Seitenblick, Dorf

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pjesma

Beitragvon pjesma » 25.08.2016, 19:03

Seitenblick, Dorf

Es ist eine Insel, natürlich ist es eine Insel. Auch wenn es nur ein Berg ist in der Waldlandschaft. Ein spärlich bewohnter Berg. In einem der letzten Sommer fand der Nachbar eine Muschel auf dem Hang, gleich neben unserem Acker. Mais, Weizen, Klee, Wald ... und dann, auf einmal: eine Millionen Jahre alte Muschel aus dem seit Ewigkeiten verschwundenen Pannonischen Meer.
Er schenkte sie mir, leise bedauernd, dass es keine römische Münze sei. Eine Goldmünze hätte er viel lieber gefunden … und behalten. In Maissaat verwandelt.
Die Muschel sieht genauso aus wie die gegenwärtigen Muscheln, nur etwas kalkbelegter und dicker.
Als ich wegging, blieb sie. Als ich zurückblickte, wartete sie. Und als ich mich dann endgültig verabschiedete, um für immer weg zu bleiben, nahm ich sie nach Norden in das Neuland mit. Seit Jahren liegt sie nun auf dem Computertisch, zwischen Schneekugel und Digitalkamera. Stumm ließ sie Hochzeiten, Geburten, Scheidungen und die Tode über sich verfliegen. Manchmal nehme ich sie in die Hand und drehe sie, ganz vorsichtig, damit sich die Erde nicht löst, die noch an ihr haftet. Der feste Staub, der in ihrem Ohr steckt, ist der einzige Grund und Boden, der mir übrig geblieben ist, der einzige, den ich je besitzen werde. Darüber schweigen wir uns ausführlich und ohne Schuldzuweisungen aus, die Muschel und ich, und dann lege ich sie wieder zurück auf ihren Platz und lebe.
Es ist meine Insel. Die einzige, die ich mir aufgehoben habe. Auch ohne Meer ist es eine Insel, obwohl ich kein Segel benötige, um diese Landschaft zu erreichen. Ich brauche nur die Augen zu schließen. In der Zeitrechnung einer Ursteinmuschel bin ich immer noch dort … und eben auch gleichzeitig hier. So nahe, nicht mal eine volle Sekunde des Lebens entfernt, bewege ich mich. Wenn ich den unsichtbaren Regler des Urzeitzählers gedanklich einklemme, wenn es mir gelegentlich gelingt … dann pendelt die Zeit nicht lange. Rasch stellt sich die Insel her und die Stille ein und die Vergangenheit bleibt, angehalten und ruhig über der Gegenwart hängend, solange ich es will.
 
Da  in dieser Überlappung  da möchte ich nicht gefunden werden.
1
Ich nähere mich dem Hof. Es dämmert schon und es nieselt.
Die nackten Zweige der Bäume ragen in den Himmel wie Hühnerbeine. Ein ganzes Regiment Hühnerbeine. Wald. Woanders hätte ich Angst. Hier habe ich keine Angst. Das wird einmal mein Hof sein.
Ich betrete den Hof durch keine Tür, es gibt hier keine Türen und keine Zäune. Der Hof ist bloß ein großes Stück Gegend auf dem Hang, in der riesigen restlichen, großteils waldbewachsenen Gegend. Ich springe über den Wassergraben, klettere mit dem Ranzen auf dem Rücken über das Steinmäuerchen, biege einmal um das Hauptgebäude und stehe bei der Hündin. Sie bellt nicht, sie hat mich schon längst gerochen, winselt jetzt vor Freude und windet sich mir um die Beine. Lange ist es her, dass ich hier war. Es ist Spätherbst, fast Winter. Adas Haare sind glatt und kalt, winterlich dick. Ihr Kopf befindet sich plötzlich in meiner Augenhöhe, ihr warmer Atem in meinem Gesicht, weil sie mich angesprungen und ihre Pfoten an meine Schulter gelegt hat. Wo ist die alte Frau?
In der Sommerküche brennt kein Licht.
Sie wird wohl im Stall sein, bei der Kuh. Es ist Melkzeit.
Ich löse Ada von der Kette, damit sie der alten Frau meldet: Ich bin wieder da! und sie verschwindet in der Dämmerung, in Richtung Stall.
Die Sommerküche ist verschlossen, und so steige ich über die Wurzeln des Walnussbaumes hoch, wie auf den Treppen nach oben zu dem Eingang im Nebenraum. Da befindet sich der große Lehmofen. Er wird schon ewig nicht zum Brotbacken benutzt. Eine alleine braucht wenig Brot. Ich taste im Dunklen. In dem Ofen, links hinten, da versteckt die alte Frau den Schlüssel für den Fall, dass ich komme, damit ich nicht in der Kälte oder Hitze, je nachdem, wann ich komme, stehen muss. Ich fühle kaltes Metall und den Stoffknoten in der Hand. Irgendwo im Raum höre ich ein Huhn im Halbschlaf leise protestieren. Ich bin eine Störung.
Dann schließe ich die Küche auf und trete über den Schwellenstein hinein auf den Lehmboden.
Noch bevor ich die Lampe angemacht habe, rieche ich die Küken. Wir haben also gerade Küken. Der Raum ist noch warm, das Feuer muss vor kurzem erloschen sein. Ich schalte die Lampe an und gehe zum Herd, setze mich auf den dreibeinigen Hocker, öffne die Türchen und rühre mit dem Eisen in der Glut. Meine Wangen sind heiß. Ich kreuze ein paar dünne, trockene Zweige aus der Herdlade in der Feuerstelle quer über die Glut und lege vorsichtig ein Papier in die luftige Mitte ... als zuerst das Papier und dann die Zweige Feuer fangen, lege ich noch einen dicken Holzklotz darauf, fächere immer leicht mit der Hand, damit die Flamme stärker wird. Diesmal gelingt es mir. Das Holz ist gut vorgewärmt und Glut war ja noch reichlich vorhanden. Viel schwieriger ist es frühmorgens, wenn der Metallherd noch kalt ist. Oder wenn der Wind falsch zieht.
Dann stehe ich von dem Dreibein auf, lege meinen Ranzen auf die Bank und gehe zu den Küken. Sie schlafen, hell und flauschig in einem Karton neben dem Ofen. Zugedeckt ist der Karton mit einem durchsichtigen Tuch und um einen Stock, der quer darüber liegt, schlängelt sich ein Elektrokabel mit einer Glühbirne am Ende im Hohlraum des Kartons. Die Birne leuchtet nicht, spendet keine Wärme, und so haben sich die Küken im Schlaf wie ein einziges, unglaublich gelbes Fellstück dicht aneinandergedrückt zu der ofennäheren Seite des Kartons. Ich stecke meine Hand in die Flauschinsel und die runden kleinen Köpfe tauchen aus der Masse hoch. Ich drehe die Birne auf und die Küken springen und piepsen aufgescheucht quer durch ihre Behausung, durch ihre Futternäpfe und Wasserschalen. Eines, besonders mutig, pickt an meinem Ring.
Ada ist an der Tür. Sie meldet mit ihrer kurzen Anwesenheit, dass sie mich angemeldet habe. Herein kommt sie nicht, im Haus hat ein Hund nichts zu suchen. Die alte Frau weiß jetzt, dass ich hier bin. Aber sie kommt erst später, wenn sie die Arbeit verrichtet hat.
Ich nehme den Deckel vom Topf, der am Rand der Herdplatte steht. Polenta hat sie gekocht.
Die alte Frau kann nicht gut kochen. Sie isst sich satt und selig wenn ich komme, weil ich gerne koche. Also öffne ich den Schrank, nehme ein paar Eier heraus, zerschlage sie am Tischrand und vermenge sie schon mal mit Mehl und Salz in einer Schüssel. Jetzt fehlt nur noch Milch.
Ich warte.
Ich sitze wieder auf dem Dreibein und schabe mit dem Schuhabsatz kleine Löcher in den Boden. Das macht dem Gesamtbild nichts aus, es ebnet sich später ganz leicht mit einem nassen Besen wieder ein.
Das Holz knistert im Ofen. Irgendwo im Wald bellen Hunde. Sonst ist nicht viel zu hören. Das leise Piepsen der Küken, ihr Trippeln im Kasten. Mein Atem.
Und das Geräusch, wie die Stadt ganz langsam aber sicher an mir brüchig wird, sich von mir löst, abfällt und in den Lehmboden versickert.
Ich warte. Ich bin ein verschobener Knochen, der wartet, von selbst in das Gelenk einzurasten und heil zu werden.
2.
 
Draußen rascheln die halbfeuchten Blätter unter den Schritten der alten Frau. Sie zieht beim Laufen ihre Füße nach. Ich höre ihre Schritte durch die geschlossene Tür und werfe einen Blick durch die Türscheibe hinaus. Ein kleiner Geist in Schwarz, kaum einen Meter fünfzig groß. Ein Kopftuch, fest unter dem Kinn geknotet, ein Faltenrock, der um die kurzen Beine glöckelt. Die Milchkanne in den Armen. Sie trägt sie wie einen heiligen Gral. Rechts neben ihr hüpft die Katze, bereit, auf die kleinste Bedrohung durch die Hündin mit Flucht zu reagieren. Der Milchduft ist dennoch unwiderstehlich für sie und ohnehin ist die Hündin gerade milde gestimmt durch ihre nachts gewonnene Kettenfreiheit. Ein kleines Warnfauchen von links, ein leiser nuschelnder Ausdruck des Missfallens von rechts durch die geschlossene Schnauze.
Die alte Frau stellt das Milchgefäß auf der hohen Steintreppe ab. Ich öffne die Türe und nehme es auf. Es hat Gewicht. Die Katze schlüpft in den Raum und schaut mich kurz miauend an, für mehr an Gruß ist der Hunger zu groß.
Auch die alte Frau grüßt nicht überschwänglich. Ich bin eben wieder da, wo ich auch hingehöre, was gibt’s denn da zu kommentieren und jubilieren ... Die Zeit dazwischen existiert nicht, sie wird am schnellsten mit Nichtbeachtung weggedacht. Das Leben der alten Frau lief zwischen unseren zwei Begegnungen wie üblich ab, nach den unveränderten Regeln ihres Alltags, nur ich war abwesend in einem nichtvorhandenen, völlig fremden, ihr unvorstellbaren und nichtvorstellbargewollten Nichtgeschehen. Die alte Frau fragt nie nach meinem Stadtleben, sie erwähnt es nicht einmal. Sie fragt höchstens nach der Pünktlichkeit des Busses oder nach den Fahrtbedingungen. Ich bin eben wieder da, wie es auch sein soll. Auch der Mond ist manchmal nicht zu sehen, obwohl er die ganze Zeit da ist. Man fragt ihn nicht, was er getrieben hat, während er unsichtbar war, wozu auch.
Ich habe noch nicht aufgegeben, sie zur Begrüßung küssen zu wollen. Das hat sie nun gar nicht gern, aber weil sie klein ist und übersichtlich, überliste ich sie jedesmal und drücke ihr einen Kuss auf die Wange, und meistens verschiebe ich dabei ihr Kopftuch. Und jedesmal wischt sie sich den Kuss von der Wange, als wäre er eine schlimme Krankheit, und schimpft über das verrutschte Tuch. Sie sei nicht hübsch genug, um geküsst werden zu müssen, sagt sie und tut so, als hätte ich sie zu stark am Hals umarmt, als hätte ich ihr Schmerzen bereitet … Und überhaupt: Wer braucht schon diese Sabbereien. Sie spricht spröde Worte, aber ihre Stimme zittert von zurückgehaltenem Gefühl. Sie freut sich so sehr, dass sie etwas Böses sagen muss, um die Freude zu übertünchen. Sie lässt sich also vorlaut über die störrische Kuh aus, die heute mal wieder mit dem Schwanz gewedelt hat wie eine Wahnsinnige und so etwas Stroh in die gemolkene Milch gekrümelt hat. Wir sieben die Milch durch das Sieb und danach noch einmal durch ein sauberes, dicht gewebtes Tuch. Ich habe die Töpfe vorbereitet. Einen großen, der zur Kühlung in das Wirtschaftshaus getragen und morgen früh dem Milchmann übergeben wird. Einen kleinen für uns, der sofort auf die Herdplatte kommt. Den Rest der Milch gießt sie in den Katzenteller. Sie will nicht, dass ich den heiligen Gral in das Wirtschaftsgebäude trage, ich bin zu jung und könnte unvorsichtig sein. Kurz danach höre ich sie fluchen und lache leise für mich, weil ich weiß, dass ihr die Milch beim Hinuntersteigen der hohen Steintreppe auf die Bluse geschwappt ist.
Dieses Schwappen. Dieses Nörgeln. Diese zitternde Stimme. Dieses Zartbittere.
Ich bin wieder da.
Ich achte auf die Milch auf dem Herd, die dick ist und wirklich nach Milch riecht und bald eine Schaumblase in die Höhe wirft. Das ist der Moment, in dem ich den Topf vom Feuer nehme, unmittelbar bevor die Milch daraus entweichen will. Später, wenn sie richtig erkaltet ist, werde ich mit zwei Fingern hineingreifen und die dicke Milchhaut in einem einzigen Fladen der Oberfläche entnehmen und den sahnigen Lappen im Mund versenken.
3.
 
Ich packe die Mitbringsel aus meinem Ranzen aus. Ein Päckchen Vegeta, ein Päckchen Bohnenkaffee, zwei Paar Strümpfe. Ein Stoff, aus dem ein neuer Rock genäht werden soll.
Dann setze ich Wasser auf der Herdplatte auf und schütte die Kaffeebohnen in das Oberteil der Messingmühle, sitze auf dem Dreibein neben dem Herd und mahle. Die Katze sitzt vor mir und leckt sich. Mir fällt auf, dass sie dicker geworden ist. Später, wenn sie sich an meinen Aufenthalt gewöhnt hat  die Katze ist übrigens die Einzige, die sich neu gewöhnen muss  werde ich sie mir genauer ansehen. Es kann nicht alles das Winterfell sein, sie scheint trächtig zu sein. Die Bohnen rattern und knickern und knirschen in der Mühle und das Messing wird langsam richtig warm in meiner Hand.
Die alte Frau inspiziert die Geschenke. Die Strümpfe sind tiefdunkelblau. Das Dunkelblau ist kein Schwarz, also rümpft sie die Nase, aber pragmatisch, wie sie ist, beschließt sie letztendlich, sie für tauglich zu erklären. Unter einem anderen Paar alter schwarzer Strümpfe werden sie schon wärmen in den Wintermonaten. Ganz anders der Stoff. Den streichelt sie ehrfürchtig mit ihren knorrigen rheumaverformten Fingern. Die alte Frau hat eine Schwäche für schöne Stoffe, dauernd lässt sie sich welche aufschwatzen von den reisenden Händlern. Die Stoffe sind hier, auf diesem von der Welt abgeschnittenen Fleck, nicht „einfach so" zu besorgen, sie sind etwas Kostbares, worauf man warten muss und es dann, sofort und ohne viel nachzudenken, schnappen. Mit dem vorliegenden Stoff scheine ich ihren Geschmack getroffen zu haben. Er ist schwarz, fällt schön, und die matte Oberfläche ist leicht marmoriert mit glänzenden schwarzen Kringeln. Sie wird ihn der Nachbarin bringen, damit sie ihr einen Rock daraus schneidert, einen Rock, der wie alle ihre Röcke aussehen wird: unten Saum, oben Gummi, dazwischen Falten. Und dann wird sie ihn im Schrank im Wirtschaftsgebäude einschließen, zusammen mit den Mottenkugeln und mit allen anderen nie getragenen Röcken, und weiterhin die stallkompatiblen Lumpen tragen.
Der Duft des frisch gemahlenen Kaffees erfüllt den Raum. Die Katze niest. Ich brühe den Mocca auf und gieße ihn in kleine Tassen. Die mit der roten Blume für die alte Frau, die mit der blauen Blume für mich. Sie sitzt, zum ersten Mal vielleicht heute, und nippt. Zuckert nach.
Klar hat sie heute schon gegessen. Sie hat ja gekocht. Polenta. Hat aber nichts gegen Palatschinken zum Abendessen. Das aber später, wenn die Milch nicht mehr so heiß ist, erst mal den Kaffee, in aller Ruhe. Die alte Frau isst immer im Stehen. Stehend erreicht sie den Tisch wie ich, wenn ich sitze. Ich hab mir das schlechte Gewissen abgewöhnt, wenn sie neben mir steht und isst. Es ist eben so.
"Weißt du, wer gestorben ist?", fragt sie, mit der linken Hand immer noch den neuen Rockstoff streichelnd.
4.
„Warte, du erzählst es mir gleich, ich geh mich erst umziehen", sage ich, und meine eigene Stimme fällt mir bunt auf. Ich könnte gleich über mich schmunzeln: Schon habe ich den ortsüblichen Akzent angenommen. Dörflich, melodisch ... wohltuend antiquiert.
Bevor ich die Milch in den Teig einrühre, die Pfanne suche, um mit der Palatschinkenzubereitung anzufangen, während sie mir die Neuigkeiten erzählt, muss ich die Reste meiner Stadthaut ablegen und eine hiesige, unzimperliche Hülle überziehen. Etwas, das nicht so schnell fleckig wird, bei dem es nichts ausmacht, wenn es das auch wird, egal. Mich äußerlich anpassen.
Im Wirtschaftsgebäude, in dem wir später schlafen werden, herrscht eisige Kälte. Auch im Sommer ist es hinter den dicken Wänden kühl. Vertraut kommen mir allerlei Gerüche entgegen: modriges Holz, Birnenschnaps, geräuchertes Fleisch. In Körben stapeln sich Zwiebelköpfe, Mohnkapseln und Knoblauch. Und die Walnüsse, überall, auf jeder freien Fläche, die Walnüsse. Schafgarbe und Kamille liegen getrocknet auf dem Tisch im mittleren Zimmer, auf einem Zeitungsblatt, genau so, wie ich sie im Sommer ausgebreitet hatte.
„Die Schafgarbe ...", sagte einmal im Sommer die alte Frau mit einer Blüte in der Hand, „siehst du diesen winzigen lilaschwarzen Punkt in der Mitte?" Ich sah ihn. „Die alten Leute sagten früher, dieser Punkt, der lilafarbene, ist die Gnade der Welt. Wenn dieser Punkt einmal verschwindet, wird auch die Gnade der Welt verschwinden ... die Welt wird untergehen." Der Punkt war angeblich viel größer und bedeckte fast zwei Drittel der Blüte, früher, als die alte Frau noch ein Kind war. Ich verwirrte sie jedenfalls nicht mit Genetik und Artenveränderungstheorien ... ich nahm den Weltuntergang schweigend hin.
Da, in meinem Zimmer, ist sie wohl selten gewesen seit dem Sommer. Die Reihe Quitten auf dem Kleiderschrankdach ist allerdings neu. Aber sonst … eine Staubschicht bedeckt den schräg an die Wand gelehnten Spiegel. Ich putze mir darin einen Kreis sauber, in Größe meines Gesichts, und schminke mich schnellstens ab ... ich friere.
Zum Anziehen habe ich nicht viel mitgenommen, warum sollte ich. In meinem Schrank hängen die Sachen meines Vaters, die ihres einzigen Bruders. Seltsam die Klamotten, die dem Gestorbenen noch jahrelang nachleben.
Ich schlüpfe in Vaters Hose hinein und knöpfe sie zu. Damals, als er starb, war sie mir zu groß, jetzt passt sie wie angegossen. Ein Karohemd. Das Hemd riecht abgestanden. Das macht mir nichts aus. Jetzt nur noch Vaters Gürtel um die Taille und die Füße in seine Gummistiefel.
Den Hut lasse ich diesmal auf der Ablage liegen, fürs Erste. Die alte Frau mag mich nicht mit dem Hut. "Blödsinn!" sagt sie dann immer. Und: "Schwachsinn!", und verzieht die Nase. Es gehört sich nicht für eine alte Frau, tiefdunkelblaue Strümpfe zu tragen, und ein Männerhut nicht für eine junge Frau.
Ich mag mich aber mit dem Hut. Mit dem Hut auf dem Kopf bin ich fertig. Mit dem Hut auf dem Kopf kann mir keiner was.
5.
 
Die alte Frau sitzt auf der Bank und wartet. In der Küche ist es heiß geworden, ihre Wangen glühen und das Kopftuch hat sie nach hinten geschoben. Es hängt jetzt wie ein umgedrehtes Räubertuch auf ihrem Rücken. Seit es mich gibt, kenne ich die alte Frau nur mit dem Kopftuch, selten bekam ich ihre Haare zu sehen: ein geflochtener Zopf, strammgezogen und gewickelt zum Dutt am Hinterkopf. Es ist seltsam rührend, ihren Hinterkopf nackt sehen zu dürfen, plötzlich ähnelt sie einer klugen alten Schildkröte, die unklugerweise ihren Panzer abgelegt hat. Verletzlich wirkt sie und mädchenhaft.
In Erwartung ihrer Rede mache ich mich an die Pfannkuchenvorbereitung. Ihre Rede könnte wie üblich ausfallen, so ungefähr erwarte ich es:
Du kennst A? Der verwandt ist mit B und nach C gezogen ist, D geheiratet und E, F und G gezeugt hat? F heiratete dann H, und ihre Kinder sind mit meinem Bruder, deinem Vater, zur Schule gegangen. Sie selbst, F, heiratete dann noch einmal, nachdem sie Witwe geworden war, den P aus R, den kennst du sicher? Hatte aber kein weiteres Kind mit ihm. Und dieser P, den sie heiratete, hatte einen Zwillingsbruder, S. Wie, du kennst F nicht, natürlich kennst du F, sie hat uns oft hier besucht, als du noch ein Kleinkind warst. Und der, dieser Zwillingsbruder, ist dann eines Morgens aufgestanden, hat Kaffee gekocht, sich zum Frühstück hingesetzt, gegessen, und ist am Tisch gestorben. 50 Jahre, nicht alt. Einfach so, gestorben. Stell‘s dir mal vor!
Aber es läuft diesmal nicht so. Ohne Umwege sagt die alte Frau direkt: Miro ist mit dem Traktor verunglückt. Ich setze mich hin, ich muss mich hinsetzen. Miro ist mein Jahrgang. Blutjung. Miro kenne ich aus erster Hand. Er ist ein Freund, ich kenne ihn von vielen Dorffeiern.
Er ist morgens früh losgefahren, am Haus seiner ehemaligen Freundin vorbei, von der alle wissen, dass er sie kompromittiert hat und sie nun nie mehr so gut heiraten kann, wie es ihrem Stand entspräche, woraufhin ihre Mutter Rache geschworen und den Fluch ausgesprochen hat, dass er schon sehen würde, was er davon hätte. Ein paar Kilometer weiter, höre ich, ist er dann auf der Fahrbahn in eine Matschspur geraten, von der Straße abgekommen, mit seinem Traktor eine Schlucht hinuntergestürzt und auf der Stelle umgekommen.
Ich bin sprachlos. Die alte Frau hat einen Körbchen voller Nüsse unter der Bank hervorgeholt, knackt die Walnüsse mit den Händen auf, indem sie eine Nuss gegen die andere drückt, bis eine nachgibt und bricht. Dann popelt sie den Kern mit einem kleinen Messer heraus und trägt ihn seitlich auf der Messerklinge zu ihrem Mund. Sie hat noch alle eigenen Zähne.
Sie bietet mir ein paar Kerne an, ohne Worte, mit einem Kopfwink, und, ohne Worte, mit einem Kopfwink, schlage ich das Angebot aus.
Man hat später, erzählt sie jetzt, vor dem Haus seiner ehemaliger Freundin, mitten auf der Straße, einen umgekehrt hingelegten Teller gefunden, den musste er überfahren, aus dem Dorf hinaus, auf seinem Weg, und jetzt glaubt das ganze Dorf, der Miro sei diesem Fluch der Mutter seiner ehemaligen Freundin erlegen.
„Was hat der Unfall mit dem Teller zu tun?", frage ich und die alte Frau verzieht das Gesicht: „Eben, genau meine Rede."
Sie sagt aber nicht: "Gar nichts".
Sie kaut und nach längerer Pause sagt sie dann: „Im Dorf heißt es, der Miro ist zu Bruch gegangen, genau wie dieser Teller. Im Dorf fragen sie sich, was der Teller dort, mitten auf einer Kreuzung, zu suchen hatte."
„Blödsinn!", sage ich.
„Schwachsinn, nicht wahr", sagt sie.
Und dann schweigen wir.
Aber bedrückt ist sie schon. Ich schaue sie genauer an, mit jedem Tag ist sie dem Tod näher. Ängstigt sie ihre Sterblichkeit? Fällt es ihr doch insgeheim leichter, an Tellervoodoo zu glauben als an die schlichte Sinnlosigkeit eines plötzlichen Ablebens?
Essen. Essen ist die beste Religion, denke ich.
„Womit willst du deine Palatschinken haben, mit Hagebutte oder mit Aprikosen?", frage ich und ihr Gesicht leuchtet plötzlich auf. „Ich hab etwas Quark zubereitet", sagt sie, „ich hole ihn."
6
 
Palatschinken fliegen durch die Luft. Hier brennt keiner an, sie gelingen alle, weil ich die Feuerstärke regulieren kann, indem ich die Pfanne auf die heißeste Stelle halte und auch dann nicht ganz von der warmen Unterlage nehme, wenn ich Schmalz nachfüge. Ich schiebe dabei die gusseiserne Pfanne nur ein bisschen mehr zur Seite. Ich mag diesen Ofen viel lieber als einen elektrischen Herd.
Der Teig ist mir geglückt, die Palatschinken sind dünn und durchsichtig, dennoch knusprig umrandet ... so wie sie sein sollen. Im Dorf würden sie dazu sagen, dass ich jetzt, da ich das so gut kann, heiraten darf.
So etwas Ähnliches würde die alte Frau unter keinen Umständen aussprechen. Wozu den Teufel beim Namen rufen? Ich soll nie heiraten, sondern für immer hier bleiben und den Hof übernehmen ... Glücklicherweise schlage ich mich nicht besonders darum, zu heiraten.
Eine solche Lebensart, die der verheirateten Menschen, ist der alten Frau fremd, sie ist eine Jungfer. Und zwar nicht nur sprichwörtlich, sie IST wirklich eine Jungfer ... Es ist ihr anzusehen an der besonders glatten Wangenhaut, man hört es ihr an, an der mädchenhaften Stimme ... Sie schimmert in ihrer ganzen Erscheinung wie die entmannten, im Altern aufgehaltenen Klostermönche.
Sich von einem Mann anfassen und anspannen zu lassen, die schreienden Blagen zu versorgen ... bei diesem Gedanken muss sie immer herzhaft auf den Boden spucken. Das sind die Themen, über welche sie sich unmissverständlich abschätzig äußert. Damit es auf mich abfärbt. Dann lieber den Acker und die Kuh. Die geben einem zumindest etwas zurück.
Sie ist nicht die Einzige dieser Art in der Familie. Ich bin ein unerwarteter Ausnahme-Nachkomme, der jüngste und der letzte, der den Familiennamen (noch) trägt. Nach mir erlischt der Name. Ein paar Häuser weiter, auf dem anderen Hof, leben noch 4 alte Leute mit demselben Namen, vier Geschwister, jedes mit eigener Besonderheit, dennoch mit der einen Gemeinsamkeit, nie geheiratet und nie die körperliche Liebe erfahren zu haben. Ana, die nach der Feldarbeit in der Handarbeit aufgeht und ihre Stickereien wie Reliquien in Zeitungspapier aufbewahrt; Jule, die Kirchenlieder auswendig rezitiert und mich durch die Georginen und das Basilikum in ihrem Garten führt, ein bisschen rührend, ein bisschen fanatisch gläubig ... sie erzählt mir gerne die richtigen Urgeschichten, die bis in das 18. Jahrhundert zurückreichen; einer der Brüder, der liest und säuft und säuft und liest, borgt mir regelmäßig seinen Lesestoff, er ist der Gesprächigste und in seinem Humor sogar ein bisschen gewagt und unerwartet deftig ... das haben wohl die Bücher angerichtet, er ist derjenige Quälgeist im Dorf, dessentwegen der Briefträger so weit und so schwer beladen und so fluchend in dieses Nirgendwo bestellte Bücherpakete und Zeitungsstapel in seiner Tasche schleppen muss; und dann ist da noch der zweite Bruder, der so schüchtern ist, dass mir sein Name nicht sofort einfällt; der, der seine Pferde mehr liebt, als er seine Geschwister liebt, verstohlen lächelt, wenn ich komme und mich auf den Treppenabsatz ihres Hauses setze, der immer hochrot wird, wenn ich ihn anspreche, rot, mit 80.
So sind wir.
Vielleicht bin ich auch so, das wird sich zeigen.
Jedenfalls ist die alte Frau so.
Ihren Körper kennen nur der Arzt ... und, auszugsweise, ich.
Manchmal, wenn sie sehr müde ist oder schwer erkältet, massiere ich ihren Rücken. Sie liegt bäuchlings auf dem Kanapee, mit ihren vielen nach oben geschobenen Hemden, entzwiebelt, dennoch vorsichtig  damit ihre Rückseite entblößt ist, aber die Vorderseite doch verborgen bleibt.
Ihr nackter Rücken verstört mich, überraschenderweise, nicht. Ich wundere mich jedes Mal, dass sie mir so viel Vertrauen entgegenbringt. Ihre Haut ist weiß und weich, ihr bloßer Rücken hat die Sonne das letzte Mal gespürt, als sie ein Kind war. Wenn sie sich kurz bewegt, erblicke ich die leichte Wölbung unter ihrer Achsel, wo die versteckte Brust anfängt, klein und fest. Wie die Brust einer Hündin. Die Brustwarze habe ich nie gesehen. Aus meiner Sicht hat sie vielleicht gar keine.
Mir ist in manchen Momenten klar, dass da jemand liegt, der sich von niemandem je berühren ließ. Jemand, der die Hingabe des Körperlichen nicht kennt. Ahnt sie diese Hingabe, während ich ihren Rücken knete? Ahnt sie, dass es mehr gibt als ein Glücksgefühl, entstanden durch die vollkommene Erschöpfung mit Schwerstarbeit? Eine andere Erschöpfung? Ich verbitte mir diese Gedanken, sie sind mir zu blasphemisch. Ich tue ihr Gutes. Ich knete sie wie ein Brot. Ein guter Teig, glatt und hell.
Jetzt reiche ich ihr den frischen Palatschinken direkt auf ihren Teller, sie soll nicht mit dem Essen auf mich warten. Frisch vom Feuer schmecken sie am besten, denn wenn sie gehortet und vom Stapel genommen werden, sind sie labbrig. Durchdampft von der eigenen Hitze.
Die alte Frau sitzt glücklich vor ihrem Teller.
Nein, sie steht davor, Gesichtsausdruck wie beim Gebet. Und jetzt fällt es mir ein: Zacharias heißt er, der zweite Bruder.
7.
Nach dem Essen liegt sie auf dem Kanapee und döst. Wir könnten auch gleich schlafen gehen, es steht nichts mehr an ... aber hier ist es warm, der Moment wird hinausgezögert, weil die Schlafräume im Hauptgebäude ungeheizt sind. Ich sitze auf dem Dreibein, den ich nahe zu dem Kükenkarton geschoben habe, schaue hinein, lasse meine Hand in das Kisteninnere baumeln und ärgere und beschmuse die Küken. Manche sind ganz wild nach meinem Ring, vermutlich sind das kleine Hähne. „Mutig mutig, Jungs", denke ich, „trotzdem werdet ihr als Erste das Zeitliche segnen." Als männliches Tier geboren zu werden, kann schon heißen, die Arschkarte zu haben. Wie die Zwillingskälber letztes Jahr. Mickey und Minny nannte ich sie, als ich ihre lockigen Stirnen streichelte und ihre weichen, pinselartigen Ohren ... Mickey nuckelte hungrig an meinem Finger, bemerkte den Irrtum nicht, und ich spürte seinen rippengemusterten Gaumen auf der Haut, den kitzeligen Sog, und als er dann merkte, dass mein Finger nichts hergab, schlug er mit der Stirn nach oben, immer nach oben, als wäre ich ein imaginäres, merkwürdig geratenes und zweibeiniges Euter, das angeregt werden sollte, Milch zu spenden. Später endete Mickey in der Tiefkühltruhe meiner Mutter, in Form von Schnitzeln, von denen ich demonstrativ kein Einziges gegessen habe. Minny liegt heute noch im Stall neben ihrer Mutterkuh, groß, rot, dick ... noch zu jugendlich, um Milch zu spenden, und heißt jetzt Erdbeere. Alle roten Kühe im Dorf heißen Erdbeere. Eine Erdbeertradition wohl.
Als ob sie meine Gedanken liest, spricht die alte Frau, dass wir jetzt schlachten könnten, wo ich endlich da bin. Es ist kalt genug, es wird wohl bald schneien. Richtiges November-Schlachtwetter. Die alte Frau kann den Schnee schon riechen ... und auch der Schornstein fängt an zu spinnen, wie immer vor dem Wetterwechsel.
Morgen wird sie ins Dorf gehen und die Männer ansprechen, zwei, drei werden genügen, das Schwein ist nicht so groß. Ich habe keinen Bezug zu Schweinen, mir graut es aber trotzdem. Dieses Geschrei. Und danach diese Arbeit. Und das Fett, das Blut. Der Gestank der Gedärme. Muss aber gemacht werden, ich sehe es ein: länger füttern lohnt sich nicht.
„Wen wirst du fragen?", will ich wissen, und merke, dass sie sich verspannt hat, ihre Antwort stockt. Nein, ihn wird sie nicht fragen, sicher nicht. Alle. Bloß ihn nicht.
„Was weiß ich", sagt sie, „den, der Schnaps mag."
„Nun ja", lache ich, „das sind so ziemlich alle."
Jetzt grinst auch sie, entspannter. „Den, der nicht zu viel Geld verlangt", sagt sie, und schielt zu mir. Werde ich mich verrennen und ihn vorschlagen? Hatte ich was mit ihm, habe ich tatsächlich etwas am Laufen mit ihm, hat der Dorfklatsch Recht?
Ich bin vorsichtig und schlage eine Reihe sehr alter Leute vor.
„Mal sehen", sagt sie, „morgen entscheide ich." Es hört sich aber an, als würde sie sagen: „Für wie blöd hältst du mich?"
Ich pfeife in den Kükenkasten. Die Küken neigen ihre Köpfe zur Seite und lauschen.
„Stell doch einen Topf mit Wasser auf den Herd, damit das Wasser heiß wird, bevor das Feuer ausgeht", sagt sie. „Es ist kalt in den Wirtschaftsräumen. Du brauchst eine Wärmflasche. Da, im Geschirrschrank, such mal, ich habe eine für dich gekauft, als ich letztens beim Arzt war."
Ich gehorche. Aber ich vermute, dass ich keine Wärmflasche brauche. Es hat sich schon herumgesprochen, dass ich da bin, meine Wärmgelegenheit steigt später, wenn alles schläft, durchs Fenster herein zu mir. Heute. Oder morgen. Hoffentlich erst morgen.
Frische Waldluft macht müde.
8.
 
Der Bauer, so nennt ihn die Mutter immer, der Bauer, der ist nicht deine Kragenweite, sagt sie dann und hat schon mal die prophylaktischen Magenschmerzen von dem Gedanken, von der Möglichkeit, dass ich mich an ihn binden könnte. Sie zählt mir Gegengründe auf: meine Ausbildung, meine coolen Freunde, Vorteile des Lebens in der Stadt, Gefahren vom Alkoholismus in kleinen, abgeschiedenen Sozialsystemen ... „Ich werde ihn schon nicht heiraten, Mutti", sage ich, „der ist mir nicht so wichtig, und es ist wieder mal typisch, dass du nicht mal versuchst, zu verstehen, dass ich gerne dort bin, unabhängig von ..." … „… deiner kleinen Dorfidylle …" fällt mir meine beste Freundin in den Rücken und muss augenblicklich einen Seitenhieb erdulden. Sie kann diese Geschichte auch nicht so richtig einordnen, eine „schöne Zeit" verbindet sie nicht mit einem Ort ohne fließendes Wasser, ohne Fernseher, ohne Ausgehmöglichkeiten und mit einem Burschen, den man nicht zu sich nach Hause einladen darf und schon gar nicht in die Disco mitnehmen oder der Clique vorzeigen darf. Ein Landei, ein Tölpel ... so stellt sie sich ihn vor ... und winkt ungläubig und kichernd mit dem Kopf ab, wenn ich behaupte, dass ich mir nicht so sicher wäre, welcher im unmittelbaren Vergleich, nebeneinander gestellt, mehr als Tölpel wirken würde: Der Bauer oder die Cityflachwichser, Möchtegernphilosophen und Hauruckästheten ... Sie versteht es nicht und ich kann es ihr nicht anschaulich machen, auf einen richtigen Erklärugsversuch lasse ich es nicht ankommen, es gäbe sicherlich Verletzte. Vielleicht wäre ich die Verletzte. Der Junge muss nicht wissen, wie ich lebe, wenn ich nicht da bin, und die Städter müssen nicht wissen, was ich an ihm finde. Ich trenne. Ich trenne die Meere … immer.
Auch die alte Frau kann ihn nicht ausstehen. Dafür ist sein Gruß an mich immer irgendwie zu sonderbar, sein Blick zu rätselhaft höflich. Sie hat ein Gefühl, aber keine Beweise, und auch ihr ist der Gedanke unvorstellbar, dass ich mich mit ihm eingelassen haben könnte ... „Er ist nicht deine Kragenweite, der Bursche", sagt sie, und dann spuckt sie herzlich angewidert auf den Lehmboden und zerteilt die Spucke mit dem Schuh, als wäre sie ein hässliches Insekt, das zu leben nicht verdient ... Es ist eine der seltenen Einstellungen, in denen sich die Mutti und die alte Frau einig sind: Ich soll mich von dem Jungen fern halten. Wüsste die alte Frau, dass er in den Nächten durchs Fenster zu mir ins Zimmer steigt, hätte sie mich schon längst enterbt. Ich dürfte dann den verkommenen Hof nicht mehr haben und betreten.
„Der ... Bursche!", sagt sie nur, wenn das Gespräch auf den Jungen kommt. Und zwischen „der" und „Bursche" steht immer diese ungeduldige Pause, in welche die unsäglichsten Beschimpfungen passen würden, wollte man sich dazu herablassen, sich mit ihrem Nichts zu beschäftigen. Und immer ist da ein zur Obacht mahnendes Ausrufezeichen im Raum, das nur mir gilt.
9.
„Der ... Bursche!" lässt mich Körper sein. Er bringt mir bei, ein Körper zu sein und auf meinen Körper zu hören, voll pochenden Blutes. Ich bin ein fleischiger, dennoch kein seelenloser Körper. Ich bin frei in ihm, er bedrängt meine Seele nicht. Es ist nicht nötig, alles gleich zu sehen und alles gleich zu verstehen, es ist nicht nötig, zu diskutieren und den Dingen auf den Grund zu gehen, dafür verstehen sich unsere komplizenhaften Leiber viel zu gut und geben sich gegenseitig ausreichend Ansporn. Wir haben keine Sekunde der gestohlenen Zeit zu verlieren in diesen ausgerissenen Nächten, und weil unser Spieltrieb gleich stark ist, führen wir uns an die Grenzen des Selbstseins und darüber hinaus. Wir lieben uns einfach so, wie die Liebe uns gewachsen ist, inspiriert und albern, so, wie wir wirklich sind, ohne Verstellen, ohne Eitelkeiten, ohne Scham und ohne Vorschriften.
Das Zimmer der alten Frau und mein Zimmer sind durch ein drittes Zimmer getrennt, und als wir uns nach langem  „dir wirds kalt  nein, es geht  nimmst du denn nicht die Warmflasche  nein, mir ist es warm genug, ich bin müde, und wenn ich schlafe, ist mir nicht mehr kalt  also ist dir doch kalt ..." eine gute Nacht wünschen, lausche ich ein bisschen ihren Bewegungen im Flur, und als ich sie endlich in ihrem Bett vermute, stehe ich aus meinem auf und schließe ganz leise die beiden Türen zwischen uns zu ... Uns trennen wenige Meter, dennoch ziemlich dicke Wände, und ich bin schon froh, dass ihr Gehörsinn nicht mehr der beste ist. Trotzdem werden wir später wispern müssen in meinem Zimmer, der Junge und ich, bevor wir uns sicher sein können, dass die alte Frau tief und fest schläft. Ich werde das Gekicher und die Lustschreie unterdrücken müssen, ihn ermahnen müssen, nicht zu laut zu brummen und seine Schuhe nicht so gegen den Kleiderschrank zu werfen.
Unter dem Bett liegen noch die Kerze und die Streichhölzer, so, wie ich sie im Sommer dagelassen habe. Daneben zwei Schrauben ... die nehme ich mit zittriger Hand  es ist doch ziemlich kalt, um barfuß dazustehen. Ich drehe sie in die versteckten Dübel über dem Fenster. Wir werden später eine dicke dichte Decke daranhängen, damit das Licht nicht auf die unbeleuchtete Dorfstraße fällt und uns verrät.
Dann liege ich im Bett und lausche. Ich höre Ada um das Fenster laufen, aber sie wird ihm nichts tun, dafür habe ich gesorgt. Ich hatte meine Finger mit seinen Fingern verflochten und ihr unter die Nase geschoben. Ich habe sie gezwungen, zu verstehen, dass sie mir wehtun müsste, würde sie auch nur daran denken, ihm wehzutun. Ich wiederholte das so viele Male, bis sie aufhörte zu knurren und der Junge sie streicheln durfte.
Ada ist nicht ohne. Drei Menschen hat sie schon gebissen. Selbst schuld, was wollten sie auch auf dem Hof nach Ausbruch der Dunkelheit, ohne lauten Ruf nach dem Hofherrn?
Ada ist mein Alibi, meine goldlockige Anstandsdame. Wenn von Anstand die Rede sein kann.
Wüsste die alte Frau, dass sie den Burschen ungestraft auf den Hof lässt, hätte sie sie in das entfernteste Dorf verkauft.
10.
Viermal klopft er ans Fenster mit der Nagelspitze. Das Klopfen kommt überraschender als im Sommer. Im Sommer hätte ich seine Schritte deutlicher gehört, die langen Gräser, die sich um seine Hose schlängeln, hätten geraschelt, danach wäre eine achtsame Stille eingetreten, ein Horchen, ob ich auch wirklich alleine wäre, bevor er leise an das Glas anklopfen würde.
Ich breite die Fensterflügel auf, „Guten Abend, Schöne", sagt er und erklettert ohne weitere Worte die Wand und ohne Worte lasse ich es zu. Dann sitzt er eine Weile auf der Innenseite der Fensterbank und wir küssen uns zum Wiedersehen bei offenem Fenster, schauen uns ein bisschen in die Augen mitten in der Dunkelheit, um festzustellen, ob zwischen uns noch alles beim Alten geblieben ist. Ja, es funkelt noch. Er hat helle, grüne Augen, und wenn er da so sitzt, ist er genau so groß wie ich, die ich vor ihm stehe. Meine Brüste liegen weich auf seiner Brust, seine Arme umschließen eng meine Taille, es passt keine Nadel zwischen uns, und als ich mich leicht von ihm weg nach hinten lehne, biegt er mit sanftem Druck meinen Oberkörper zu sich zurück und drückt, tief einatmend, an mir riechend, wie erleichtert, seinen Kopf in meinen Hals. Wir schweigen lange.
Wir sind wieder da.
Dann verabschiedet er mich zum Bett mit leichtem Stups, damit ich die Kerze anzünde und er die Decke über dem Fenster anbringen kann. Zuvor schaut er die Straße runter und hoch, ob „die Luft rein ist", ob jemand etwas von unseren Machenschaften mitbekommen hat, und schließt dann die Flügel leise und vorsichtig. Später, wenn wir uns verabschiedet haben, werde ich die Straße rauf und runter nach Menschen absuchen. Manchmal wenn wir, wider alle Vernunft, nebeneinander einschlafen, laufen da schon manche Bauern in der Morgenröte zum Bus, der sie zur Arbeit befördern soll, und dann muss der Junge wie ein Hase durch die Felder und über die Bäche springen, damit er nicht gefragt wird, woher er, in drei Gottes Namen, zu dieser Unzeit nach Hause läuft.
Unsere Körper sind nackt, glatt und trocken, erst mal, und schmiegen sich aneinander in der von mir vorgewärmten Daunenhöhle, meine Brust passt in seine Hand, sein Mund auf meinen Mund. Seine Zunge streunt über mich hin, ich drücke kleine Liebesbisse wahllos auf seinen Körper  und alles, alles ist ein Spiel, ein wunderbares Spiel. Alles ist plötzlich ein Spielzeug, wir uns gegenseitig, eine Gänsefeder, die plötzlich aus dem Kissen leicht heraussticht und weich und flauschig wird, wenn man sie aus dem Kissen herausziieht, um neue Landschaften zu erkunden, Wachströpfchen, die heiß auf die heiße Haut perlen und sich wie Schlangenschuppen von der jungen Haut schälen lassen, die Quitte vom Schrank geholt, sie kalt und samtig auf die Herzstelle gelegt ... „So kalt ist dein Herz", sagt er und „Jetzt nicht bewegen, wenn du dich jetzt bewegst, rollt die Quitte herunter und dann hast du verloren und musst dann …" Ich bewege mich nicht, sondern lache unbewegt, in mich hinein, in Wirbelstürme, bis wir erschöpft und glücklich übereinander und ineinander liegen bleiben, jeder in sich selbst und beim anderen angekommen, in dieser flackernden Zeitlosigkeit.
 
11.
Beim Aufwecken ist die alte Frau nicht zimperlich. Sie rüttelt kräftig an meiner Schulter und sagt: „Komm, das Wasser für den Kaffee kocht schon." Diesmal ist sie aber besonders aufgescheucht, und den Grund dafür liefert sie mir gleich: „Ich war schon mal im Dorf, hab die Männer zusammengerufen, in zwei Stunden kommen sie, das Schwein zu schlachten ... Steh auf, wir müssen noch vieles erledigen, bevor sie da sind!"
„Gib mir nur eine Minute!", ich strecke mich im Bett und sie schiebt mir mit dem Fuß die Hausschuhe ans Bett, bevor sie geht, damit ich nicht auf den kalten Boden treten muss. Die Spuren der Nacht sind verschwunden. „Aber schlaf nicht wieder ein!", sagt sie und geht zur Tür. „Nein, nein, bin gleich da!", sage ich. Mein Blick streift über die Quitte, ordentlich auf dem Schrank abgestellt, in die Apfelreihe und zwischen die Einmachgläser, und schon muss ich ganz liebesblöd grinsen und mich noch einmal wie eine satte Katze strecken. So kalt ist mein Herz. Dann merke ich an dem Dach des Nachbarhauses, es hat in den Morgenstunden geschneit. Erster Schnee. Ich packe meine Klamotten und beschließe, mich im beheizten Sommerhaus anzuziehen. Auf dem Weg dorthin rutscht mir der Schuh vom Fuß und ich trete mit dem nackten Fuß in den Schnee. Der Schnee ist weich wie Watte und der Hof leuchtet so stark in neuer Pracht, dass ich geblendet blinzeln muss.
In der Sommerküche dann das alte Spiel: Ich drehe mich unruhig um mich, die alte Frau gibt sich so, als verstehe sie nicht, was ich will. Ich schaue in den Topf mit heißem Wasser und frage schließlich, ob sie nicht noch etwas draußen zu erledigen habe. Sie rümpft die Nase und geht Holz holen. Die alte Frau versteht das Theater nicht. Wozu man sich so gründlich und überall waschen muss, und das täglich, wenn man gerade aus einem sauberen Bett kommt. Sie selbst wäscht ihr Gesicht und die Hände mit Kernseife, und abends noch die Füße. Ganzkörperbad gibt es nur samstags und vor dem Arztbesuch. Die Zähne werden mit Salz abgerubbelt und mit Wasser nachgespült.
„Ganzkörperbad ist zu viel gesagt ...", murmele ich für mich und fülle heißes Wasser in die Schüssel, klemme die Eingangstür der Sommerküche mit dem Besen ein, damit kein zufälliger Besucher kommt, während ich mich halbnackt über der Schüssel winde. Ada ist schon zu Hause und an der Kette. Sie würde zwar bellen, wenn jemand käme, aber trotzdem, wenigstens diesen Anschein von Privatsphäre brauche ich. Als ich angezogen bin und das Waschwasser in den Schnee hinaus gieße, ist das das Zeichen für die alte Frau, dass sie zurückkommen kann. Sie trabt vom Holzschuppen her, beladen mit Zunderholz.
Dann trinken wir Kaffee zusammen und frühstücken. Genau genommen frühstückt sie, dicke Scheiben Weißbrot mit Aprikosenmarmelade. Ich rauche und warte, dass bald ihr Standardgenörgel kommt, über meinen Opa, ihren Vater, der auch viel geraucht hat, noch als die Zigaretten in Kistchen von 200 Stück gepackt wurden, und wie er eines Tages wütend eines dieser Kistchen nahm und es auf den Hof vor die Hühner warf und schwor, nie mehr zu rauchen; und von der Oma, die die ganzen Zigaretten einsammelte und abtrocknete und es schadenfroh  bald wirst du ja danach betteln  besser wusste. Aber er bettelte nie wieder danach.
Diesmal kommt diese Geschichte aber nicht: Die alte Frau ist wirklich sehr aufgescheucht: Wir besprechen unsere nächsten Schritte.
Wasser wird vom Brunnen hergetragen und in Fässer gefüllt, zwanzig Eimer voll, mindestens. Ein Holztisch wird aus dem Schuppen auf den Hof ins Freie gestellt und gründlich abgerieben. Die Wurstmaschine wird abgekocht. Weitere 10 Eimer voll Wasser also. Holz wird gehackt und eine Feuerstelle im Hof gemacht, damit die schmutzigsten Arbeiten draußen stattfinden. Ich schlage ihr vor, dass wir uns aufteilen, und sie ist mit dem Vorschlag einverstanden, sie will sich ums Holz und ich mich ums Wasser kümmern. Keine der Aufgaben ist leichter oder schwerer, wichtiger oder unwichtiger. Alle müssen erledigt werden. Wenn ich mich mit dem Wasser beeile, kann ich ihr bei Holz und Feuer behilflich werden.
„Wer kommt?" frage ich.
„Mitja kommt."
„Gut", sage ich. Ich bin zufrieden, weil Mitja schnell und sauber arbeitet.
„Und wer noch?"
„Dusko hab ich auch bekommen. Er kommt ja jedes Jahr."
„Jaja, und immer muss man ihn danach raustragen und schieben ...", nörgele ich. Ich mag die Säufer nicht. Die alte Frau mag sie auch nicht, hat aber keine Wahl, sie ist auf die Hilfe auch von solchen Leuten angewiesen. „Erinnere mich, dass ich den guten Schnaps verstecke und wegsperre", sagt sie jetzt und ich nicke.
Die alte Frau bereitet sich vor, mit der Arbeit anzufangen, sie zieht ihre Schaffellweste und dicke Stiefel an. Gleich geht sie in den Holzschuppen. Ich knete mir vor dem Spiegel die Haare in ein Knäuel, und frage wie nebenbei:
„Und was, nur die zwei kommen?"
Sie steht schon an der Schwelle und spuckt in den Schnee.
„Auch der … der ... Bursche kommt."
„Och?", ich spiele Überraschung. „Wie kommt's?"
Sie druckst herum, verärgert, den Kompromiss eingegangen zu sein.
„Naja, als ich bei Dusko war, um ihn zu fragen, war der ... Bursche gerade zum Kaffee dort und ich dachte dann, na ja, schwach ist der nicht, arbeiten kann er, soll er mitkommen und helfen."
„Ach? Und er wollte es?", ich spiele weiter naiv, aber die alte Frau schaut mich nur kurz von der Seite an, was ich auch nur von der Seite wahrnehme, und geht wortlos hinaus.
So. Die Haare sind fertig. Und jetzt die Eimer nehmen und ab. Ich grinse. „Sachen gibt’s, die gibt’s gar nicht, nicht wahr?", sage ich zu der Katze.
Sie antwortet mit einem gleichgültigen Blick, und so verlasse ich das Sommerhaus, mit einem leeren Eimer in jeder Hand, und begebe mich in die Schneelandschaft.
 
12.
Ich bin am Wald, weit oben auf dem Berg, hoch über dem Hof, und drücke meine Ohren zu, bis die Männer das Schwein geschlachtet haben. Ich werde so lange nicht unten auf den Hof gehen, bis das Schwein tot und zweigeteilt mit dem Kopf nach unten auf dem Haken hängt und der Schnee unter dem Haken voller Blut ist ... Die alte Frau lässt mir meine Verweichlichung gerade so durchgehen, weil sie mich später als Köchin braucht, sie kann ja nicht kochen. Meine Aufgabe wäre es auch, die Gedärme zu waschen, aber das übernimmt sie für mich. Ich hatte gedroht, und ich hatte das ernst gemeint, dass ein Jahr, in welchem ich Gedärme waschen müsste, ein Jahr ohne Würste sein würde.
Nach elendig langer Zeit, als die Stille wiederhergestellt ist, laufe ich den Berg hinunter, zum Hof, durch Schnee. Am Hof ist alles schon in vollem Gange. Das Schwein ist schon zerteilt. Einer der Männer trennt das Fett von der Haut und wirft die weißen seifigen Fettstreifen in einen Topf auf dem Feuer, die alte Frau rührt es ununterbrochen mit einem großen Holzlöffel, ein bisschen Milch muss später dazu, damit das Schmalz reinweiß wird, fast bläulich. Die Hautlappen stapelt der Mann in einem anderen Topf hoch, nebst anderen Innereien ... es wird gekocht, zerkleinert, gewürzt und zu Blutwurst verarbeitet. Der Schnee ist um die Männerfüße und um die Füße der alten Frau geschmolzen und schmutzig von Blut und Matsch. Rauch steigt in den Himmel und mein Magen rebelliert ein bisschen, als der Junge mir in einer Schüssel die riesige Schweineleber reicht. „Hier, dein Tantchen meint, du wirst es richten ...", sagt er und schaut mich vertraut, zu vertraut an ... Er vergisst schon wieder, laut und deutlich zu fragen, wann ich überhaupt angereist sei, damit „das Tantchen" hören kann, wie überraschend es auf ihn wirkt, dass ich überhaupt da bin.
Dann darf ich mich zurückziehen in die Sommerküche, weit von der Schlachtstelle. Später, wenn ich die Leber gewaschen und zerteilt habe, in Milch gebadet, in Mehl gewälzt und auf Schmalz geröstet, schneide ich den Brotlaib in Scheiben. Ich reibe schließlich Knoblauch über die Leber, bestreue sie grob mit Salz und rufe den Jungen laut beim Namen. Er soll die Leber für die Männer abholen, ich könne den Herd gerade nicht verlassen. Schwankend steigt er in die Sommerküche. Zu wenig geschlafen, zu früh getrunken. Ada bellt ihn nicht an, sie wedelt mit dem Schwanz, ich frage mich, wann die alte Frau das merkwürdig finden wird.
„Heute Abend?", fragt er, bevor er geht.
„Ja, es gibt auch heute einen Abend ...", sage ich. „Aber nein."
„Doch."
„Nein."
„Warum?", fragt er.
Ich winke undefiniert und mit leicht angeekeltem Gesichtsausdruck in Richtung Schlachtstelle.
„Na und?", lacht er, schulterzuckend.
„Nix und…", sage ich, und bevor er hinausgeht, wirft er flüchtig einen prüfenden Blick in den Hof, dreht sich noch einmal zu mir um und stiehlt mir einen Kuss vom Mund.
Und dann ist er weg.
 
 
 
 
Zwischen Schneekugel und Digitalkamera, über die Urzeitmuschel in ihrem Bildschirm, hat sich die längst ausgewanderte Bauernbrut zusammengerottet, um nicht einsam zu sein in der geschäftigen Welt, so weit weg vom heimatlichen Inseldorf. Ich ignoriere sie. Ich brauche sie nicht. Wir sprechen nicht mal mehr dieselbe Sprache. Wir sprechen nicht über dieselbe Insel.
Sie haben sich den Namen MEINER Insel gegeben, die nicht die ihre sein kann, jauchzen Volkslieder, loben Gottesnamen und trauern guten alten Zeiten nach.
Sie fotografieren und digitalisieren. In der fernen Heimat sind die Zwetschgen reif, der Mais gelb und der Bursche ... leider verstorben. Behaupten sie.
Was eine Lüge ist.
Ich drehe die Muschel in der Hand. Die Erde ist warm und trocken. Es ist Spätsommer auf der Insel. Wir liegen auf dem Acker, neben dem Pflaumenhain, bäuchlings und still nebeneinander. Um uns zwitschern die Vögel. Der Junge knetet überreife Zwetschgen zwischen den Fingern, rotgelber Sirup läuft aus den Früchten. Er fängt ihn mit dem Zeigefinger auf, schreibt süße Worte auf meinen nackten Rücken und streicht mit der Zunge darüber. Und er hört damit nicht auf, nicht, so lange ich es will. Nie, vielleicht.

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 26.08.2016, 20:50

Eine lange Erzählung, eine Novelle fast.

Selten habe ich so Gutes gelesen. Ein kleines Meisterwerk.

pjesma

Beitragvon pjesma » 26.08.2016, 20:56

lob mich nicht kaputt, hat man schon ;-). mag diese geschichte dennoch...sind noch stimmungslichtegedichte drinnen ;-), bloß muß der brot stimmen damit ich dazu komme...
danke

pjesma

Beitragvon pjesma » 26.08.2016, 21:01

(dank an eine nette lektorin hab ich nicht vergessen) <3

Nifl
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Beitragvon Nifl » 24.09.2016, 08:56

Oh, leider zu spät. Whow, muss Klimperer vollumfänglich zustimmen. Nur die Kombination Katze/Küken in einem Raum, das bekomme ich auch im dichtesten Idyllenschleier nicht in Frieden zuende vorgestellt.
"Das bin ich. Ich bin Polygonum Polymorphum" (Wolfgang Oehme)

Klara
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Beitragvon Klara » 30.09.2016, 18:28

Schöner Text!
Hab ihn mir ausgedruckt und im Zug gelesen. So wurde auch dessen Verspätung - schön :)

Würde auch gern so schreiben können.
Präzise, gelassen, selbst- und treffsicher, unprätentiös.
Das Warmkalte (oder ist es ein Kaltwarmes) streicht schmerzhaft gegen den Strich, durchzieht den ganzen Text mit diesem Nichtstreicheln, nichts zum Festhalten als dieses Festeste: greifbare Sinnlichkeit - man darf mit der Miterzählerin riechen, lauschen, schmecken, sich erregen lassen, nachspüren, trostwandeln, langsam werdend sein.

Bei der Gänsefeder fehlt, glaube ich, etwas vom Satz.

Und ich frage mich, ob der "Rahmen", die Muschel, das Zeitdenken nötig sind. Ob der Text nicht mit 1 beginnen und mit "und dann ist er weg" enden könnte.

Andererseits hab ich mich gleich in den ersten Satz verliebt, mit seiner scharf klingenden, radikalen Prosapoesie forderte er mich auf: "Lies! Und hör nicht auf! Tu dir das an! Gib dir das!"

Überhaupt stimmen hier "Form" und "Inhalt" - eine ohnehin mitunter idiotische Differenzierung, die in diesem Fall hilflos wirken würde - so gut zusammen, dass es wie ein Wunder ist. Da sucht eine nicht nach Worten, sondern schöpft mit schlafwandlerischer Sicherheit die richtigen, da braucht es keine Tricks, da IST, im besten Sinne.

Danke.

klara


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