Leben im Licht

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Dita

Beitragvon Dita » 23.06.2007, 23:27

Eine Premiere. Meine erste Kurzgeschichte. Ich bin gespannt...


Mein Blick fällt aus dem dritten Stock durch Fensterglas auf den Asphaltboden, schlägt auf und bleibt liegen. Krallt sich am Grund fest, verbindet sich mit ihm, dringt so tief in ihn ein, dass es kein Jetzt mehr gibt. Er beginnt, die bekannten Bilder auf den Gehweg zu projizieren. Zuerst verschwommen, nur bruchstückhaft, dann immer schärfer, bis ein allumfassender Abdruck meiner Erinnerung entsteht. Eine Erinnerung, die ich verzweifelt versuche zu löschen. Laternenlicht erbricht sich über der Abbildung meiner Vergangenheit, beleuchtet unverdautes Leid. Ich versuche wegzusehen, schaffe es nicht. Nie. Der Vorhang bleibt geöffnet. Mein Kopf drückt sich gegen das Glas und ich spüre, wie sich meine Hände an den Fenstersims klammern. Mein ganzer Körper ein Krampf. Schweiß zeichnet Bäche auf meine Schläfen, umfließt mein erstarrtes Gesicht. Selbst ein Blinzeln ist mir nicht möglich. Ich muss es sehen. Wieder. In meinem Kopf. Das Feuer vergangener Zeit brennt tief hinter meinen Augen. Ich muss es sehen. Wieder. Am Boden. Grau wird zu rot, langsam und dreckig. Ich konzentriere mich auf den blutigen Fluss, wie er sich seinen Weg bahnt, unaufhaltsam in seiner Beständigkeit. Ich weiß, woher er kommt. Kenne den Quell, der ihn stetig weiter nährt. Weiß, dass jeder Zentimeter, den sich das Rot voran schiebt, Tod bedeutet. Atem windet sich aus ihrem zarten Körper. Ich kann sie hören, die Verzweiflung in ihren Atemstößen. Die Angst in ihren wasserfarbenen Augen greift nach mir. Ihr Wimmern pocht in meinem Schädel, dröhnt in meiner Brust. Sie versucht leise zu sterben, damit ich mich nicht fürchte. Doch ihr Anblick tobt durch mich hindurch. Ich spüre, dass sie bald nicht mehr atmen kann. Dass sie es nicht mehr schaffen wird, den Brustkorb anzuheben. Ich weiß es. Ein Ausatmen. Stille. Den Atem, den man eingeflößt bekommen hat, gibt man im Moment des Todes zurück. Sagt man nicht so? Das ist alles woran ich denke, als ich ihr über die toten Wangen streiche. Ihre Hände sind schwer und schlaff, als ich versuche sie um mich zu schlingen. Mein Kopf liegt auf ihrer Brust und ich hebe und senke ihn leicht, so als ob er sich den Atemstößen anpassen müsste. Meine Augen blicken tränenlos in ihr Gesicht. Ich sehe mich nach meinen Vater um. Sein Körper liegt in der Ecke. Das warme Licht der Leselampe zerfällt auf den harten Zügen seines Gesichts, gleitet über die Wangenknochen zu Boden, endet abrupt.
Den zweiten Schuss habe ich nicht mehr gehört. Die Worte, die aus seinem Mund flossen, als er die Pistole auf sie richtete, hallen noch immer in meinem Kopf. „Ich schieß dich weg.“
Es ist vergangen, zeitlich. In meinen Gedanken jedoch durchlebe ich es jeden Tag noch mal, ohne es ändern zu können. Sehe mir selber zu in dem fremden und vertrauten Bild meiner Erinnerung. Betrachte ein Stück meines Lebens auf der Bühne meiner Kinderseele, unfähig das Licht zu löschen. War es meine Schuld? Kann man mit acht Jahren Schuld haben?
Ich bin müde von dem Geschmack der Vergangenheit, der sich in meinem Leben manifestiert hat, erschöpft von der stetig wiederkehrenden Erinnerung. All die Jahre seither erscheinen mir ungelebt, ohne jeglichen Fortschritt. Der Körper eines 23-jährigen, mein Körper, als Schauplatz für den einen Tag im Leben eines achtjährigen Kindes. Schauplatz für die Vergangenheit, keine Pausen. Ich als mein Gefängnis. Selbst die Gegenwart lässt mich nicht ruhen, mich nicht vergessen. Sie lassen es mich nicht vergessen. Aufseher überall.
Blatt um Blatt haben sie mit schwarzer Schrift gefüllt. Todesanzeigen und Zeitungsartikel. Seiten voll mit meinem Leben, dem einen Tag. Mein Aug gleitet über Wortreihen, die, von Sachlichkeit getragen, meine Gefühle wortlos lassen, den Vermutungen der Besucher aber eine Leinwand bieten. Sie haben den Vorhang aufgezogen, dem Stück eine Bühne gegeben, das Publikum hereingebeten. Eintritt verlangt. Als ob sie ein Anrecht auf mein Leben hätten, als ob ich ihnen etwas schuldig wäre. Ich blicke auf Zeilen, die mein Leben sind und erkenne nichts von mir. Und dennoch soll ich spielen. Ein entfremdetes Stück, das, was sie von mir erwarten. Ich in der Rolle des Überlebenden, ich noch immer als gebrandmarktes Kind. Ihre Erwartungen füllen den Raum, mein Leben. Sie richten den Scheinwerfer auf mich, tasten begierig mein Gesicht ab, suchen nach offenen Wunden und Narben. Durchleuchten unbekanntes Leid, greifen nach Unfassbarem. Fragen quellen aus ihren Mündern, graben in mir nach Gründen, die es nicht gibt, die ich nicht sehen kann. Sie bohren in mir nach dem Fundament, das dem Drama den Weg ebnete, suchen nach dem Ursprung, der ich hoffe nicht zu sein. Ich suche selbst danach, zerfleische mich mit meiner Ungewissheit, mit meiner Angst, dass doch ich der Grund war. Mein Vergessen bricht immer wieder neu durch ihr Interesse auf. Sie sitzen sicher versteckt im abgedunkelten Saal, in bequemen Sesseln, geborgen von der Alltäglichkeit ihres Lebens, welches ihnen im Widerschein meines Leids erträglich, fast erstrebenswert erscheint. Wie sie sich in meinem Schmerz verbergen, an ihm weiden. Sie wollen sich besser fühlen, hilfreich, wenn sie mich mit ihren bedauernden Blicken durchbohren. Wenn sie ihre mitfühlenden Hände an meinem Körper kratzen lassen und den gnädigen Mantel der Zeit abtragen. Ich versuche gegen sie anzukämpfen, anzuspielen und bin doch nur müde. Zu müde um den Schritt aus dem Lichtkegel zu tun, den sie von Außen auf mich richten, der mich von Innen zerfrisst. Zu müde, um ihre Anschuldigungen zu ertragen, wenn ich vor der Zeit von der Bühne gehen würde. Bevor sie mich entlassen. Ich suche in ihren Augen Gnade, flehe um Freisprechung und finde nur Sensationslust hinter gläsernen Mauern.
Ich warte auf den Abgang. Kein Applaus.


Zuvor verfasst Version:
Eine halbe Seite in der Zeitung, mein Leben

Mein Blick fällt aus dem dritten Stock durch Fensterglas auf den Asphaltboden, schlägt auf und bleibt liegen. Krallt sich am Grund fest, verbindet sich mit ihm, dringt so tief in ihn ein, dass es kein Jetzt mehr gibt. Er beginnt, die bekannten Bilder auf den Gehweg zu projizieren. Zuerst verschwommen, nur bruchstückhaft, dann immer schärfer, bis ein allumfassender Abdruck meiner Erinnerung entsteht. Eine Erinnerung, die ich verzweifelt versuche zu löschen. Nach all der Zeit soll sie mich endlich verlassen. Ich versuche wegzusehen, schaffe es nicht. Nie. Mein Kopf drückt sich gegen das Glas und ich spüre, wie sich meine Hände an den Fenstersims klammern. Mein ganzer Körper ein Krampf. Schweiß zeichnet Bäche auf meine Schläfen, umfließt mein erstarrtes Gesicht. Selbst ein Blinzeln ist mir nicht möglich; ich muss es sehen. Wieder. In meinem Kopf. Am Boden. Grau wird zu rot, langsam und dreckig. Ich konzentriere mich auf den blutigen Fluss, wie er sich seinen Weg bahnt, unaufhaltsam in seiner Beständigkeit. Ich weiß, woher er kommt. Kenne den Quell, der ihn stetig weiter nährt. Weiß, dass jeder Zentimeter, den sich das Rot voran schiebt, Tod bedeutet. Ich kann sie hören. Wie sie durch zusammengepresste Lippen hindurch wimmert, wie das Atmen verzweifelter wird. Sie versucht leise zu sterben, um mir keine Angst zu machen. Ich spüre, dass sie bald nicht mehr atmen kann. Dass sie es nicht mehr schaffen wird, den Brustkorb anzuheben. Ich weiß es. Ich war dabei. Ein Ausatmen. Stille. Den Atem, den man eingeflösst bekommen hat, gibt man im Moment des Todes zurück. Sagt man nicht so? Das ist alles woran ich denke, als ich ihr über die toten Wangen streiche. Ihre Hände sind schwer und schlaff, als ich versuche sie um mich zu schlingen. Mein Kopf liegt auf ihrer Brust und ich hebe und senke ihn leicht, so als ob er sich den Atemstößen anpassen müsste. Ich weine nicht, ich warte auf das was passieren wird. Ich bleibe solange neben ihr, starre in ihr Gesicht, bis die Polizisten kommen und mich mitnehmen. Woher sie kamen weiß ich nicht. Ich sehe meinen Vater in der Ecke liegen. Den zweiten Schuss habe ich nicht mehr gehört. Die Worte, die aus seinem Mund flossen, als er die Pistole auf sie richtete, hallen noch immer in meinem Kopf. „Ich schieß Dich weg.“
Es ist vergangen, zeitlich. In meinen Gedanken jedoch durchlebe ich es jeden Tag noch mal, ohne es ändern zu können. Sehe mir selber zu in dem fremden und vertrauten Bild meiner Erinnerung. War es meine Schuld? Kann man mit 8 Jahren Schuld haben?
In der Zeitung habe ich von uns als Familiendrama gelesen. Später. Als ich verstehen wollte, was passiert war. Als Zeit zwischen diesem Abend und meinem Alter lag und ich die Archive der Tageszeitungen durchstöberte. Als ich genug Zeit hatte, in der Klinik. In der ich noch immer bin. Weil meine Kinderseele heilen muss, haben sie gesagt. Ich habe von uns gelesen. Von Mutter und Vater in Todesanzeigen. Von mir, dem armen zurückgebliebenen Kind. Dem Grund, der keiner ist. Sie haben von uns als kaputter Familie gesprochen, meinen Vater zu einem arbeitslosen Trinker gemacht, meine Mutter als Geliebte eines Anderen bezeichnet. Dass ich das nicht wusste und Schwarz und Weiß es mir ins Auge brannten, schmerzt nur mich. Dass mein Vater gebrochen war, erstickt unter Wasser aus Pflicht, dass meine Mutter schön und liebend war, suche ich vergeblich. In Zeilen, die mein Leben sind. Sie haben lange über uns geschrieben, eine Woche. Bei jeder neuen Familientragödie haben sie unsere Geschichte wieder hervor geholt. Sie auf ähnliche Motive hin untersucht. Schicksal auf dem Seziertisch. Seltsam, sich von außen betrachtet zu sehen. Zu wissen, dass die Leute über uns sprechen, mit Adjektiven. Furchtbar. Tragisch. Schrecklich. Sie haben meine Kindheit zerredet. Alles was vor diesem Abend lag, zum Auftakt für das Drama gemacht. Wenn ich die Artikel lese, scheint es mir manchmal, als ob ich gar nie glücklich war. Als ob ich es nicht hätte sein dürfen. Denn der tragische Schluss war ja schon abzusehen. Und unser Leben zuvor hat ihm doch nur den Weg geebnet. Für einen würdigen Auftakt gesorgt. Ich frage mich, wer so etwas schreiben darf. Menschen, die uns nie zuvor gesehen haben. Die sich von Nachbarn unseren Nachnamen buchstabieren lassen. Sie glauben zu wissen, warum ein Mann seine Frau vor den Augen des Kindes richtet. Vielleicht mag es dazu Statistiken geben. Aber in denen steht nichts davon, dass meine Mutter mir Honigbrote für die Schule machte und mich auf die Stirn küsste, wenn ich das Haus verließ. Oder dass mein Vater mit mir im Garten Fußball spielte und mich zum Lachen brachte.
Ich blicke auf Zeilen, die mein Leben sind und sehe nichts von mir. Ich spüre die Gedanken der anderen, wenn sie versuchen mich heimlich zu beobachten. Wenn sie mich mit dem Gelesenen vereinen wollen. Das ist er also. Der Überlebende. Der Verlassene. Ich spüre, wie sie mein Gesicht abtasten, nach offenen Wunden und Narben suchen. Auch 15 Jahre danach. Wie sie mich aufgegeben haben und an den Rand gestellt. Denn solch ein Erlebnis kann man nicht verarbeiten, sagen sie. Und dass man daran verzweifelt, den Lebensmut verliert. Sie lassen es mich nicht vergessen. Mit Blicken und Worten, zeigen sie mir meine Kinderseele, die nicht heilen will, die es nicht kann. Und doch werde ich weiter aus dem Fenster blicken, bis ich den Grund, den es nicht gibt, unter Blut sehen kann.
Zuletzt geändert von Dita am 25.06.2007, 15:25, insgesamt 3-mal geändert.

Mucki
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Beitragvon Mucki » 25.06.2007, 14:21

Hallo Dita,

ich finde es klasse, dass du dich nicht entmutigen lässt, sondern dich ranmachst,-)
Ich bin gespannt.
Saludos
Mucki

Dita

Beitragvon Dita » 25.06.2007, 15:23

Hallo nochmal,

ich hoffe, ich beanspruche euch nicht zu sehr. Bevor ich mich an den Text erneut wage, würde ich gerne wissen, was ihr von der ersten Version haltet, die anders aufgebaut ist.

Lieben Gruß,
Dita

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 25.06.2007, 17:05

Liebe Dita,

ich finde den 2. Teil deiner Ur-Fassung viel viel besser als in der anderen. Ab hier: In der Zeitung habe ich von uns als Familiendrama gelesen.
Gehört wohl auch noch gearbeitet, aber allein die Honigbrote ... sehr sehr gut! Hier zeigst du nämlich, was ich vermisste: Leben, Alltag, all das, was der Leser so gern wissen mag!

Lieben Gruß
Elsa
Schreiben ist atmen

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Beitragvon Mucki » 25.06.2007, 18:12

Hallo Dita,

du hättest gleich deine Ursprungsfassung einstellen sollen *lach*
Sie ist noch viel besser als die 2. Version, da jetzt ein Rahmen da ist.
Auch der Titel: Eine halbe Seite in der Zeitung, mein Leben ist gelungener. Den würde ich auf jeden Fall nehmen.
Für die weitere Überarbeitung, nimm bitte die Ursprungsfassung, oki?
Saludos
Mucki

Dita

Beitragvon Dita » 25.06.2007, 20:04

Dankeschön, ihr Zwei!
Mache mich dran, bitte aber um Geduld, da ich auch noch ein Gedicht auf dem Tisch habe, das mir ganz schönes Kopfzerbrechen bereitet.

Lieben Gruß,
Dita

Sam

Beitragvon Sam » 25.06.2007, 20:16

Hallo Dita,

ja, schön, dass du dich nicht entmutigen lässt. :daumen:

Die Urversion gefällt mir auch besser. Vor allem dies (Elsa hat es schon erwähnt):

Vielleicht mag es dazu Statistiken geben. Aber in denen steht nichts davon, dass meine Mutter mir Honigbrote für die Schule machte und mich auf die Stirn küsste, wenn ich das Haus verließ. Oder dass mein Vater mit mir im Garten Fußball spielte und mich zum Lachen brachte.

Da blitzt sie auf, jene Lebendigkeit, die man in dem restlichen Text so sehr vermisst. Da entsteht auf einmal ein Bild, von der Mutter, von dem Vater. Das ist wirklich gut. Sehr gut sogar!
Wenn es dir gelänge, all das, was du in dem Text zum Ausdruck bringen möchstest, ähnlich bildhaft zu gestalten, dann würde daraus ein hervorragendes Stück Prosa.

Liebe Grüße

Sam


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