[align=justify]Ob sich wohl jemand fragt, was mit mir los ist? Ich liege auf dem Bett. Es ist 12.30 am Mittag. Was ich mit dem Rest des Tages anfangen soll, weiß ich nicht. Ich habe kaum die Kraft, mir etwas zu Essen zu machen, geschweige denn vor die Tür zu gehen. Ob ich nicht arbeiten muss? Nein, ich muss nicht arbeiten. Ich schreibe Bewerbungen. Seit Monaten mache ich nichts anderes, als Bewerbungen zu schreiben. Ich formuliere sie sorgfältig, drucke meinen Lebenslauf aus und klebe das Photo hinein, auf dem ich einen Anzug und eine Krawatte trage. Ich unterschreibe das Anschreiben und den Lebenslauf und klemme beides zusammen mit meinem Schulzeugnis, meinem Sprachzeugnis, meinem Zeugnis über das Studienjahr im Ausland, meinen drei universitären Abschlusszeugnissen und meinen drei Praktikumszeugnissen in eine schwarze Klemmmappe, die ich dann verschicke. Meistens bewerbe ich mich auf Stellen, die öffentlich ausgeschrieben wurden. Ich schaue regelmäßig in verschiedenen Zeitungen nach Anzeigen, deren Inhalt ich mit einem geringen Aufwand an Kreativität auf mich beziehen kann. Ab und zu, wenn mich die Verzweifelung überkommt, schreibe ich auch mal eine sogenannte Initiativbewerbung. Auf diese Initiativbewerbungen bekomme ich niemals eine Antwort. Auch bei den anderen Bewerbungen warte ich oft vergebens auf eine Reaktion. Ich stelle mir vor, wie eine gelangweilte Sekretärin den Briefumschlag öffnet, einen Schluck aus ihrer Kaffeetasse nimmt und flüchtig das Anschreiben überfliegt, um dann mein Photo anzuschauen. Ich habe zunächst Photos in einem Automaten gemacht. Oft war der Automat kaputt und die Photos sind nichts geworden. Als ich einmal einigermaßen erträgliche Bilder gemacht hatte, scannte ich sie ein und drucke sie jetzt auf Photopapier regelmäßig aus. Warum ich keine ordentlichen Bewerbungsphotos mache? Ich bin schon in zwei Photoläden gegangen: in Hattingen und Bochum. Beide Male haben die freundlichen Photographinnen einfache Passphotos gemacht, die auch noch schlecht waren, dafür aber teurer als am Automaten. Wenn ich in einen Photoladen hineingehe und sage, dass ich gerne Bewerbungsphotos machen möchte, dann sind die Angestellten dort nicht gerade hilfreich. Es ist ihnen nicht daran gelegen, dass ich mich wohlfühle. Sie versuchen nicht, mich zum Lächeln zu bringen und sie bemühen sich auch nicht, einen Hintergrund zu finden, der zu meinem Anzug passt. Dementsprechend sehe ich auf den Bildern aus. Ich sehe aus wie ein junger Mann, der sich unwohl fühlt und möglichst schnell wegrennen möchte. Wenn also die gelangweilte Sekretärin auf mein Bild schaut und sieht, dass ich ein junger Mann bin, der nicht lächeln kann und am liebsten das Weite suchen möchte, dann sortiert sie meine Bewerbung aus. Vielleicht ärgern Sie sich darüber, dass ich davon ausgehe, es handle sich um eine Sekretärin, die aussortiert? Nun, ich habe mich selbst auf Sekretärsstellen beworben und wurde immer abgelehnt. Da ich drei ausgezeichnete Hochschulabschlüsse habe und mehrere Fremdsprachen spreche, glaube ich, dass ich aufgrund meines Geschlechts abgelehnt worden bin. Der Mensch, der einen Sekretär einstellen möchte, ist wahrscheinlich ein Mann, der an eine junge blonde Frau mit lackierten Fingernägeln denkt. Vielleicht denkt er auch an einen gestandenen Vorzimmerdrachen. Ich passe zumindest nicht in das Raster. Ich habe dummerweise ein Fach studiert, für das sich in erster Linie Frauen interessieren. Ich bin Literaturwissenschaftler. Jetzt ist es zumindest heraus und Sie müssen sich auch nicht mehr darüber wundern, warum ich ausschließlich Absagen bekomme. Niemand hat mich gezwungen Literaturwissenschaften zu studieren und ich bin daher selbst dafür verantwortlich, was aus mir wird. Natürlich habe ich auch versucht, Praktika zu machen, denn ich weiß ja, dass es nicht leicht ist, als Literaturwissenschaftler an Arbeit zu kommen. Bei meinen Praktika musste ich immer noch etwas zuzahlen. Als ich in Bielefeld ein Praktikum in einem Verlag machte, zahlte ich die Monatskarte für 400 Mark und saß einen Monat lang im Wohnzimmer des Verlegers, wo ich einige Typoskripte lektorierte. Am Ende schenkte er mir dafür ein Buch und eine CD. Einmal hat er mich auch auf ein Stück Stachelbeertorte eingeladen. Ich musste also unbedingt noch weitere Praktika sammeln und bewarb mich deshalb beim Verlag der Bochumer Universität, der von dem Sohn eines berühmten Literaturwissenschaftlers geleitet wurde und gerne Studenten der Geisteswissenschaften die Möglichkeit bot, drei Monate unbezahlt Berufserfahrungen zu sammeln. Ich gestehe, dass ich das Praktikum nach nur wenigen Tagen hinwarf, denn nicht nur, dass der Chef, der sehr ehrgeizig war, jeden Auftrag annehmen wollte, auch wenn es um den Verkauf von eurofähigen Telephonzellen ging, nein er wollte auch, dass man als Praktikant mit vollem Einsatz regelmäßig Überstunden ableistete. Hinzu kam, dass ich ihn in einem Gespräch mit seiner Freundin, die neben ihm die einzige Festangestellte des Verlags war, überhörte, wie er sagte, er hätte lieber weibliche Praktikantinnen, denn die wären fügsamer. Die Leitidee dieses Verlags war übrigens publishing on demand. Das hieß, dass nur so viele Bücher im Verlag gedruckt wurden, wie Bestellungen eingingen. Dumm war nur, dass es im Verlag nur zwei Computer gab, den Hauptcomputer und einen Laptop, der ständig abstürzte. Es gelang mir in den zwei Wochen nicht, auch nur eine Seite eines achthundert Seiten langen Heine-Buches zu korrigieren, denn ich saß an dem Laptop, der ständig seinen Geist aufgab, wobei interessanterweise die letzten Eingaben immer unrettbar verloren gingen. Einmal bat ich darum, doch den anderen Computer benutzen zu dürfen, aber der diente als Internetzugang, Schreibstelle für eine weitere Praktikantin und zugleich auch als Druckstation, die ebenfalls ständig abstürzte. Wir mussten nämlich gerade eine Dissertation im Fach Physik mit zahlreichen umfangreichen Graphiken abdrucken, was den Rechner heillos überforderte. Zudem rief ständig der arme Autor dieser Dissertation an, der verzweifelt auf die fertige Arbeit wartete, denn eigentlich war seine Deadline schon längst abgelaufen. Der Chef schlug sich derweil mit finanziellen Fragen herum. Er hatte sich entschlossen, die Steuerberaterin in Naturalien zu bezahlen und machte ihr daher einen ausgemusterten Computer mit Maus und Tastatur schmackhaft, den eigentlich ich gerne für mein Lektorat bekommen hätte. Gleichzeitig führte er heftige Gespräche mit einer Autoversicherung, denn er war im Winterurlaub mit dem nagelneuen Firmenwagen nach Rom gefahren und unterwegs auf spiegelglatter Fahrbahn verunglückt. Ihm war glücklicherweise nichts geschehen, aber der Wagen hatte einen Totalschaden. Um nicht auch noch wegen des überzogenen Kontos in die Bredouille zu geraten, schickte er eine Praktikantin zur Bank, um diese um eine Verlängerung der Kredite zu bitten. Er selbst wollte noch am selben Tag eine Stelle an einer Privatuniversität annehmen und zeigte mir, indem er sich von dem völlig überzogenen Konto sein Gehalt bezahlte, gleich noch, wie man Online-Überweisungen tätig. Ein anderes Praktikum habe ich in London gemacht, bei der berühmtesten Radiostation Großbritanniens. An dieses Praktikum bin ich überhaupt nur gekommen, weil ich in meinem Aufbaustudiengang in Berlin der Jahrgangsbeste war. Ich bekam sogar ein wenig Geld für den Flug nach London und ein kleines Stipendium von einer deutschen Institution, nur leider reichte das nicht einmal für die teuren Mieten in London. Die größte Radiostation in London konnte meine Busfahrkarte nicht bezahlen. Da der Bus oft im Stau stand, musste ich sowieso oft zu Fuß gehen. Die Engländer machten Witze über mich. Sie fragten, ob ich Schuldgefühle hätte, weil ich als „Kraut“ nach England ginge, um dort kostenlos zu arbeiten. Gelegentlich waren sie nett und nannten mich einen echten „Trooper“. Ich wollte ja ein gutes Zeugnis für mein Praktikum bekommen.
Ich habe noch andere Praktika gemacht, aber niemals etwas damit verdient. Anschließend durfte ich auch nicht als freier Mitarbeiter weiterarbeiten und habe auch keine guten Beziehungen zu meinen Arbeitskollegen aufgebaut. Ich versuche mir einzureden, dass das an den schlechten Arbeitsbedingungen im Medienbereich liegt. Es gab einfach kein Geld und ich konnte daher auch nicht eingestellt werden, aber ich weiß von Bekannten, dass es durchaus auch besser laufen kann. Die meisten Leute, die erfolgreich in einem Beruf durchgestartet sind, haben ihre erste Stelle über ihr erstes Praktikum oder über irgendwelche Beziehungen bekommen. Nur ich hatte solche Beziehungen nicht. Neulich habe ich einen Onkel, der bei einer großen Deutschen Radiostation arbeitet, gefragt, ob er nicht etwas für mich tun könnte, aber es war ihm peinlich. Alle seine Kollegen würden versuchen ihre Kindern, Neffen und Ehegatten im Sender unterzubringen, aber er sei immer gegen so eine Art von Nepotismus gewesen und daher könne er jetzt auch nichts für mich tun. Es sei schon schlimm genug, dass der Sohn des Chefs – mit demselben Namen – ebenfalls im Sender Karriere mache. Da könne er sich nicht für mich einsetzen. Das müsse ich verstehen. Heute habe ich keine Lust mehr, mich zu bewerben. Ich werde jetzt einen Kaffee kochen und dann ein paar Zigaretten rauchen.[/align]
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