Hallo Leute,
hier mal was für die von euch mit viel Zeit. Die Geschichte ist in zwei Teilen gepostet, um sie lesbarer zu machen - den zweiten Teil findet man hier:
http://www.blauersalon.net/online-liter ... php?t=3421
Grüsse
Merlin
Warum Karl kein Buch schrieb
Es war an einem naßkalten Himmelgraunovembertag, als Karl bei einer ausgedehnten Wanderung durch die Berge auf einem Gipfel halt machte und, überwältigt von der Aussicht und aus Trotz gegen die unproduktive latente Depression der letzten Wochen, den Entschluß faßte, ein Buch zu schreiben. Er tat dies ohne Scheu und Zweifel; denn ob er es auch erstmalig versuchen würde, ließen ihn doch seine vorgängigen Erfahrungen mit kurzen Geschichten, Aufsätzen, für die seine Lehrer stets lobende Worte gefunden hatten und hier und da einem Gedicht ihm das Gelingen sicher scheinen, sollte ihm sein Vorsatz nur erhalten bleiben. Das war freilich fraglich, denn schon vieles, wozu er sich fähig geglaubt hatte, war gescheitert, als ihm der Wille schwach wurde, sich das alltägliche Besorgen in seine Arbeitsphasen schlich, dort wucherte und schließlich das ganze Vorhaben in Ablenkung auflöste, bis es sich schmollend ins Gewissen zurückzog, dort noch eine Weile als Vorwurf fortbestand und endlich schwieg. Das aber kümmerte Karl nicht. Jetzt lag der Alltag, weit entrückt, zu seinen Füßen und konnte lange wuchern, ehe er ihn hier auch nur erreichte. Was aber aus der Ferne erst einmal als klein erkannt war, mußte auch aus der Nähe zu beherrschen sein. Jetzt nur noch Papier und Stift besorgen, dachte er, ehe mir der Kopf vor Formulierungen und Einzelheiten schwirrt und ich von diesem Paradies nur den kümmerlichen Rest mitnehme, den das Gedächtnis aufbewahren kann. Und so blinzelte er noch einmal in die Sonne und begann dann eilends den Abstieg.
Wieder im Dorf am Fuß des Berges, von wo aus er seinen Weg begonnen hatte, fand er sich in höchst vergnügter Laune; besorgte sich aus einem Ansichtskartenladen einen Schreibblock (einen Stift trug er mit Rücksicht auf die Möglichkeit solcher Fälle immer bei sich), rauschte die Straße herunter, parierte eine ihm unverlangt zugerufene kritische Würdigung seines Äußeren, die er nicht teilte, beiläufig mit der Erklärung, das sei ihm eins, da er sich ja selbst nicht sehen müsse und entschwand, ehe der verblüffte Gassenkritikus etwas erwiedern konnte, in eines der zahlreichen Eckcafés des Dorfes, dessen Tische es, wie Karl sich schon verschiedentlich versichert hatte, erlaubten, Papier und Tasse gleichzeitig den notwendigen Raum zu geben.
Es war leer bis auf einen älteren Herrn, der in einer der hinteren Winkel saß, einen altmodischen Schlapphut, der ihn anderswo als Mafioso ausgewiesen hätte, hier aber recht deplaziert wirkte, tief im Gesicht trug, das zuweilen im Widerschein seiner Zigarre aufleuchtete. Davon abgesehen, daß er rauchte, fing der mit dem Rest des Mobilars Staub, in das er sich im übrigen mit seinem graugemusterten Anzug bestens fügte – von Karl schien er keine Notiz zu nehmen, auch wenn ein Urteil hierüber zu gewinnen schwierig war. Eine Bedienung war nicht in Sicht, was Karl für den Augenblick durchaus gelegen kam; denn der Gedanke, sich so bei der dann schon begonnenen Arbeit stören zu lassen, vergnügte ihn. Vorerst suchte er sich einen Tisch in der dem Inventarmafioso entgegengesetzten Ecke, schlug den Block auf, zog seinen Kugelschreiber, dessen Mine er wie eine Messerklinge herausschnappen ließ und begann, seine Gedanken zu ordnen.
Ein Thema war nicht schwer zu finden; tatsächlich ging er schon seit Monaten mit einer Idee schwanger, die ihm ebenso reizvoll wie ausbaufähig schien: sie war ihm gekommen, als in den Nachrichten irgendeines Privatsenders davon berichtet wurde, wie eine Wahrsagerin der Polizei geholfen hätte, die Leiche eines Mordopfers zu finden. Während die Sprecherin mit jenem Enthusiasmus, mit dem diese Art Journaille stets gerne gegen den Rationalismus anzuschreien pflegte, von den Möglichkeiten dieser neuen „Methode“ geschwärmt hatte, hatten sich Karls Gedanken selbstständig gemacht; warum war jemand, der wußte, wo die Leiche lag, nicht im höchsten Grad verdächtig? Und schon hatte er einen Schnüffler geboren, einen Journalisten, Detektiv, Skeptiker, was auch immer, der – natürlich in einer angemessen einzurichtenden Umgebung, eine Steilküste schien geeignet, da sie zahlreiche Möglichkeiten bot, Leichen herzustellen und zu entsorgen und im übrigen eine nicht unbeträchtliche dramatische Symbolik mit sich brachte – einem solchen Fall auf den Grund ging und die „Wahrsagerin“ schließlich als Nebenverdienstquelle der Mafia enttarnte. Spannend, fing man es nur richtig an. Und um den Anfang ging es nun. Der erste Satz war immer der schwerste; alle weiteren konnten als Fortsetzung begriffen werden, war das Geschehen erst einmal zum Leben erwacht, spann es sich wie von selbst fort – aber man konnte nicht an nichts anknüpfen: der erste Satz mußte den Stein ins Rollen bringen. Karl begann zu grübeln. Wo beginnen? Womit? Damit, daß seine Hauptfigur von dem Fall erfuhr? Oder einfach mit einem Sprung ins kalte Wasser, in dem der Leser sich zurechtzufinden erst allmählich lernen mußte, etwa durch Ansetzen auf der Reise zum Schauplatz der Untersuchungen und das gelegentliche, beiläufige Einflechten von Hinweisen?
Ersteres erschien ihm angesichts seiner mangelhaften technischen Erfahrungen geratener, doch die Alternative war nicht ohne Reiz; zweifellos mußte der Held Teil des ersten Satzes sein, was wiederum die Schwierigkeit aufwarf, einen geeigneten Namen für jemand zu wählen, den man noch nicht kannte. Nun, dazu gab es Platzhalter. Karl setzte den Stift an und begann zu schreiben:
„So ein Unsinn.“ schimpfte X erbost und schaltete den Fernseher aus.
So weit, so gut. Der zweite Satz konnte kommen. Konnte er? Taugte diese erste Zeile tatsächlich zum Anfang? Es gab immerhin einige Anzeichen für das Gegenteil; vergab er sich nicht eine Chance, das Interesse des Lesers für seine Figur zu wecken, wenn er sie auf eine so gewöhnlich und unoriginelle Weise schimpfen ließ? Lag in „schimpfte erbost“ nicht eine unnötige Redundanz? Erzeugte diese nicht wiederum ein Bild von X´ Stimmungslage, zu dem die nächste Handlung, den Fernseher auszuschalten, garnicht zu passen schien? Karl strich die erste Zeile aus und versuchte es erneut:
„Schmarrn.“ schimpfte X und warf mit Schwung seine Zeitung auf den Müll.
Falsch. Viel falscher noch als vorher. Vor Karls geistigem Auge entpuppte sich X zu seinem Entsetzen als motziger Wurzelsepp aus dem tiefsten Bayern. „Schmarrn“ – wie war er darauf nur verfallen? Und dann die Zeitung fortzuwerfen, „mit Schwung“ auch noch, weil ein Artikel nicht genehm war – wie würdelos! Wie kindisch. Ein dicker Strich gab dem Machwerk den Gnadentod.
Gerade wollte Karl zu einem dritten Versuch ansetzen, als er bemerkte, daß der Inventarmafioso auf dem Stuhl vor ihm erschienen war. Er hatte sich allem Anschein nach genähert, während Karl nachdachte, und es war insbesondere nicht auszumachen, wie lange er ihm wohl schon zusah. Instinktiv verdeckte Karl die beiden durchgestrichenen Sätze mit seinem Arm.
„Lassen Sie nur.“ sagte der Mann, gerade so, als täte Karl ihm einen ungebetenen Gefallen, indem er ihm den Anblick des Geschriebenen ersparte. „Das einzige Geheimnis von Geheimniskrämern ist gewöhnlich, daß sie nichts zu verbergen haben; Ausnahmen sind selten, und ihr Fall gehört, wie ich mich bereits vergewissern konnte, nicht dazu. Freilich haben Sie auch keinen Grund, sich vor mir zu verbergen; fragen Sie nicht, wer oder was ich bin, das führt nur dazu, daß sie meiner Art mehr Bedeutung zumessen als meinem Wort, was ganz und gar verfehlt wäre. Ich kann Ihnen aber versichern, schon die Entstehung vieler Werke begleitet zu haben, und bin also sozusagen ein Experte für die Kunst des Schreibens. Es ist dies ja zu Beginn ein sehr verdrießliches Geschäft, wie sie gerade selbst bemerkt haben werden, ein Labyrinth, wenn sie mir den Vergleich gestatten, in dem viele junge Autoren ihre Kräfte darauf vergeuden, Wege abzugehen, die längst als unbegehbar entdeckt sind, unwissentlich eine völlig falsche Richtung nehmen und schließlich vor einer Wand zum Stillstand kommen, die sie nicht alleine von Publikation und Erfolg, sondern sogar bei ehrlicher Betrachtung von der eigenen Wertschätzung für ihre Werke trennt. Sie dürfen es daher als einen schier unermeßlichen Glücksfall ansehen, mir in einer solch frühen Phase begegnet zu sein; wenn Sie es nur wünschen – und sie wären ein Narr, wenn nicht – will ich Ihnen gerne mit meinem Rat helfen, Irrwege zu vermeiden.“
Hier hob sich der Hut erstmals weit genug, um ihre Gesichter im Prinzip einander sichtbar werden zu lassen, tatsächlich allerdings, da die Krempe einen starken Schatten warf, nur einseitig; der Mann nahm Karls Ausdruck, der von anfänglicher Verärgerung in Überraschung und schließlich offenes Interesse umgeschlagen war, als ausreichende Antwort und fuhr setzte wieder an: „Gut denn, so hören Sie; Ihr bisheriger Versuch scheint der naiven Annahme zu folgen, Geschriebenes entstünde so, wie man es liest – von vorne nach hinten, Satz für Satz, im Flusse. Nichts könnte verkehrter sein. Nehmen Sie die Figur in Ihren mißglückten Anfangssätzen – denn mißglückt sind sie in der Tat, es spricht im übrigen sehr für Sie, daß Sie es gleich erkannt haben; Sie wollen über ihr Leben berichten – und kennen sie überhaupt nicht. Wie sollte man irgendetwas Nennenswertes über jemanden schreiben, von dem man nicht einmal den Namen hat? Mein erster Rat lautet daher: erst konzeptionieren, dann realisieren. Entwerfen Sie Ihre Figuren, arbeiten Sie ihre Züge aus, ihr Äußeres, ihre Biographie. Dann machen Sie sich einen Plan der Handlung: zeichnen Sie das Raster in groben Zügen vor, aus dem Sie die Geschichte dann durch Ausformulierung und Einfügen von Details aufbauen. Überstürzen Sie um Gotteswillen nichts mit dem ersten Satz – der bestimmt, wie Sie schon wissen werden, das Geschick des ganzen Unternehmens. Vergessen Sie dies unbeholfene Herumgetapse – am Besten geben Sie mir die Blätter gleich her, ehe sie Sie zu erneuter Voreiligkeit verleiten. Aber da rede ich und rede und merke garnicht, wie spät es geworden ist! Ja, so ein hoffnungsvoller junger Hüpfer kann mich ganz weltvergessen machen – nun aber kommen Sie, ich bin durch Sie bereits genug in Eile, habe Ihnen vorläufig auch alles gesagt, was es zu sagen gibt – kommen Sie.“ Damit schob er Karl mit Bestimmtheit und Kraft durch die Tür, die er sogleich schloß und zu dessen Verwunderung von außen abschloß. „Ist das denn Ihr Café?“ erkundigte er sich. „Ein Café?“ erwiderte der Mann, schon auf halbem Weg zu seinem Wagen. „Wie kommen Sie denn darauf?“ Dann stieg er ein und fuhr davon.
Karl sah ihm noch eine Weile nach, dann drehte er sich nach der Türe, um für seine Ansicht, vor einem Café zu stehen, eine Bestätigung zu erfahren. Tatsächlich fand sich eine Inschrift über der Türe, die aber so hoch angebracht war, daß sie sich seinen Blicken entzog und die er wegen der Dämmerung, die mittlerweile hereingebrochen war, auch aus einigen Schritten Entfernung nicht erkennen konnte. Letztere brachte eine merkliche Abkühlung mit sich und so faßte Karl eilig den Entschluß, nach Hause zurückzukehren.
Sein Zuhause bestand aus einer Mietwohnung im ersten Stock eines alten Hauses, das vor langer Zeit einmal von drei oder vier Generationen einer Familie bewohnt gewesen war, bis sich, als diese sich in alle Richtungen zerstreute, das verbleibende Ehepaar aufs Erdgeschoss zurückzog und die übrigen Teile vermietete. Die so entstandenen Räumlichkeiten waren der veränderten Bedürfnislage erst im Nachhinein und aus Widerwillen gegen die Veränderung nur halbherzig angepasst; um sie auch nur zu erreichen war man z.B. genötigt, sich den Blicken der Vermieter auszusetzen, deren meist offene Wohnzimmertür direkt auf den Hausflur führte und die so stets das Ein- und Ausgehen im Blick behielten. Davon abgesehen waren sie weder sonderlich groß noch komfortabel; im Besonderen galt dies für die erste Etage, die über keine eigene Toilette verfügte und in der Bad und Küche in einem dafür offenbar nicht vorgesehen Raum zusammengelegt waren; entsprechend wohnte hier niemand, der es nicht mußte; meistens teilten sich, wie auch jetzt, zwei Studenten die beiden getrennt liegenden, nur indirekt durch Türen zum Raum welcher als Bad und Küche diente, verbundenen Zimmer.
Karls Mitbewohner, ein Herr M., hatte es in den bisherigen Monaten ihrer Wohngemeinschaft verstanden, vollkommen unsichtbar zu bleiben; außer dem Anfangsbuchstaben seines Namen, den er von dem sonst zur Unleserlichkeit verwischten Klingelschild abgelesen hatte, wusste Karl von ihm nur, daß er schon unbestimmte Zeit dort gewesen war, ehe Karl einzog. Der frühere Bewohner seines Zimmers, ein Studienfreund, hatte Karl die Wohnung vermittelt und dabei Herrn M. wohl so glaubhaft von dessen ruhiger Art in Kenntnis gesetzt, daß dieser nicht einmal verlangt hatte, persönlich bekannt gemacht zu werden. So kam es, daß Karl von ihm nur einen Schatten kannte, der, als er zu Zeiten, da sein Zimmer noch dem Freund gehörte, bei diesem zu Besuch gewesen war, durch die angelehnte Tür hindurch kurz sichtbar im Halbdunkel durch die Küche gehuscht und hinter der anderen Tür verschwunden war. Ansonsten war seine Gegenwart nur indirekt an den Spuren abzulesen, die er, zwar sparsam, aber immerhin, hinterließ: kleine Verrückungen etwa der Toilettartikel über dem Waschbecken, oder zuweilen ein frisches Handtuch. Auch hatte Karl von seinem Vormieter offenbar eine Vereinbarung geerbt, der folgend Herr M. sich um die Ausleerung des für Papierabfälle vorgesehenen Behältnisses zu kümmern hatte, während Karl dasselbe für den sonstigen, übrigens nur wenigen und, wie ihm schien, gänzlich von ihm alleine stammenden Unrat besorgte. Dieser Verpflichtung schien Herr M. mit großem Eifer nachzugehen, denn Karl konnte sich nicht erinnern, je ein Stück Papier länger als einen Tag lang im Eimer liegen gesehen zu haben. Das stärkste Anzeichen für seine Gegenwart war ein Lichtschimmer unter der Tür gewesen, den Karl vom Treppenhaus aus hatte sehen können; aber das war zwei Monate her und hatte sich seitdem nicht wiederholt. Einige Male war Karl nahe daran gewesen, eine Nachricht zu hinterlassen oder sogar an die Tür zu klopfen, hatte sich dies aber aus Sorge, er könne ungelegen kommen oder aufdringlich erscheinen, stets versagt.
So wurde es für Karl zur bisher handfestesten Bestätigung für die Präsenz jenes mysteriösen Wohngenossen, als er auf dem Treppenabsatz im ersten Stock vor der Tür zum Zimmer des Herrn M. eine Aktentasche vorfand. Karl, den die Neugier zuvor schon krumme Wege zur Erforschung der Angelegenheit hatte erwägen lassen, hielt, seinen Zimmerschlüssel schon im Schlüsselloch halb umgedreht, inne, betrachtete die Tasche und erwog, einen Blick auf ihren Inhalt zu werfen; von diesem trennte ihn einzig ein Reißverschluß, dem man eine unautorisierte Nutzung schwer würde ansehen können. Das, was immer sich im Inneren befinden mochte, wieder in eine der ursprünglichen ausreichend ähnliche Ordnung zu bringen, traute er sich ebenfalls zu, ferner war er zuversichtlich, daß schon ein kurzer Blick genügen werde, um einen gewissen Aufschluß zu erlauben. Er zuckte zusammen, als Schritte hörbar wurden, die sich von innen der Türe näherten. Wenn er hier draußen, auf dem Treppenabsatz, einem Ort also, der einzig zur Durchquerung, nicht für den Aufenthalt geschaffen war, den Blick auf die fremde Tasche, angetroffen wurde, konnte ihn das leicht verdächtig genug machen, um die Duldung des Herrn M., die ohnehin nur auf der Fürsprache seines Studienkollegen fußte, ernsthaft ins Wanken zu bringen. Als die Klinke von innen ergriffen wurde, glitt Karl rasch in sein Zimmer und schloß die Türe von innen so leise wie möglich. Von draußen war das Geräusch von jemand vernehmlich, der auf den Flur trat. Doch anstatt, wie Karl es erwartet hatte, die Tasche zu nehmen und ins Zimmer zurückzukehren, wurde es draußen still wie die Regungslosigkeit von einem, der Verdacht geschöpft hat und sich umsieht. Karl stockte der Atem; wenn Herr M. sein übereiltes Entschwinden bemerkt hatte, mußte ihm dies noch weit anstößiger Erscheinen, als es sein bloßes Dastehen getan hätte. Freilich konnte er noch immer behaupten, eben gerade erst zurückgekommen zu sein, doch diese Behauptung war nur haltbar, wenn er rasch das unter dem Türspalt sichtbare Licht anschaltete, wozu es wahrscheinlich jetzt schon zu spät war, zumal ihn seine bisherige Lautlosigkeit zusätzlich belastete. War er andererseits unbemerkt geblieben, worauf immerhin einige Hoffnung bestand, so war es das Beste, im Dunkeln abzuwarten, daß er M. den Treppenabsatz verließ und in sein Zimmer zurückkehrte. Er blieb regungslos, bemüht um eine kaum hörbare Atmung, bis er draußen den Riegel einschnappen hörte. Dann schlich er – die Wände waren zwar dick genug, die meisten Laute abzuhalten, doch schließlich konnte man nie wissen – zum Lichtschalter, schaltete das Licht erst an, dann, für den Fall, daß sein Mitbewohner dies vom Bad aus bemerken könnte, wieder aus, knipste dann die Schreibtischlampe an (deren Schein zu schwach war, um zu derlei Befürchtungen Anlaß zu geben), setzte sich davor und nahm einen Stapel allerlei einseitig bedruckten Papiers zur Hand, dessen Rückseite er für Notizen zu nutzen pflegte.
Als er den Stift zur Hand nahm, faßte er, beschämt eingedenk seiner naiven Voreiligkeit beim Versuch eines ersten Satzes, den Entschluß, die Charaktere seiner Hauptpersonen zunächst in ungrammatischer Grobzügigkeit niederzulegen und sich einer Ausarbeitung der Einzelheiten erst im Anschluß zuzuwenden. Er legte sich für jede einzelne – es wurden ihm nach einigem Besinnen vier - ein Blatt an und brachte einige Zeit damit zu, sich für jede einige Wesenszüge zurechtzulegen. Den Detektiv dachte er sich von breiter Gestalt, kantigem Gesicht, und, entgegen dem als zu klischeehaft empfundenen ersten Einfall (und weil sich hiermit so ein hübsches Wortspiel treiben ließ) weder behütet noch bemäntelt, sondern in schlichter Kleidung mit einer Jacke, die die eherne Unverrückbarkeit seiner Wahrheitsliebe und seines Gerechtigkeitssinnes dadurch anzeigen sollte, daß sie wetterfest war. Aber war auch dies nicht bereits zu sehr Vorurteil? Karl konnte sich leicht vor Augen führen, wie der Herr über solche Banalitäten die Stirn kraus zog; auch schien eine so vollkommene Harmonie des Charakters mit der Physiologie nicht nur auf den ersten Blick politisch zweifelhaft – lief das Ganze nicht Gefahr, sich unaufgeklärter phrenologischer Albernheiten schuldig zu machen, wenn sein Held zugleich an Geist und Körper Stärke zeigte? Vielleicht war eine zarte, knabenhafte Gestalt vorzuziehen, die ihren Inhaber nach herkömmlichen Richtlinien als elbischen Schöngeist auswies und damit einen Gegenpol zum Inneren bildete? Oder bewegte solche offene Klischeefeindschaft sich schon selbst wieder am Rande des Dünkelhaften? Er zweifelte. Ferner begann er sich seiner sexistischen Sicht zu schämen, die ihn den Helden so fraglos als Mann hatte sehen lassen. Warum keine Frau? Auch konnte er seine Zwecke durchaus derart wählen, daß ein Rollstuhlfahrer für sie infrage kam, und, aus dramaturgischer Sicht, bei gleicher Eignung sogar vorzuziehen war. Oder wurde hier die gute Absicht derart offensichtlich, daß der geübte Leser sie als plakativ enttarnen mußte? Der Mann mochte die Hand vor die Stirne schlagen und etwa bemerken, daß der Schein-Sein-Gegensatz doch wohl zu abgenutzt sei, um noch ernstlich reizvoll zu sein, und daß Karl sich hüten solle, vor politisch korrektem Übereifer seine Hauptperson der Lächerlichkeit anheimzugeben. Als er zu Bett ging – die Arbeit hatte sich bis in die frühen Morgenstunden hingezogen – war neben den vier Seiten, die er als vorläufiges Ergebnis seiner Bemühungen aufhob, ein Stapel von Verworfenem entstanden, den zu entsorgen er sich, dem Vorbild des Herrn vom Abend folgend, beeilt hatte.
Am nächsten Morgen konnte er an seinen Aufzeichnungen keinen Fehl ausmachen, beschied aber dennoch, mit der Fortführung zu warten und vorher erneut den Rat des Herrn einzuholen; denn es mochten ja durchaus einige tiefgreifende Mängel seinem in solchen Fragen ja ungeübtem Auge entgangen sein und ihm erst dann zu Bewußtsein kommen, wenn er sie mit einem guten Teil Text – am Ende gar dem ersten Satz! – derart verwoben hatte, daß eine Trennung unmöglich und der ärgerliche Aufwand eines Neuanfanges unvermeidlich war.
Kaum aus der Tür, sorgte sich Karl, ob ihn die Pendelei nicht zuviel Zeit kostete, die er zum Schreiben hätte nutzen können, doch glücklicherweise begegnete ihm der Man schon in der Straßenbahn; er hatte kaum Platz genommen, als sich der in der Sitzgruppe hinter ihm mit dem Rücken zu ihm vorgebeugt Sitzende zurücklehnte und ihn, ohne den Kopf zu drehen, in vertrauter Weise ansprach.
„Vier spärlich bedeckte Blätter - mager, mager. Womit um Himmelswillen nichts gegen Ihre Arbeitsweise gesagt sein soll; der Mangel offenbart nur Ihren lobenswerten Zugewinn an Vorsicht. Sie werden nun einen besseren Eindruck davon haben, auf was für unwegsames Pflaster Sie sich vorgewagt haben – und hoffentlich verzeihen, wenn ich mir die Bemerkung erlaube, dass das Beste an diesen Seiten in der Tat das ist: dass wenig darauf steht. Ich hätte Sie gewiss vorher darauf hingewiesen, bloß, dass mir dergleichen Dinge inzwischen derart glasklar sind, dass ich sie schon wieder übersehe – freilich, ein junger Vogel wie Sie, der nicht weiß, dass Sie da ist, kann sich an solchem Glas leicht seine Flügel brechen – nun, offenbar haben Sie es verabsäumt, sich die wichtigste vorgängige Frage zu stellen: was Sie eigentlich sagen wollen? Warum soll denn der Leser sich um Ihre zusammengewürfelten Beliebigkeiten von Charakteren scheren? Wozu dem Theater folgen, dass sie auf die Bühne bringen? Auf diese Weise erreichen Sie im günstigsten Fall amüsante Seichtigkeit – kein Futter für den verständigen Leser. Die Figuren sollen Zeiger sein, die in die Möglichkeiten des Menschseins weisen – wohin deuten Ihre? Krumm und schief, willkürlich platziert – und wie könnte es auch anders sein. Denn allem Anschein nach – leugnen Sie es nicht, so etwas kann ich gleich erkennen – fehlt es ja der ganzen Geschichte noch an Hintergrund, Prämisse, Botschaft und Tiefe. Erwägen Sie also zunächst diese – und trennen Sie sich nur rasch von diesen humpelnden Spottgeburten. Oh, meine Haltestelle. Zeit wird es auch. Auf bald dann also.“
Damit nahm er Karl die Blätter aus der Hand und stieg aus.
Karl, den dieses harte Urteil über das Destillat der Arbeit einer ganzen Nacht überrascht und auch etwas erschüttert hatte, entschied, dennoch – weniger aus Eindruck denn aus Beschluss – unverzagt fortzufahren und sich das ihm Angeratene auf einem Waldspaziergang zu überlegen. Er verließ die Bahn an einer Station nahe dem Waldrand und begann, über die breiten, verschneiten Wege zu schlendern und zu grübeln.
Tatsächlich kam er auch bald zu dem Eindruck, seiner Geschichte einen Sinn unterlegen zu können; denn schließlich war ja der Aberglaube ein allenthalben aufkeimendes Übel und der Glaube an den prognostischen Wert von Spielkarten, umgedrehten Weingläsern, Horoskopen und eben auch Wahrsagern weiter verbreitet als der an den des Wetterberichtes, gegen den man berechtigtes Misstrauen an den Tag legte. So begann er, die dramatis personae in diesem Sinn umzuschaffen; aus seinem Antiheldenklischeedetektiv wurde ein aufrechter ein Rationalist, ein Aufklärer, natürlicher Feind aller mittelalterlichen Finsternis des Geistes. Wie war das äußerlich anzudeuten? Nächstliegend war eine Gestaltung nach dem Bild eines berühmten Menschen gleicher Natur, wozu ihm als erstes Kant einfiel. Klein, streng, mit Zopf und Gehstock – das würde die Verwandtschaft augenfällig machen, wenigstens dem verständigen Leser.
Aus der Wahrsagerin wurde der Inbegriff des verbrecherischen Scharlatans, man konnte ihn oder sie nach Paul Schäfer formen, nach irgendeinem Guru – wenn sich einer mit ausreichend bekanntem Äußeren fand – oder – was dem Ganzen eine unerwartet weitreichende politische Dimension verleihen konnte – sogar nach Hitler, der durch Bart und Scheitel leicht zu zeichnen war.
In dieser Art fuhr er fort, bis er bemerkte, dass er diese Figuren unmöglich zu etwas anderem als einem lächerlichen Possenspiel zusammenbringen konnte und über dieser Einsicht verzweifelte.
Er kapitulierte. Schluss. Zum Schreiben war er nicht gemacht. Das war ein unmögliches Geschäft, und dass es offenkundig solche gab, die sich darauf verstanden, ein Wunder. Geknickt ging er, den nunmehr von Gedanken leeren Kopf auf der Brust hängend, seines Weges, und bemerkte zuerst kaum, wie es aus dem schwarzen Wald rief: „Schu-hu“.
Warum Karl kein Buch schrieb I
Huhu M.,
dein Duktus ist schon etwas gewöhnungsbedürftig. Ich fühle mich mindestens ein Jahrhundert zurückversetzt (da darf natürlich die alte Rechtschreibung auch nicht fehlen)... Teilweise ist der Ausdruck so anachronistisch verschroben, dass ich sogar Verständnisprobleme bekomme. ZB. hier:
denn ob?
oder...
eingedenk?... so Sätze muss ich dreimal lesen... und das macht (mir) keinen Spaß.
Apropos "erster Satz" ... hast du eigentlich "deinen" ersten Satz auch mal genauer angesehen?
Ganz offen gesagt bin ich kein Freund von Endlossatzbandwürmern. Einladend finde ich dieses Ungetüm nun wirklich nicht.
"unproduktive latente Depression "
Aha. Wie eine Depression unproduktiv sein kann, ist mir schleierhaft. (ich weiß was du meinst... aber)
Was bringt das Adjektiv "latent"?
Ja, stimmt ! (auch in deinem Fall)
Der Text wirkt auf mich, als hättest du ein Kafka-Plagiat im Sinn gehabt...
Aber bei all dem Genifl muss ich doch zugeben, dass du dein Stilmittel sehr gut im Griff hast und ihm durchgängig treu bleibst. Diese Homogenität in dem doch unüblichen Sprachfeld finde ich schon sehr beeindruckend und transportiert einen gewissen rabulistischen Charme.
Mein absoluter Liebling im ganzen Text! genial ausgedrückt.
die Messerklinge ... ein sitzender Vergleich! Köstlich.
Der ominöse Cafeabschließer und Autofahrer plötzlich in der Straßenbahn ... sehr kafkaesk! Subtil eingebaut... gefällt auch.
Dramaturgisch dürfte der Text für meinen Geschmack etwas gestraffter sein. Die Beschreibungen sind mE. oft überladen und warten mit überflüssigen Details auf, die aber trotzdem oberflächlich erklären und viel Tempo aus der Geschichte nehmen..
Jo... das war jetzt mal mein erster Eindruck von diesem Teil.
LG
Nörgelnifl
dein Duktus ist schon etwas gewöhnungsbedürftig. Ich fühle mich mindestens ein Jahrhundert zurückversetzt (da darf natürlich die alte Rechtschreibung auch nicht fehlen)... Teilweise ist der Ausdruck so anachronistisch verschroben, dass ich sogar Verständnisprobleme bekomme. ZB. hier:
denn ob er es auch erstmalig versuchen würde, ließen ihn doch seine vorgängigen Erfahrungen mit kurzen Geschichten, Aufsätzen, für die seine Lehrer stets lobende Worte gefunden hatten und hier und da einem Gedicht ihm das Gelingen sicher scheinen, sollte ihm sein Vorsatz nur erhalten bleiben.
denn ob?
oder...
Als er den Stift zur Hand nahm, faßte er, beschämt eingedenk seiner naiven Voreiligkeit beim Versuch eines ersten Satzes,
eingedenk?... so Sätze muss ich dreimal lesen... und das macht (mir) keinen Spaß.
Apropos "erster Satz" ... hast du eigentlich "deinen" ersten Satz auch mal genauer angesehen?
Es war an einem naßkalten Himmelgraunovembertag, als Karl bei einer ausgedehnten Wanderung durch die Berge auf einem Gipfel halt machte und, überwältigt von der Aussicht und aus Trotz gegen die unproduktive latente Depression der letzten Wochen, den Entschluß faßte, ein Buch zu schreiben.
Ganz offen gesagt bin ich kein Freund von Endlossatzbandwürmern. Einladend finde ich dieses Ungetüm nun wirklich nicht.
"unproduktive latente Depression "
Aha. Wie eine Depression unproduktiv sein kann, ist mir schleierhaft. (ich weiß was du meinst... aber)
Was bringt das Adjektiv "latent"?
Der erste Satz war immer der schwerste; alle weiteren konnten als Fortsetzung begriffen werden,
Ja, stimmt ! (auch in deinem Fall)
Der Text wirkt auf mich, als hättest du ein Kafka-Plagiat im Sinn gehabt...
Aber bei all dem Genifl muss ich doch zugeben, dass du dein Stilmittel sehr gut im Griff hast und ihm durchgängig treu bleibst. Diese Homogenität in dem doch unüblichen Sprachfeld finde ich schon sehr beeindruckend und transportiert einen gewissen rabulistischen Charme.
sich das alltägliche Besorgen in seine Arbeitsphasen schlich, dort wucherte und schließlich das ganze Vorhaben in Ablenkung auflöste, bis es sich schmollend ins Gewissen zurückzog, dort noch eine Weile als Vorwurf fortbestand und endlich schwieg
Mein absoluter Liebling im ganzen Text! genial ausgedrückt.
suchte er sich einen Tisch in der dem Inventarmafioso entgegengesetzten Ecke, schlug den Block auf, zog seinen Kugelschreiber, dessen Mine er wie eine Messerklinge herausschnappen ließ und begann, seine Gedanken zu ordnen.
die Messerklinge ... ein sitzender Vergleich! Köstlich.
begegnete ihm der Man schon in der Straßenbahn; er hatte kaum Platz genommen, als sich der in der Sitzgruppe hinter ihm mit dem Rücken zu ihm vorgebeugt Sitzende zurücklehnte und ihn, ohne den Kopf zu drehen, in vertrauter Weise ansprach.
Der ominöse Cafeabschließer und Autofahrer plötzlich in der Straßenbahn ... sehr kafkaesk! Subtil eingebaut... gefällt auch.
Dramaturgisch dürfte der Text für meinen Geschmack etwas gestraffter sein. Die Beschreibungen sind mE. oft überladen und warten mit überflüssigen Details auf, die aber trotzdem oberflächlich erklären und viel Tempo aus der Geschichte nehmen..
Jo... das war jetzt mal mein erster Eindruck von diesem Teil.
LG
Nörgelnifl
"Das bin ich. Ich bin Polygonum Polymorphum" (Wolfgang Oehme)
Hallo Nifl,
du schreibst an Merlin
dein Duktus ist schon etwas gewöhnungsbedürftig. Ich fühle mich mindestens ein Jahrhundert zurückversetzt (da darf natürlich die alte Rechtschreibung auch nicht fehlen)... Teilweise ist der Ausdruck so anachronistisch verschroben...
Und genau DAS gefällt mir, weil Merlin es, wie du ja auch weiter unten schreibst, es tatsächlich fertig bringt, diesen Stil durchzuhalten bis zum letzten Satz. Und das muss man erstmal können
Ich könnte es nicht *g*
Saludos
Gabriella
du schreibst an Merlin
dein Duktus ist schon etwas gewöhnungsbedürftig. Ich fühle mich mindestens ein Jahrhundert zurückversetzt (da darf natürlich die alte Rechtschreibung auch nicht fehlen)... Teilweise ist der Ausdruck so anachronistisch verschroben...
Und genau DAS gefällt mir, weil Merlin es, wie du ja auch weiter unten schreibst, es tatsächlich fertig bringt, diesen Stil durchzuhalten bis zum letzten Satz. Und das muss man erstmal können
.gif)
Saludos
Gabriella
Hallo Nifl,
danke für deinen Kommentar; wie du richtig erkannt hast, stand ich bei Verfassen des Textes stilistisch u.a. unter dem Eindruck von Kafka - ich hatte, wenn man so sagen kann, einen "Ohrwurm" von seiner Art, zu schreiben. Ein "Plagiat" kann ich in meinem Text trotzdem nicht sehen, weder inhaltlich noch stilistisch; die Bilder und Formulierungen sind meine Ideen, die Intention ist klar und eindeutig, die Botschaft kein Teil des mir bekannten Kafka.
Die langen Sätze und der Stil - nun, letztlich sind sie wohl Geschmackssache. Magic scheinen sie zu gefallen. Ich mag sie sehr (auch als Leser), und sie sind nun einmal das, was entsteht, wenn ich schreibe; außerdem hindern sie am zu raschen Überfliegen des Textes und zwingen dazu, dem Text seinen Sinn erst zu entreissen - was die Chance erhöhen mag, daß er nicht als abstruse Geschichte über sprechende Käuze und gesichtslose Anzugträger gelesen wird. Besonders abschreckende Exemplare habe ich z.T. auch bereits umgearbeitet; um diesen Stolperstein des Leseflusses ganz zu beseitigen, müsste man zwecks harmonischer Gestaltung wohl auch den Stil ändern, und das ginge mir doch zu weit - der Anachronismus schafft doch gerade die fremdartige Entrücktheit, in der der Text spielen soll. Den Anfangssatz werde ich noch einmal kritisch betrachten - mir gefiel er, weil er den Leser so unvermittelt in die Geschichte wirft und Karl, seine Stimmung und seinen Plan wie selbsverständlich alte Bekannte auftreten lässt.
Eine "Depression" im klinischen Sinn kann vermutlich weder unproduktiv noch latent sein - keine Ahnung -, aber in dem Sinn, in dem man den Begriff üblicherweise verwendet - als "anhaltende in sich gekehrte Verstimmung" - paßt doch beides; "latent" unterscheidet sie von Phasen echter Trauer, "unproduktiv" macht daraus eben diese fahle Mißgestimmtheit, allgemeine Überdrüssigkeit, die ich meine - im Gegensatz etwa zu längerem Liebeskummer, der mitunter zum erhöhten Ausstoß mittelmäßiger Lamoyanzlyrik anregt
.
Im Hinblick auf die langatmigen Beschreibungen werde ich mir das ganze noch einmal durchsehen; im Zweifelsfall haben sie aber ihren Sinn; jedenfalls bin ich mir nicht bewußt, an irgendeiner Stelle nicht symbolhaftes Lokalkolorit hinzugefügt zu haben. Hast du ein Beispiel für eine dieser Stellen?
Einstweilen sagt danke
Merlin
P.S.: Wird eigentlich klar, daß außer Karl, dem Kauz und dem Man kein anderer Charakter auftritt?
danke für deinen Kommentar; wie du richtig erkannt hast, stand ich bei Verfassen des Textes stilistisch u.a. unter dem Eindruck von Kafka - ich hatte, wenn man so sagen kann, einen "Ohrwurm" von seiner Art, zu schreiben. Ein "Plagiat" kann ich in meinem Text trotzdem nicht sehen, weder inhaltlich noch stilistisch; die Bilder und Formulierungen sind meine Ideen, die Intention ist klar und eindeutig, die Botschaft kein Teil des mir bekannten Kafka.
Die langen Sätze und der Stil - nun, letztlich sind sie wohl Geschmackssache. Magic scheinen sie zu gefallen. Ich mag sie sehr (auch als Leser), und sie sind nun einmal das, was entsteht, wenn ich schreibe; außerdem hindern sie am zu raschen Überfliegen des Textes und zwingen dazu, dem Text seinen Sinn erst zu entreissen - was die Chance erhöhen mag, daß er nicht als abstruse Geschichte über sprechende Käuze und gesichtslose Anzugträger gelesen wird. Besonders abschreckende Exemplare habe ich z.T. auch bereits umgearbeitet; um diesen Stolperstein des Leseflusses ganz zu beseitigen, müsste man zwecks harmonischer Gestaltung wohl auch den Stil ändern, und das ginge mir doch zu weit - der Anachronismus schafft doch gerade die fremdartige Entrücktheit, in der der Text spielen soll. Den Anfangssatz werde ich noch einmal kritisch betrachten - mir gefiel er, weil er den Leser so unvermittelt in die Geschichte wirft und Karl, seine Stimmung und seinen Plan wie selbsverständlich alte Bekannte auftreten lässt.
Eine "Depression" im klinischen Sinn kann vermutlich weder unproduktiv noch latent sein - keine Ahnung -, aber in dem Sinn, in dem man den Begriff üblicherweise verwendet - als "anhaltende in sich gekehrte Verstimmung" - paßt doch beides; "latent" unterscheidet sie von Phasen echter Trauer, "unproduktiv" macht daraus eben diese fahle Mißgestimmtheit, allgemeine Überdrüssigkeit, die ich meine - im Gegensatz etwa zu längerem Liebeskummer, der mitunter zum erhöhten Ausstoß mittelmäßiger Lamoyanzlyrik anregt

Im Hinblick auf die langatmigen Beschreibungen werde ich mir das ganze noch einmal durchsehen; im Zweifelsfall haben sie aber ihren Sinn; jedenfalls bin ich mir nicht bewußt, an irgendeiner Stelle nicht symbolhaftes Lokalkolorit hinzugefügt zu haben. Hast du ein Beispiel für eine dieser Stellen?
Einstweilen sagt danke
Merlin
P.S.: Wird eigentlich klar, daß außer Karl, dem Kauz und dem Man kein anderer Charakter auftritt?
Huhu Magic.
Ja, klar. Ich habe das ja auch anerkannt. Find ich auch toll. Wir müssten uns wohl auch ein paar alte Schwarten zu Gemüte führen, um diese Diktion selbst umsetzen zu können. Unmöglich ist das sicher nicht. Du beherrscht doch auch mehrere Sprachen, oder? Aber ad hoc geht das freilich nicht. Sei's drum... weil er das durchhält und ich das nicht kann, impliziert das ja nicht, dass mir das als Rezipient auch gefallen muss, oder? Und ich denke (für meine Texte gilt das jedenfalls) ist auch ein schnödes Feedback zum Lesespaß interessant für den Autor. Der Spaß (u.a.) entscheidet letztlich später über den Verkaufserfolg.
Hi M.
Nein, ein Plagiat ist das natürlich nicht!... aber die Nähe ist schon fast aufdringlich.
Ja klar. Die Ludwig Reiners Stilkunstbibel übersehe ich jetzt mal geflissentlich bei dieser Aussage. Natürlich auch eine Frage der Mode. Ich las vor ein paar Jahren den Roman, durch den Munch zum Bild "Der Schrei" inspiriert wurde, weil ich das Bild liebe. Ich sage dir "Adjektivketten" dass einem schlecht wird...
Kennst du "Mein Herz so weiß"? ... ich habe damals das Buch nach zwei Sätzen entnervt beiseite gelegt. Da hatte ich das Buch schon zur Hälfte gelesen! *gg ... und es ist ja bekanntlich auch sehr erfolgreich.
Nein, ich meine es absolut oberflächlich. Eine Maschine, oder ein Mensch kann produktiv sein, aber keine Depression. Sowas haut dir ein ordentlicher Lektor um die Ohren.
LG
Nifl, der gerade den zweiten Teil liest.
Und genau DAS gefällt mir, weil Merlin es, wie du ja auch weiter unten schreibst, es tatsächlich fertig bringt, diesen Stil durchzuhalten bis zum letzten Satz. Und das muss man erstmal können Ich könnte es nicht *g*
Ja, klar. Ich habe das ja auch anerkannt. Find ich auch toll. Wir müssten uns wohl auch ein paar alte Schwarten zu Gemüte führen, um diese Diktion selbst umsetzen zu können. Unmöglich ist das sicher nicht. Du beherrscht doch auch mehrere Sprachen, oder? Aber ad hoc geht das freilich nicht. Sei's drum... weil er das durchhält und ich das nicht kann, impliziert das ja nicht, dass mir das als Rezipient auch gefallen muss, oder? Und ich denke (für meine Texte gilt das jedenfalls) ist auch ein schnödes Feedback zum Lesespaß interessant für den Autor. Der Spaß (u.a.) entscheidet letztlich später über den Verkaufserfolg.
Hi M.
Ein "Plagiat" kann ich in meinem Text trotzdem nicht sehen,
Nein, ein Plagiat ist das natürlich nicht!... aber die Nähe ist schon fast aufdringlich.
Die langen Sätze und der Stil - nun, letztlich sind sie wohl Geschmackssache.
Ja klar. Die Ludwig Reiners Stilkunstbibel übersehe ich jetzt mal geflissentlich bei dieser Aussage. Natürlich auch eine Frage der Mode. Ich las vor ein paar Jahren den Roman, durch den Munch zum Bild "Der Schrei" inspiriert wurde, weil ich das Bild liebe. Ich sage dir "Adjektivketten" dass einem schlecht wird...
Kennst du "Mein Herz so weiß"? ... ich habe damals das Buch nach zwei Sätzen entnervt beiseite gelegt. Da hatte ich das Buch schon zur Hälfte gelesen! *gg ... und es ist ja bekanntlich auch sehr erfolgreich.
Eine "Depression" im klinischen Sinn kann vermutlich weder unproduktiv noch latent sein
Nein, ich meine es absolut oberflächlich. Eine Maschine, oder ein Mensch kann produktiv sein, aber keine Depression. Sowas haut dir ein ordentlicher Lektor um die Ohren.
LG
Nifl, der gerade den zweiten Teil liest.
"Das bin ich. Ich bin Polygonum Polymorphum" (Wolfgang Oehme)
Hallo Nifl,
"gegen die latente Depression der letzten Wochen, die ihn - sehr gegen seine Natur - hatte tatenlos werden lassen" - wäre das besser? Zieht natürlich den Satz nochmal in die Länge...
Grüsse
Merlin,
dessen Ohren gebührenden Abstand von Lektoren halten werden
"gegen die latente Depression der letzten Wochen, die ihn - sehr gegen seine Natur - hatte tatenlos werden lassen" - wäre das besser? Zieht natürlich den Satz nochmal in die Länge...
Grüsse
Merlin,
dessen Ohren gebührenden Abstand von Lektoren halten werden

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