1. Kapitel (Anfang)

[maria]

1. KAPITEL (1965)

„Mama!“ sagte sie mit fester Stimme. „Ich gehe jetzt mit Mattes raus!“ Ihre Stimme schnappte etwas über bei dem letzten Wort.
Geklapper in der Küche. Mutter backte für morgen, Sonntag. Jetzt hörte das Hantieren mit Backform und Schneebesen abrupt auf, als seien ihre Worte erst in diesem Moment zur Mutter durchgedrungen.
„Wie raus?“ Mutter zeigte sich im Türrahmen, ein Trockentuch in der Hand. Sie rieb sich die Hände am Tuch ab, Reste vom Teig klebten daran. Als keine Antwort kam: „Hanne!“
„Nach draußen!“ Zur Bekräftigung knöpfte sie ihren Mantel zu. Ihre Hände zitterten etwas. Hanne stand im kalten Flur und wartete.
„Ja.“ sagte ihre Mutter mit plötzlich müdem Gesicht. Aller Arbeitseifer war von ihr abgefallen. „Ja“, wiederholte sie noch einmal und atmete tief ein und wieder aus. „Er ist blaß ...“ murmelte sie und wollte sich umdrehen, um wieder in die Küche zu gehen. Doch dann fiel ihr noch ein: „Sei wieder da bevor Papa kommt!“
„Ist gut“, Hanne nickte erleichtert und ging durch die Deele zur Hintertür.
Für gewöhnlich dauerte der Kampf länger.

Ihr Bruder Mattes saß aufgeregt in dem alten Bollerwagen, in dem die Familie sonst das Obst und Gemüse aus ihrem kleinen Garten am Dorfrand nach Hause transportierte. Den vollgepackten Wagen den Knickberg rauf - das war eine Ungerechtigkeit, die Hanne innerlich zum Schreien brachte. Warum lag der elende Berg nicht so, daß man mit dem leeren Wagen bergauf (eine Leichtigkeit), mit dem vollgeladenen Wagen aber bergab fahren konnte?
Hanne zog Mattes Schal fest und setzte ihm die kratzige Wollmütze auf. Ausnahmsweise ließ Mattes dies zu. Normalerweise widersetzte er sich jeglicher Kopfbedeckung - der Kopf musste frei bleiben! Die Vorfreude stimmte ihn milde.
„Eigentlich bist du zu groß für den Bollerwagen“, sagte Hanne und zupfte ihrem Bruder das von der Mütze plattgedrückte Haar aus den Augen. Mattes´ langen dünnen Beine waren notdürftig auf der engen Ladefläche verstaut. „Wir müssen uns bald was neues einfallen lassen, ne?“
„Haaamm!“ antwortete Mattes.

Hanne öffnete die Hintertür und zerrte an dem schweren Wagen. Nach ein paar heftigen Rucken, die Mattes ordentlich durchschüttelten, brachte Hanne ihn zum Rollen. Sie durchquerten den buckeligen Hof, dessen Betondecke an zahllosen Stellen aufgeplatzt war. An der Pforte, die auf die Straße führte, stand kaugummikauend Walter, der älteste Bruder.
„Willste den Doofen endlich wegbringen?“ fragte er grinsend und stellte sich breitbeinig vor die Pforte.
„Geh weg!“ Hanne wollte sich an Walter vorbeidrängen doch der schubste sie zur Seite.
„Wegzoll!“ Er grinste noch breiter.
„Hier haste ´ne Murmel!“ Hanne grub in ihrer Manteltasche und brachte eine Murmel zum Vorschein.
„Murmel! Pft!“ machte Walter verächtlich. „Für wie doof hältst du mich?“
„Sag´ ich nicht! Will dir ja nicht den Tag versauen!“ Hanne nutzte Walters Empörung, stieß ihn nun ihrerseits beiseite und zwängte sich mit Mattes eilig durch das Türchen.
„Ich sag´s Papa!“
„Dann drücke ich dir heut´ nacht ´n Kissen ins Gesicht.“ sagte Hanne mit zusammengekniffenen Augen. Das war die wirkungsvollste Art, ihrem Bruder zu drohen. Durch sein chronisches Asthma war er von der Schreckensvision besessen, nachts im Schlaf zu ersticken, unbemerkt von der Familie, im Todeskampf alleingelassen.
„Machst du nicht ...“ versuchte Walter und starrte Hanne ins Gesicht.
Sie starrte zurück. Um Hannes Eisblick zu entkommen, langte Walter blitzschnell über den Zaun und zog Matthias die Mütze vom Kopf. Der schrie auf vor Schreck, beruhigte sich jedoch rasch wieder, da Walter ihn mit dem Mützenklau unfreiwillig von dem kratzenden Ding befreit hatte. Zufrieden rieb er sich über den juckenden Kopf.
Um weiteren Übergriffen vorzubeugen, setzte Hanne sich mit dem Wagen in Bewegung und sie zogen lärmend über das Kopfsteinpflaster.

„Grrau!“ bellte es hinter ihnen. Hanne hielt an und wartete auf Krummbein, der ärgerlich angelaufen kam.
„Hahoo! Ehoo!“ Mattes ruderte mit den Armen und begrüßte den schwarzlockigen kleinen Mischling überschwänglich. Tatsächlich war Krummbein derjenige in der Familie, der mit Mattes seine meiste Zeit verbrachte, er schlief sogar in seinem Bett.
Eifersüchtig begleitete Krummbein nun den Spaziergang, wobei er sich durch kurze mißtrauische Blicke immer wieder versicherte, daß Hanne nicht noch einmal den Versuch machte, sich heimlich mit Mattes abzusetzen.

„Haahooo!“ sang Matthias.
„Haahooo!“ echote Hanne keuchend.
Die abgeernteten Felder rasten an ihnen vorbei. Mattes schwenkte den Kopf hin und her, ganz benommen vor Freude. Je schneller desto besser. Krummbein wetzte auf seinen kurzen Beinen hinter dem rasenden Bollerwagen her.

Hanne zog den ungelenken Wagen über den Feldweg. Das Gesicht glutrot vor Anstrengung, mit einem Ausdruck von Verbissenheit. Wie ein Ackergaul lief sie mit gleichmäßigen harten Schritten, den Blick auf den Weg geheftet, um möglichen Schlaglöchern auszuweichen. Zuweilen sah sie auf. Bis zu der Bank noch. Bis zu der Papiertüte da. Bis zu der Birke. Sie setzte sich ein Ziel, um die Fahrt dann noch um ein weiteres und noch eines zu verlängern. Hanne war mit ihrer Kraft am Ende, aber Mattes hinter ihr gluckste ununterbrochen vor Freude. Sie wollte das Ende der Fahrt so lange wie möglich hinauszögern. Das Blut hämmerte in ihren Schläfen und am Hals. Ihre Augen brannten von dem kalten Wind, der ihr entgegenschlug. Sie machte sich Sorgen, daß Mattes fror, ohne Mütze. Sie sah sich kurz um, blickte in sein lachendes Gesicht. Noch bis zum Strommast.

An der Scheune brachte sie den Bollerwagen endgültig zum Stehen und warf sich außer Atem in das kalte Novembergras. Krummbein ließ sich laut hechelnd neben sie fallen, seine Zunge hing so lang aus seiner weit aufgerissenen Schnauze, daß sie das Gras berührte.
Hannes Lunge pumpte Luft in gewaltigen Schüben. Ihre Ohren rauschten von den eigenen lauten Atemzügen. Luft. Langsam wurde sie leicht, ganz leicht. Sie schloß die Augen und löste sich auf. Spürte weder Kälte, noch die kleinen Steine im Gras, die in ihren Rücken pieksten.

„Hee! Hoo!“ sagte Mattes erschrocken und der Wagen kippte um.
Hanne schoß in die Höhe, ebenso Krummbein.
„Mattes! Hast du dir weh getan?“ Sie half ihrem Bruder aus dem umgekippten Wagen. Dabei wurde ihr für einen Moment schwarz vor Augen. Sie blinzelte mehrmals bis sie wieder klar sehen konnte.
„Mama!“
Hanne starrte ihren Bruder an: „Och, Mattes! Was für eine Verschwendung! Jedes Mal!“ Halb lachend, halb kopfschüttelnd klopfte sie seine Kleider ab.
„Grau!“ machte Krummbein, der Gewalt witterte.
„Ich tue ihm nichts!“ versicherte Hanne - Krummbein schien ihr zu glauben und hörte auf zu knurren.
„Mama.“ sagte Mattes noch einmal, wie um Hanne zu ärgern. Nur selten sprach er das einzige seinen Mitmenschen verständliche Wort zum richtigen Zeitpunkt aus.
„Spar´s dir auf, Dummkopf. Du mußt es zu Hause sagen, hier hört das doch keiner!“
„Hmmh,“ antwortete Mattes unwillig und schüttelte ihre Hand ab. Er war unverletzt.
„Ja. Ist ja gut.“ Hanne nahm Mattes verfrorene Hand und schlenderte mit ihm durch die Wiese. „Muskeltraining - du weißt ja, ne?“ Krummbein folgte.
Jede Unebenheit auf der Wiese konnte Mattes mit seinem unsicheren Zehenspitzengang zu Fall bringen. Hanne suchte den Boden nach Steinen und nach vertrockneten Kuhfladen aus dem Sommer ab, die durch den Frost - dieses Jahr hatte er früh eingesetzt - zu Stolperfallen geworden waren. Mattes umklammerte ihre Hand mit der Kraft eines über dem Abgrund hängenden Bergsteigers und zerdrückte sie fast.
„Ist lange her ... das letzte Mal, meine ich.“ sagte Hanne und wich einem gefrorenen Maulwurfshügel aus. Mit ihren Zähnen knabberte sie die trockene Haut ihrer Unterlippe ab bis sie Blut schmeckte. Die Kälte machte die Haut rissig. Auch an den Händen. Jedesmal wenn Hanne die freie Hand in ihre Manteltasche schob, blieb sie mit den hornigen Hautfetzchen an der Wolle hängen. Sie haßte das Geräusch, das dabei entstand. Wie ein Schlitten, der über die Steine schleift, wenn zu wenig Schnee liegt.
Fast zwei Monate war es her, seit sie das letzte Mal mit Mattes hier draußen gewesen war. Heimlich. Vater hatte es verboten. Hanne hatte die Zeit vergessen - es war ein warmer Septembertag gewesen. Sie war mit Mattes eingedöst; da war es plötzlich vier Uhr gewesen. Vater war so böse geworden. Das würde Hanne nicht noch einmal passieren.

[Franktireur]

Hallo Maria,

der erste Eindruck (ich habs nun zwei Mal gelesen) ist ein guter Eindruck. Es wird konsequent aus Hannes Sicht erzählt und es wird konsequent eine Sprache benutzt, die ihr angemessen ist (ich schätze sie mal so zwischen 8 bis 10 etwa?).
Es wird zwar in der 3.Person erzählt, aber es ist kein auktorialer Stil (der alles überschauende Erzähler), sondern bleibt dicht am Geschehen. Das schafft Lebendigkeit.
Kompliment.

Da es sich um ein Anfangskapitel (oder einen Teil davon) zu einem Roman handelt (nehme ich mal an), fällt es mir natürlich ersteinmal nicht ein, an der Sprache, Wortwahl, Satzbau etc. herumzudoktern, da es mir dahingehend noch zu wenig Textmaterial ist und die Gefahr zu groß, den Stil unzulässig zu beeinflussen.
Daher (aber auch unabhängig davon) würde mich interessieren: Wie lange ist der Roman? Wird die Erzählweise aus Hannes Sicht beibehalten? Über welchen Zeitraum erstreckt sich der Roman, ragt er in Hannes Erwachsenendasein hinein?
Ob eine kurze Inhaltsangabe sinnvoll erscheint, mußt du entscheiden. Ich habe zumindest den Eindruck, daß es sich nicht um eine Erstschrift handelt, da mir der Stil doch schon recht ausgereift erscheint.

Würde mich freuen, von dir etwas zu lesen dazu.

Gruß
Frank

[ursula.stoehr]

Liebe Maria

Ich habe dein erstes Kapitel mit angehaltenem Atem gelesen, habe ich doch als Mädchen oft mit dem behinderten Buben unserer Nachbarin gespielt und bin auch oft mit ihm spazieren gegangen. Alle anderen Kinder wollten nichts mit ihm zu tun haben.

Du schilderst sehr einfühlsam und mit guter Wortwahl.
Freue mich schon auf die Fortsetzung, die es hoffentlich gibt.
Liebe Grüße
Ursula

[Lisa]

Hallo maria,
ich kann mich Franks Ausführungen UND Fragen nur anschließen...bin gespannt auf die Antworten und mehr... :-$

[maria]

Hallo Frank,

Danke für deine Rückmeldung! Also es ist so - ich bin ja zufällig hier im Blauen Salon gelandet, weil ich etwas zu John Irving gesucht habe (und auch fündig geworden bin!). Der Romananfang, den ich hier eingestellt habe "schläft" seit fünf Jahren auf dem Rechner und wäre dort wohl geblieben, wenn ich euch nicht entdeckt hätte. Den Text hat auch bisher nur mein Mann gelesen - aber der ist ja befangen... Also dachte ich - hier ist die Gelegenheit das mal objektiv beurteilen zu lassen ("Einfach mal trauen!" wie du gesagt hast:-))
Geschrieben habe ich bisher nichts nennenswertes (eine Kindergeschichte, eine (!) Kurzgeschichte und ein Stück fürs Puppentheater) - alles für den "Hausgebrauch".
Zu dem Roman ist erst ein grobes Gerüst vorhanden und ich musste mich nach dieser langen Zeit erst wieder richtig reindenken - jetzt fühlt es sich aber so langsam wieder ganz frisch an. Getippt sind erst etwa 20 Seiten, der Rest ist noch fragmentarisch - deshalb kann ich zu der Länge noch nichts genaues sagen (nicht ganz kurz). Es wird sich auf jeden Fall bis in Hannes Erwachsenenalter erstrecken. Der Erzählstil wird personal bleiben, aus Hannes Sicht (evtl. gibt es auch Einschübe aus der Sicht anderer Figuren).
Schauplatz ist eine westfälische Kleinstadt (zunächst) in den sechziger Jahren. Geschildert wird das beengte (räumlich und gedanklich gesehen) Leben von Hanne Heinrichs und ihrer Familie. Hanne (die allerdings 13 Jahre alt ist, kommt sie zu jung rüber? wg. der Murmel!) steht u. vor der wichtigen Entscheidung, ob sie (wie vorgesehen) eine Lehre beginnt oder (nicht erwünscht) das Gymnasium besuchen kann. Es wird grundsätzlich darum gehen, dass Hanne aus dieser Enge ausbrechen möchte, was sie aber - nicht zuletzt durch Mattes - mit großen Skrupeln (was für ein lustiges Wort!) erfüllt. Ich weiß, das ist inhaltlich noch nicht sehr ergiebig, aber ich arbeite daran!

Liebe Grüße maria

[maria]

Liebe Ursula,
Danke für deine Meinung zu dem Romananfang! Ist ein kribbeliges Gefühl einen eigenen Text ins Forum zu stellen...
Behinderung ist ein Thema, das mir beruflich und privat nahe ist.

LG maria

[Franktireur]

Hallo Maria,

danke erstmal für die Erläuterungen.

Keine Sorge, Hanne kommt nicht zu jung rüber - ich hätte mehr berücksichtigen müssen, wann die Geschichte spielt (ich war als Kind auch "jünger? kindlicher?" als ich es wohl heute wäre im selben Alter...

Ich hatte nur 8-10 als Minimum getippt, wegen dem Bollerwagen z.B. (alleine eine Frage der Körperkraft) - obwohl sich mir bei 13 Jahren eine neue Frage stellt: wie steht es um die Pubertät? Da grenzen sich doch Jungs/Mädels eher von ihren Geschwistern und Eltern ab... davon ist zumindest nichts in dem Auszug zu lesen - war jetzt nur eine spontane Frage, die mir kam.

Aber ich weiß jetzt mehr über den Roman und freue mich auf weitere "Häppchen".

Gruß
Frank

[Gast]

Liebe Maria,

Kompliment,
auch ich habe deinen Text mit Begeisterung gelesen.
Ich weiß ja nicht, ob es stimmt, aber in mir hat es eine Stimmung erzeugt, als wenn etwas unheilvolles im Anmarsch ist...
Da sind so Andeutungen in Richtung Vater... einerseits Fürsorge für den behinderten Bruder... andererseits meine ich zu spüren, dass Hanne ihn auch für irgendwelche eigenen Vorteile einplant (benutzt)...

Weiter so, es macht Freude etwas so gekonnt Erzähltes hier zu lesen.
Danke
Gerda

[maria]

@ Lisa
...danke fürs Gespanntsein :grin: !

@ Frank
...sehr lieb, daß du dir soviel Mühe machst! Danke!
Ja, mit dem später Erwachsenwerden war das wohl zu der Zeit so (heutzutage rocken ja schon die sechsjährigen bei Sinalco zu Tokio Hotel ab!).
Bei Hanne ist es so, daß sie in der eher gefühlsarmen, lieblosen Familie die "Beschützerrolle" für Mattes übernommen hat und eine nach außen hin gehorsame, angepasste Tochter ist - nur innen fängt´s an zu brodeln. Pubertätsmäßig ist sie eher eine Spätzünderin.
Mann, das macht solchen Spaß wieder in diese Geschichte einzutauchen!

@Gerda
Oh, das freut mich aber sehr was du schreibst! Danke! Es stimmt, der Vater ist ein schwieriger Fall... Die Beziehung zwischen Hanne und Mattes ist aber liebevoll und innig - die zwei sind emotional am gesündesten in der Familie.

LG maria

[ursula.stoehr]

Liebe maria

bleib dran an der Geschichte!
Lass Hannah nur so kindlich sein. Wir waren das auch in diesem Alter (Baujahr 47) Ich bin viele Stunden mit dem behinderten Nachbarsjungen spazieren gegangen. Das wäre heute bestimmt anders.
Ich bin gespannt, wie es weitergeht.
Liebe Grüße
Ursula