Rheinsberg 2016. Eine Regengeschichte [wieder da...]

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Klara
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Beitragvon Klara » 14.08.2016, 13:08

Rheinsberg 2016. Eine Regengeschichte

Hoffnung ist nicht die Überzeugung,
dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit,
dass etwas einen Sinn ergibt,
egal wie es ausgeht.
Vaclav Havel
(gefunden auf einer Parkbank ohne Nennung des Urhebers)


Seinen Anfang nimmt dieses Abenteuer nicht am Bahnhof und nicht in den Kurznachrichten, die sie einander, ergriffen vom eigenen Wagemut, senden. Der Beginn auch dieser Erzählung liegt im Herzklopfen des Kindes, das noch nicht geboren ist, in jener Sehnsucht, die wie Wölfchen und Claire mit sich noch anzufangen weiß.

Geschrieben wird die Geschichte jetzt, und zwar auf einer mechanischen Schreibmaschine mit dem Ziel, deutlich zu bleiben, Ordnung zu schaffen im Graubereich mechanisierter Erwartung. Das Schreibgerät hat nicht dieselbe Marke wie jenes des Meisters, das sie anderntags hinter Glas sehen werden. Es gehörte aber immerhin einem der Großväter und könnte denselben Jahrgang haben wie Tucholskys, und auch wenn das nicht stimmte, wäre es doch schön genug, um wahr zu sein, denn was wäre wahrer als Schönheit – und was sollte ein Aufschreiben Anderes bezwecken?

Schön ist so gut wie alles in Rheinsberg, auf eine ruhige Art, in der das Auge baden und die Seele sich wiegen kann, und am ersten ihrer anderthalb Tage ins Königlich-Brandenburgische ist auch bei ihnen fast alles schön: der Regen, die leise schnuppernde Nähe, ihr verschrobener Charme, seine Gutmütigkeit, sein unförmiges Begehren, ihre fremdelnde Hoffnung, sein argloser Duft.

Er – wir nennen ihn den Tiger – ist verheiratet und auf der Jagd nach frischen Gefühlen. Sie, eine Klara, ist geschieden und sehnt sich. Sie sind nicht füreinander geschaffen, aber er lauert und sie seufzt, und die Hoffnung flüstert – kurz: Er würde gern können, und sie würde gern wollen.
Bei der Führung durchs Schloss empfindet Klara seine Nähe als Freude und seine Freundlichkeit als wohltuend und sogar für einige flüchtige Minuten ein leises Verlangen, während sie Wandteppiche bestaunen oder die königlichen Familienbildnisse schauen, die großen traurigen Augen der weißgepuderten Luise… Doch Klara und der Tiger – zumindest in diesem Punkt folgen sie ihren Vorbildern – geben ein Paar, das keines ist noch wird.

Auf den Regen, immerhin, ist Verlass, denn mit dem Wetter nimmt diese Geschichte ihren tatsächlichen Anfang: Ausgerechnet am einzigen Tag, den sie miteinander haben, schüttet es. Ein anderer Termin ließ sich nicht pressen zwischen all ihre Verpflichtungen. Regen und Grau, denkt Klara, wie diese Bekanntschaft: unmöglich. Doch sie entkommen der Hauptstadt gen Nordosten, dem Wetter, wie der Tiger kommentiert, „ein Schnippchen schlagend“: Der Himmel wird blau.

Klara schnaubt. Handelsübliche Redewendungen verstören ihre Heiterkeit, die, so ahnt sie, an den Haaren herbeigezogen sein wird, denn aus ihren Käfigen kommen sie nicht. Sie strecken und dehnen sich einige Stunden lang, atmen, kommen einander in die Quere dabei, der Tiger und seine Möchtegernprinzessin, aber die Stäbe werden halten. Beharrlich, störrisch, auch ein bisschen tollpatschig fährt er sein Gleis auf der Suche nach der verlorenen Zeit einer fraglos potenten Jugend, wandelt mit durch die Laubengänge im Park, und sie lässt sich locken seiner Sehnsucht nach der Sehnsucht. Liest ihm aus Gedichten vor und wünschte, ihm wär‘ es so wichtig wie ihr. Jedoch: „La perfection n’est point sur terre“, Vollkommenheit gibt es hienieden nicht, so steht es auf der unvollkommenen Pyramide, dem Grabstein Heinrichs, jenes Prinzen von Preußen, der lebenslänglich der kleine Bruder im Schatten des Großen Friedrich und 50 Jahre auf Schloss Rheinsberg blieb, das er auf eine eigentümlich hochmütige Weise bescheiden gestaltete, mit Seide und Blattgold und Geist und Geschmack. Hier verfasste Heinrich auch seine Grabschrift – auf Französisch. Klara übersetzt stockend.

„Durch die Geburt in diesen Strudel eitlen Rauchs geworfen, den der Vulgäre Ruhm nennt und Größe, von dem jedoch der Weise weiß: Es ist nichts.“
„Findest du es nicht grotesk“, fragt sie fasziniert, „sich eine Grabpyramide bauen zu lassen und gleichzeitig von der Eitelkeit des Ruhmstrebens zu philosophieren?“ Der Tiger zeigt kein Interesse. Der Tiger denkt an Anderes.
Vielleicht, überlegt Klara, fürchtet er, etwas Dummes zu sagen? Wie dumm!
Er greift nach ihrer Hand. Sie lässt sie ihm nicht.
„Nimm den schwärzesten Schein und lies, was du wiedererkennst“, fordert sie.
„Tucholsky?“, gähnt der Tiger.
„Nee, Kolbe.“
„Kenn‘ ich nicht.“
„An einem dritten August ist er gestorben“, sagt Klara, „heute vor 214 Jahren.“
„Kolbe?“
„Nee, Heinrich. Und schau, wie er von einer Freiheit phantasiert, die schon auf dem Papier erstunken und erlogen war!“

Der Tiger putzt sich die Nase. Sie ist ihm zu viel, ehrlich gesagt. Er wünschte, sie würde statt dieses Grabes nun ihn anschauen, mit großen Augen seine große Lust begreifen. Sie soll ihn küssen, so süß, wie sie das einmal, aus Versehen vielleicht, getan hat. Stattdessen macht sie ihm Druck. Und dann die gedrängte Zeit, die jede Geste, jedes Erleben mit symbolischer Schwerkraft auflädt und zum Scheitern verurteilt – ach, er würde gern weitergehen.
„Stört es dich, wenn ich das abschreibe?“, fragt sie.
Der Tiger behauptet Nein.
Klara kritzelt.

Von der Parkbühne wehen die Klänge der Tosca herüber, ganz nah.
„Was für ein Glück!“, ruft Klara aus. Rasante Arien im Spätsonnenlicht. „So kraftvoll!“
Der Tiger wartet geduldig.
Klara würde gern mit ihm teilen, das große, große Glück der Welt, das sich in jedem Winkel offenbart.
„Dies alles umarmen können, nicht, weil es gut oder schön ist, sondern weil es da ist…“ Klara kann auswendig, was der andere Tiger schrieb, „weil sich die Wolkenbänke weiß und wattig lagern, weil wir leben. Mögen die in den Gräbern die Fäuste schütteln, mögen die Ungeborenen lächeln – wir sind! Alle sollen freudig sein! Kämpfen – aber mit Freuden! – Dreinhauen – aber mit Lachen! – Tanzt, tanzt!“
Der Tiger hat eine andere Konstitution, er ist ein stiller Jäger, der sich unerreichbare Ziele setzt und diese behutsam und stetig verfolgt. Klara ihrerseits würde so gern fassen, begreifen, in diesem Moment!, was da brodelt, an diesem Ort, im Früher und Morgen, in all dem, was sich gerade in Rheinsberg so wunderbar spüren ließe. Jetzt!

So reiben sie sich ein wenig an der Sehnsucht des andern, reiben eine kurze Hitze herbei, am späteren Abend im Hotel, in dem er das von ihr gewünschte Einzelzimmer bucht und ihr damit eine doppelte Erleichterung schenkt – der Tiger ist großzügig.

„Bei uns sind Behinderte willkommen“, erklärt die Empfangsdame. „Stört Sie das?“ Klara schüttelt verständnislos den Kopf.
Dann schwitzen sie auf heißem Holz und bringen Lust zur Sprache.
„Man könnte jetzt Sex haben“, schlägt Klara vor.
„Ich hab’s lieber im Bett“, gibt er zu.
„Och…“
In ihr brennt der Argwohn, dass er vergisst, wie er sich gegen die Zeit stemmt, ein alterndes Tier wie sie, das ein müdes Feuer anfacht, das dazu verdammt ist, sinnlos zu schwelen, ohne je gelöscht zu werden.
Er hat kein Recht, denkt Klara aufgebracht, von ihr Erfüllung zu erwarten! Wölfchens Claire existierte nur auf dem Papier, damit der Dichter seine Geschichte um sie herum drapieren kann wie Prinz Heinrich seine Teppiche an Wände!
„Ich bin nicht deine Leinwand!“

Der Tiger versteht nicht.
Sie kühlen sich ab. Sie werden verlegen. Sie legen die dicken weißen Hotelbademäntel um, tappen nassen Fußes durch die Gänge. Doch das geborgte Verlangen ist schon fort. Lässt sich nicht ins weiße Hotelbett transportieren, war nichts als Trug. Im Zimmer wartet nichts als Klaras alte Sperrigkeit, die sie bei sich führt wie der Tiger seinen Kuschelbären, der artig mit Hose und Schuhen und Hemd auf dem Bett liegt, Überbleibsel einer Kindheit, die er auf tröstlichere Weise aufträgt als sie die ihre.
„Dein Kopf will vielleicht, aber dein Körper weigert sich“, sagt Klara. Bei ihr ist es umgekehrt, und beides ist schmerzhaft schade.
Der Tiger streichelt schlaff dagegen an. Klara fühlt sich leer. Der Tiger versucht, einen Kuss zu ergattern.
„Ich bin zu müde“, sagt sie, „und du bist zu verheiratet.“
„Mir egal“, murmelt er. „Kommst du morgen früh?“
Klara denkt an Anderes.

Allein im schmalen Bett schlägt sie ihr Buch auf, froh, nichts tun zu müssen, das keinen Sinn ergibt. Freut sich auf den See in der Frühe. Schläft tief und gut. Am andern Morgen hat sie ein schlechtes Gewissen. Am andern Morgen ist der Himmel grau. Am andern Morgen begegnet ihr im Spiegel eine schöne Frau. Sie nimmt eine lange Runde im See, zu den bleihellen Wolken aufschauend, die sie nicht behelligen, sondern bergen.

Im Frühstücksraum schleicht sich der Tiger von hinten an, als gehörte er zu ihr. Klara zuckt zurück. Holt sich Joghurt und Ananas und Traube und Melone und Gurke und Cornflakes und Buttermilch. Er holt sich Brötchen und Käse und Honig und Butter und Orangensaft und Ei und macht ein trauriges Gesicht.
„Was ist?“, fragt Klara pflichtschuldig.
„Nichts!“ Der Tiger ist beleidigt.
Klara findet, dass er Recht hat: Zurückgewiesene Lust hat beleidigt zu sein. „Tut mir Leid.“
„Es ist / so viel unverbrauchte Zärtlichkeit in Hotelzimmern“, zitiert er.
„Ich muss allein sein, Mann!“, entgegnet sie unfreundlich, unlogisch, ungerecht.
Der Tiger schluckt.
„Gib mir eine Stunde. Wir treffen uns bei Tucholsky, ja?“

Doch die Stunde reicht nicht, und der Ärger kommt mit ins Museum, wächst ins Unermessliche, wird so groß, wie sie sich ihre Lust und seine Kraft gewünscht hätte. Klara kann nichts dafür.
Der Tiger kann auch nichts dafür, aber lässt sie auch nicht in Ruhe. krallt sich, klammert sich an diese Stunde, als wolle er sie auspressen, egal, wie sie schmeckt. Klara soll sich endlich, fordert sein Blick, an seinem dicken Fell vergreifen!
Doch sie sperrt sich. Sperrt ihn aus.

In der Bahn fließt der Regen von den Scheiben herab wie von einer Ölhaut. Klara sucht Zuflucht in Tucholskys Buchstaben, sehnt sich nach einem Wir.
Sie. Er. Wir. Und mit ihnen fährt diese dumme kluge Frage, die uns alle mit dem Dichter vereint: „Warum kommt nie ein Einsamer zu einer Einsamen?“
Aber es gibt Worte, die nie gesagt werden dürfen, sonst sterben sie, so steht es geschrieben.

Der Tiger wird ihr einen Brief schicken und erklären, dass seine Ehefrau seine „große Liebe“ bleibe, ergänzt um die Versicherung, dass er sie, Klara, weiterhin „schön“ und „spannend“ finde, „liebe Grüße“. Und Klara wird sich schöner finden ohne ihn und antworten mit einer Geschichte, die er nicht verstehen wird.
„Ich wünschte, ich könnte dich vermissen.“
Die Dankbarkeit. Die Klarheit. Und der Regen.
Hört tatsächlich wieder auf.

[mehrere redaktionelle Kleineingriffe mit großem Dank an Nifl]
Zuletzt geändert von Klara am 28.08.2016, 14:41, insgesamt 7-mal geändert.

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Beitragvon Nifl » 28.08.2016, 14:53

der Text, so sagte mir eine Autorin, vertrüge mehr davon...

Was? Ich mag das schon nicht bei Romanen, aber bei einem so kurzen Text ... Und was bringt das Gehüpfe dieser Autorin und dem Text? Denn es offenbart ja nichts, was man auch durch die Klaraperspektive sehen könnte. Zumal es ja nichtmal annähernd paritätisch ist, dann etwa könnte ich mich als Stilelement damit vielleicht anfreunden, als eine Art "Perspektivendialog".
"Das bin ich. Ich bin Polygonum Polymorphum" (Wolfgang Oehme)

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Beitragvon Pjotr » 28.08.2016, 15:00

Schwarz kann man durchaus ins schwärzeste steigern, doch.

Schwarz kann so vielerlei Nuancen haben wie Weiß. Unzählige.

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 28.08.2016, 15:59

Der "Tiger" kommt mir wie ein Phantom vor.

Ich sage es provokativ: Klara könnte genau so gut alleine sein, sich meinetwegen mit ihm im Geiste unterhalten, an ihn denken ...

Klara
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Beitragvon Klara » 29.08.2016, 12:59

Ich sage es provokativ: Klara könnte genau so gut alleine sein, sich meinetwegen mit ihm im Geiste unterhalten, an ihn denken ...

Das ist ja eine interessante Lesart - insbesondere mit den drei Punkten ... ;)

Was lässt dich an ein Phantom denken?

herzlich
klara

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 29.08.2016, 13:11

Ich weiß es nicht genau, Klara, es ist so ein Gefühl. Irgendwie gefällt mir dieser Mensch nicht, genau, das muss es sein, ich spüre Antipathie, er ist mir unsymphatisch, deswegen möchte ich ihn löschen.

Ich werde versuchen, den Text ohne ihn zu lesen, mal sehen.

A bientot

Carlos

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 30.08.2016, 19:02

"Sie soll ihn küssen, so süß, wie sie das einmal, aus Versehen, vielleicht, getan hat."

Das ist, vielleicht, was das Begehren des Tigers angezündet hat.

Klara
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Beitragvon Klara » 31.08.2016, 11:50

... mag sein, Klimperer. Vielleicht musste es aber gar nicht angezündet werden - sondern lauert, wie der Tiger, stets auf Gelegenheit, aufzuflackern - sei der Auslöser nun ein Kuss, ein Anblick, ein Traum ;)

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 01.09.2016, 15:32

Ich glaube, der Grund, warum ich den Tiger nicht mag, ist, dass er sich nicht für Lyrik und Geschichte interessiert.

Aber da bin ich ja auf dem Holzweg, wichtig ist, nicht die Handlung oder der Charakter sondern die Art und Weise in der die Geschichte geschrieben ist.

Du schreibst einfach schön und es ist mir ein Genuss, die Erzählung immer wieder zu lesen.


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