtung Terasse.
„Edda!“
Sein Hilferuf erreicht mich erst, als ich schon fast wieder sitze. In zwei Wochen werde ich dreissig und das ist schon Strafe genug; ich will nicht den ganzen Samstag Sonnensegel drehen und wenden, bis es irgendwie passt. Ich drehe mich um und wünsche mir, ein Komet würde ihm direkt auf den Kopf fallen, nur ein ganz kleiner, so dass er nicht die Erde zerstört, aber groß genug, Johannes für etwa vier Stunden aus dem Verkehr zu ziehen. Ich verzeihe Gott, dass er mir diesen Wunsch nicht erfüllt und gehe lächelnd zu ihm zurück.
„Warum hast du noch mal dieses Sonnensegel gekauft?“
„Da! Da war's schon wieder!“
„Was?“
„Na dieses Geräusch in deiner Stimme!“
„Welches Geräusch? Wenn ich rede macht das nunmal Geräusche.“
„Das, wovon ich letztens gesprochen habe! Wenn du so mit mir redest, dann kannst du gleich wieder gehen.“
„Johannes, ich habe dich nur gefragt, wofür du dieses Sonnensegel gekauft hast. Wir haben doch eine Markise.“
„Und wo? Wo bitte haben wir hier eine Markise? Wenn ich nach oben gucke, dann sehe ich keine Markise! Siehst du da eine? Also ich seh' da keine!“
„Reg' dich nicht so auf! Du machst den ganzen Samstag kaputt mit deiner Meckerei!“
„Ich mache den Samstag kaputt! Na klar! Ich habe dich nur gebeten, mal her zu kommen.“
„Ich bin ja auch hier.“
„Und du tust so, als würde ich von dir etwas Unmögliches verlangen! Es ist gerade mal schönes Wetter, wenn es regnet kannst du immer noch lesen!“
Ich hasse dich, ich hasse dich, ich hasse dich. Ich habe nicht die geringste Lust mir das weiter anzutun und gebe klein bei.
„Johannes, es ist ok. Ich lese später und jetzt machen wir das Ding hier klar.“
Er gibt mir den Zollstock: „Miss mal nach und dann sag mir, was du raus hast.“
Für einen Moment halte ich das für einen Scherz, aber er meint es ernst. Warum soll ich die ganze Scheiße nachmessen? Er hat schon nachgemessen, was ich lächerlich genug finde. Jetzt soll ich mich auch noch lächerlich machen und vor dem Segel auf die Knie gehen, um es auf seine tatsächliche Länge zu überprüfen. Aus irgendeinem Grund, wahrscheinlich ist es Mitleid, vielleicht aber sogar aus Liebe, tue ich ihm den Gefallen und messe nach. Genau drei Meter.
„Genau drei Meter.“ sage ich, und hoffe, dass jetzt alles wieder gut ist.
„Siehst du!“ Er ist empört. „Wie ich es mir gedacht habe!“
Nein. Bitte nicht.
„Edda, da haben wir jetzt aber was entdeckt!“
„Das Sonnensegelhersteller tatsächlich die richtige Größe auf die Verpackung drucken?“
„Ach Edda sieh doch mal hin! Das sind nie und nimmer drei Meter! Und ich kenn mich mit Zahlen aus, das ist mein Beruf. Ich hab noch einen alten Zollstock in der Garage- der ist noch ganz anders!“
„Wie groß bist du?“
„Was?“ Er schaut mich ungläubig an.
„Wie groß du bist.“
„Äh, eins- zweiundachtzig.“
„Ok, sagen wir der Einfachheit halber eins- achtzig.“
„Wenn ich zweitausend Meter groß wäre, dann könnstest du eventuell die zwei Zentimeter ignorieren, aber bei nur ein Meter zweiundachtzig, da liegen die zwei nicht innerhalb der Toleranzgrenze. Du könntest höchstens...“
„Johannes. Es sind nur zwei Zentimeter und es soll nur ein Beispiel werden.“
„Ok.“ Erstaunlicherweise gibt er sich zufrieden.
„Leg dich neben das Segel.“ Er gehorcht. Ich markiere mit meiner Hand die Stelle, an der er, mittem im Segel, 'endet'. Dann legt er sich an diese Markierung und ich zeige ihm mit der Hand die Stelle, ab der seine Beine über stehen.
„Siehst du! Du wärst, mal zwei genommen, drei Meter sechzig, wenn man die zwei Zentimeter toleriert, und es sind doch ungefähr sechzig Zentimeter, die jetzt über stehen.“
Er schweigt einen Moment. Überlegt, ob ich in meinem Exempel alle Parameter berücksichtigt habe und mein kühner Versuchsaufbau wirklich als Beweis anerkannt werden kann.
„Das war zwar sehr unkonventionell, aber ich muss dir Recht geben, Schatz. Da habe ich mich wohl irgendwie verguckt.“ Ich lächle mild. „Vielleicht lag es an der Perspektive.“
Sonnensegel
Hihi Lagunkel.
Sehr schön das Reihenhausidyll gezeichnet. Nichts fehlt, sogar die Lorbeerhecke nicht! Köstlich. Auch das auf der Seite liegende Hochhaus fand ich sehr geschickt formuliert, hatte sofort die Siedlung von Augen. Ja, und das kommt dabei heraus, wenn es bei Aldi Sonnensegel gibt (mich gruselt es jetzt schon vor dem Tag, wenn es dort Motorlaubpuster gibt), ä, ich schweife ab…
Was mich bei dem Text etwas unbefriedigt zurückgelassen hat, war, dass ich nicht erfahren habe, warum das Segel denn nun GENAU drei Meter durchmessen sollte?
Insgesamt könnte ich mir auch vorstellen, dass die ein- der andere Stelle eine Kürzung vertragen könnte. Auch ihre Genervtheit wirkt in dieser Dosierung auf mich nicht immer "echt".
Meine Lieblingsstelle im Text:
Super.
LG
Nifl
Sehr schön das Reihenhausidyll gezeichnet. Nichts fehlt, sogar die Lorbeerhecke nicht! Köstlich. Auch das auf der Seite liegende Hochhaus fand ich sehr geschickt formuliert, hatte sofort die Siedlung von Augen. Ja, und das kommt dabei heraus, wenn es bei Aldi Sonnensegel gibt (mich gruselt es jetzt schon vor dem Tag, wenn es dort Motorlaubpuster gibt), ä, ich schweife ab…
Was mich bei dem Text etwas unbefriedigt zurückgelassen hat, war, dass ich nicht erfahren habe, warum das Segel denn nun GENAU drei Meter durchmessen sollte?
Insgesamt könnte ich mir auch vorstellen, dass die ein- der andere Stelle eine Kürzung vertragen könnte. Auch ihre Genervtheit wirkt in dieser Dosierung auf mich nicht immer "echt".
Meine Lieblingsstelle im Text:
„Da! Da war's schon wieder!“
„Was?“
„Na dieses Geräusch in deiner Stimme!“
„Welches Geräusch? Wenn ich rede macht das nunmal Geräusche.“
„Das, wovon ich letztens gesprochen habe! Wenn du so mit mir redest, dann kannst du gleich wieder gehen.“
„Johannes, ich habe dich nur gefragt, wofür du dieses Sonnensegel gekauft hast. Wir haben doch eine Markise.“
„Und wo? Wo bitte haben wir hier eine Markise? Wenn ich nach oben gucke, dann sehe ich keine Markise! Siehst du da eine? Also ich seh' da keine!
Super.
LG
Nifl
"Das bin ich. Ich bin Polygonum Polymorphum" (Wolfgang Oehme)
Danke für deinen Kommentar, lieber Nifl. Mit dem einkürzen bemerkte ja Klara schon und ich grübele noch darüber....
Zu ihrer genervtheit würde mich wirklich interessieren, ab wo es dir zu viel wird, oder eher gesagt, wo du es ihr nicht so ganz abnimmst. Vielleicht kannst du mir da ein paar Hinweise geben.
Ja und das Sonnensegel MUSS drei Meter messen, weil das so auf der Verpackung steht und Johannes eben nicht ertragen könnte, wenn es von der angegebenen Länge abweicht....Ich hab da, wie bereits erwähnt, ein gutes Vorbild
Und Motorlaubbläser bei ALDI? Dann müsste ich umziehen. Ich habe so viele Rentner als Nachbarn, die den ganzen Tag nur ihren Rasen mähen.....wenn es im Herbst Nahtlos in diese Rückwärtssauger übergehen würde, hätte ich nie meine Ruhe
Liebe Grüße
Rebekka
Zu ihrer genervtheit würde mich wirklich interessieren, ab wo es dir zu viel wird, oder eher gesagt, wo du es ihr nicht so ganz abnimmst. Vielleicht kannst du mir da ein paar Hinweise geben.
Ja und das Sonnensegel MUSS drei Meter messen, weil das so auf der Verpackung steht und Johannes eben nicht ertragen könnte, wenn es von der angegebenen Länge abweicht....Ich hab da, wie bereits erwähnt, ein gutes Vorbild

Und Motorlaubbläser bei ALDI? Dann müsste ich umziehen. Ich habe so viele Rentner als Nachbarn, die den ganzen Tag nur ihren Rasen mähen.....wenn es im Herbst Nahtlos in diese Rückwärtssauger übergehen würde, hätte ich nie meine Ruhe

Liebe Grüße
Rebekka
Liebe Rebekka,
Teil 2 ist ja schon da (noch nicht gelesen), aber ich wollte mich hier druntersetzen...schon vor einigen Tagen gelesen, aber nicht zum Kommentieren gekommen...einfach ohne große Textkritik:...ich habe auch so gelacht...sowohl die schon erwähnten Hochhäuser auf der Seite als auch die drei Meter-Szene sind einfach großartig. Aber auch der ganze text ist schon rund.
Ich würde den Mann nicht zum Physiker machen, der wäre dann ja ein Fachidiot. Mir wäre das zu nah dran. Streich den Beruf doch einfach ganz.
Ansonsten einfach nur fein und leicht und witzig.
Liebe Grüße,
Lisa
Teil 2 ist ja schon da (noch nicht gelesen), aber ich wollte mich hier druntersetzen...schon vor einigen Tagen gelesen, aber nicht zum Kommentieren gekommen...einfach ohne große Textkritik:...ich habe auch so gelacht...sowohl die schon erwähnten Hochhäuser auf der Seite als auch die drei Meter-Szene sind einfach großartig. Aber auch der ganze text ist schon rund.
Ich würde den Mann nicht zum Physiker machen, der wäre dann ja ein Fachidiot. Mir wäre das zu nah dran. Streich den Beruf doch einfach ganz.
Ansonsten einfach nur fein und leicht und witzig.
Liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.
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